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E-Bike-Expedition Teil 4 Vietnam - Online Tagebuch 2016-2017

Tunnelratten

N 17°01’12.3’’ E 107°06’35.0’’
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    Datum:
    30.12.2016

    Tag: 549

    Land:
    Vietnam

    Provinz:
    Quảng Trị

    Ort:
    Vinh Moc

    Breitengrad N:
    17°01’12.3’’

    Längengrad E:
    107°06’35.0’’

    Tageskilometer:
    15 km

    Gesamtkilometer:
    21.338 km

    Durchschnitts Geschwindigkeit:
    24 km/h

    Bodenbeschaffenheit:
    Asphalt

    Maximale Höhe:
    30 m

    Gesamthöhenmeter:
    58.012 m

    Höhenmeter für den Tag:
    50 m

    Sonnenaufgang:
    06:19 Uhr

    Sonnenuntergang:
    17:27 Uhr

    Temperatur Tag max:
    17°C

    Platte Reifen gesamt:
    14

    Platte Vorderreifen:
    3

    Platte Hinterreifen:
    10

    Platte Anhängerreifen:
    1

(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)

LINK ZUR REISEROUTE

„Oh man, ich glaub’s nicht. Jetzt ist noch nicht mal meine Schulter ausgeheilt und im Moment ist auch noch mein Knie im Eimer“, jammere ich kurz nach dem Aufwachen. „Das wird schon wieder. Da bin ich mir ganz sicher“, beruhigt mich Tanja. „Wir haben einen echten Anfängerfehler gemacht. Wir hätten nach der langen Pause nicht gleich 140 Kilometer an einem Tag fahren dürfen. Nicht mal mit einem E-Bike. Das war einfach zuviel“, lamentiere ich weiter, weil ich weiß, dass man in den ersten Radtagen immer am besten dann aufhört wenn man sich noch fitt fühlt. Klar, der Körper ist keine Maschine und man sollte ihn sukzessive an die Belastungen gewöhnen. Hält man sich nicht an dieses unumschriebene Gesetz, kann es leicht geschehen sich ein Gelenkt oder einen Muskel zu überreizen oder zu entzünden. Die Folgen können übel sein. Schon so manch ein Langstreckenradfahrer musste wegen diesem Fehler seine Reise frühzeitig abbrechen, oder eine wochenlange Pause in Kauf nehmen, bis die Überreizung abgeklungen war.

„Ich gehe mal in den Keller und mache die Räder fertig“, sage ich, da wir uns heute das Tunnelsystem von Vinh Moc ansehen wollen. „Schaffst du es bis dorthin?“ „Bis in den Keller?“ „Nein, bis nach Vin Moc?“ „Das sind doch nur sieben Kilometer. Also wenn ich die nicht schaffe, kann ich mich gleich eingraben lassen“, antworte ich und humple los.

Im Keller angelangt ziehe ich die Plane von den Bikes und verstaue sie im Hundeanhänger. Dabei fällt mein Blick auf den Hinterreifen von Tanjas Rad. „Nicht wahr!“, entfährt es mir, den erneuten Plattfuss entdeckend. „Das ist ja zum Haare raufen“, fluche ich leise und beginne den Reifen auszubauen. Untersuche den Mantel noch mal nach Fremdkörpern bevor du ihn wieder auf die Felge aufziehst, fordert mich ein drängender Gedanke auf, obwohl ich mir den Reifen schon zweimal angesehen habe. Nicht zu fassen, tatsächlich entdecke ich jetzt einen Glassplitter, der sich tief in das Gewebe gearbeitet hat, und für den zweiten Platten innerhalb 14 Stunden verantwortlich ist. Mit der Zange ziehe ich den von außen kaum sichtbaren Mistkerl aus dem Profil heraus. Dann setze ich einen neuen Schlauch ein und pumpe den Reifen auf. Nach 200 Pumpstößen habe ich das Gefühl, als würde mein rechter Oberarm platzen, trotzdem baut sich im Reifen kein Druck auf. Ich nehme nun die andere Pumpe von meinem Rad, weil ich befürchte, dass Tanjas Luftpumpe eine Macke hat. Nach weiteren 50 Pumpstößen bin ich schlimm angeschwitzt. Verschnaufend halte ich kurz innen und vernehme ein leichtes Zischen. Ist der neue Schlauch auch platt? Genervt ziehe ich ihn wieder heraus und kann es nicht fassen, als ich das große Loch entdecke. Ist doch wie verhext. Da habe ich glatt einen ungeflickten alten Schlauch eingezogen. Diesmal nehme ich einen nagelneuen Schlauch und siehe da, der Reifen lässt sich aufpumpen.

Es ist 12:00 Uhr mittags, als ich wegen des gestrigen langen Tages müde, wegen dem stundenlangen Herumschruppen auf den Knien, den insgesamt 500 Pumpstößen und den völlig überflüssigen Knieschmerzen, zu Tanja ins Zimmer komme und ihr von meiner Flickodyssee berichte.

Um 13:00 Uhr sitzen wir bei starkem Regen auf den Bikes. Der Sturmwind, der ungebremst übers Chinesischen Meer bläst, lässt die Palmen biegen und treibt uns die Tränen in die Augen. Schon nach wenigen Kilometern wird mir klar, dass es besser gewesen wäre, meinem Körper völlige Ruhe zu gönnen. Zu dem Knieproblem flammt jetzt auch noch der Achillessehnenschmerz auf. Die starken Schmerzen zwingen mich zum Anhalten. „Ich glaube mir ist ein Steinchen in den Schuh gefallen der auf die Achillessehne drückt!“, rufe ich Tanja zu, die hinter mir zum Stehen kommt. „Und?“, fragt sie. „Im Schuh ist nichts aber die Sehne spielt nicht mehr mit“, antworte ich kleinlaut, hieve mich in den Sattel, um mich bis zum historischen Dorf Vinh Moc zu quälen.

Bei diesem Sauwetter sind wir nahezu die einzigen Besucher der Anlage. Bevor wir uns in die Tunnel aufmachen, sehen wir uns einen deprimierenden Dokumentationsfilm über die damalige Zeit des Vietnamkrieges in der entmilitarisierten Zone (EMZ) an. Die nach dem Genfer Indochina-Abkommen von 1954 zehn Kilometer breite Zone entlang des 17. Breitengrades, trennte Nord- und Südvietnam von einander und erstreckte sich von der laotischen Grenze bis zum Chinesischen Meer. Obwohl die EMZ ein Gebiet ist, in dem kein Militär stationiert oder bewegt werden durfte und das damit nur der zivilen Nutzung offenstand, war es in Wahrheit eines der am stärksten militarisierten Gebiete in ganz Vietnam. Um die Nachschublinien nach Südvietnam, die durch diesen Sektor führten zu unterbrechen, warf die U.S. Armee ca. sieben Tonnen Bomben und Luftminen pro Einwohner ab und verwüstete somit diesen Landstrich zur unbeschreiblichen Apokalypse. Trotz dem tödlichen Dauerbombenhagel wichen die Nordvietnamesen in dieser Region nicht zurück. Ganz im Gegenteil, nachdem die Bewohner des Dorfes Vinh Moc ihre Häuser verloren hatten, gruben sie sich mit einfachen Werkzeugen und bloßen Händen unter die Erde und errichteten zwischen den Jahren 1965 und 1966, trotz ständiger Bombardierung, innerhalb 13 Monaten, in drei Etagen, ein 2,8 km langes unterirdisches Dorf. Dabei bewegten sie 6.000 m3 Erde. Nach Überlieferung lebten dort unten 60 Familien. Mit Kindern also etwa 300 Menschen.

Nach all dem Leid, welches der Film in unser Gemüt einsickern hat lassen, ist uns zum weinen zumute. Der triste Nieselregen, die Nasskälte und meine Verletzung, lassen meiner Verfassung noch weiter in den Keller sinken. Durch eine enge Öffnung, in der roten Lehmerde, führen regennasse, rutschige Stufen in die Tiefe. Ein feuchtkalter Luftzug ist zu spüren als wir in das beklemmende Tunnelsystem hinabsteigen. „Wenigsten regnet es hier unten nicht mehr“, sage ich, mich links und rechts an den klammen Lehmwänden festhaltend. Gebückt erreichen wir in 12 Meter tiefe die erste Ebene des unterirdischen Ortes. In winzig kleinen Wohnnischen, (bis zu vier Meter tief, 80 cm hoch und knapp zwei Meter breit) die links und rechts vom Gang in den Kalkfelsen getrieben wurden, sehen wir lebensgroße Puppen, die vermitteln sollen wie die Mensche hier damals hausten.

Wir schreiten weiter nach unten. Ein paar Glühlampen, die es früher nicht gab, tauchen die Gänge in ein trauriges Licht. Zusätzlich helfen unsere Stirnlampen den Weg in die Tiefe besser auszuleuchten. Vorsichtig rutschen wir über die Stufen in die zweite Etage, die sich auf ca. 18 Meter befindet. Hier lagerte man Nahrung und Waffen für den Widerstand. Auch nutzten die Bewohner die gedrungenen Grotten, um sich für Aktionen gegen den Feind zu beraten. „Gehen sie bitte vor“, sagen zwei junge Männer aus Tschechien, die einzigen Besucher die wir bisher antreffen. Der Strahl meiner Stirnlampe fällt auf ein fahles Gesicht. „Geht es ihnen nicht gut?“, fragt Tanja. „Ich leide unter Klaustrophobie“, antwortet er mit unsicherer Stimme. Gefolgt von den beiden Männern, rutschen wir noch weiter nach unten. Wir schruppen um eine Biegung in einen Gang in dem die künstliche Beleuchtung ausgefallen ist. Die beiden Männer bleiben augenblicklich stehen, beraten sich und kehren um. Während des Krieges konnte keiner der Tunnelbewohner umkehren, selbst wenn sie unter Platzangst litten. Dabei ertrugen sie unter anderem auch Attacken von Giftschlangen, Ratten und anderen Ungeziefer, die sich die dunklen Gänge als Behausung ausgesucht hatten. Ebenso waren die enorme Hitze im Sommer und die dauerhafte Feuchtigkeit, während der Regenzeit, fortwährende Herausforderungen und belasteten die Gesundheit.

Links und rechts neben dem schmalen Weg fließt plötzlich klares Wasser. Es wird immer feuchter. Das Objektiv meiner Kamera beschlägt derart, dass ich vor jedem Klick erstmal die Optik mit einem Taschentuch reinigen muss. Ob diese Gänge bei starken Regen durch Hochwasser geflutet werden? geht es mir durch den Kopf und spüre wie meine Beklemmung wächst. Wenn dem so wäre hätten sie uns nie da runter gelassen, beruhigt mich ein weiterer Gedanke. Nur wenige Meter später wird das viele Wasser in einem tiefen Brunnen gefangen. „Das war ihre Trinkwasserversorgung“, sage ich auf das Hinweisschild zeigend, welches über dem Loch angebracht ist. Auf unserem weiteren Weg kommen wir an Küchenstellen, Lagerstätten, ja sogar Kranken- und Endbindungsstationen vorbei. Im Laufe von zwei Jahren erblickten hier 17 Babys die Düsternis der Dunkelwelt.

22 Meter unter der Erde erreichen wir die dritte und letzte Etage. Da amerikanische Bomben konzipiert wurden, um 10 Meter in die Erde einzudringen, war man hier relativ sicher. „Ich zweifle daran dass die Menschen hier bei einem Volltreffer wirklich geschützt waren“, flüstert Tanja. „Waren sie bestimmt nicht. Bei den Bombardierungen wurden einige Ausgänge solcher Tunnel verschüttet. Die Menschen, die es nicht rechtzeitig in den letzten Stock geschafft haben, sind am lebendigen Leib begraben worden, oder weiter unten einfach erstickt, weil keine Luft mehr ins System rein kam“, antworte ich. „Aber das Tunnelsystem besaß doch mehrere Zugänge?“ „Stimmt. Soweit ich weiß haben die Erbauer von Vinh Moc aus den Fehlern anderer Tunnelsystem gelernt und insgesamt 13 versteckte Eingänge gegraben. Wäre einer der Tunnel von einer Bombe getroffen worden, hätten die Menschen dieser Anlage über einen anderen Ausgang fliehen können. Zumindest wäre man hier nicht erstickt weil es ein gutes Belüftungssystem gab.“ „Im Film haben sie doch auch davon gesprochen, dass alle Bewohner von Vinh Moc überlebten“, meint Tanja durch tiefe Pfützen tapsend. „Ja, sie waren sehr vorsichtig und haben für Monate ihr Höhlensystem nicht verlassen.“ „Puhhh, wenn man sich vorstellt wir dürften hier für Monate nicht raus. Unfassbar“, antworte sie sich schüttelnd.

Ein Lichtschimmer schillert in die Dunkelheit. Neugierig und bedacht, nicht auszurutschen, laufen wir ihm entgegen und erreichen einen der versteckten Ausgänge am Strand. Das Chinesische Meer tost, wirft seine Brandung auf den gelben Sand und schleudert uns die salzige Gischt ins Gesicht. Wir atmen tief durch, sind trotz des Dauerregens froh die bedrückenden Gänge hinter uns gelassen zu haben und laufen am schmalen Küstenweg entlang, der damals von Kriegsschiffen der siebten Flotte mit 175-Millimeter-Langrohrgeschütze unter massiven Beschuss stand.

Da ist ein weiterer Eingang“, sage ich auf ein schwarzes Loch deutend, dass sich hinter triefend nassen Bambus versteckt. Obwohl wir keine große Lust verspüren erneut durch das dunkle Tunnelsystem zu stolpern, gehen wir wieder rein. „Wenn wir schon mal da sind sollten wir uns alles ansehen“, meine ich. Unweit hinter dem Erdloch sitzt eine bewaffnete vietnamesische Wachpostenpuppe. „Die sollte eine Tunnelratte abwehren.“ „Tunnelratten?“, fragt Tanja. „Ja, davon habe ich gestern gelesen. Das waren US-amerikanische, australische und neuseeländische Soldaten, die in das Tunnelsystem eindrangen, um den Vietcong zu bekämpfen.“ „Die mussten da runter um zu kämpfen?“ „Ja. Anfänglich wurde einfach einer aus der Truppe für den Einsatz befohlen. Der musste seine Ausrüstung komplett ablegen und drang nur mit einer Pistole und einer Handgranate bewaffnet in die Finsternis vor. Später bildeten sie Soldaten aus die auf Grund ihrer persönlichen Veranlagung dafür besser geeignet waren als andere. Die Amerikaner erkannten natürlich die enorme Gefahr die von dem riesigen Tunnelsystem ausging. Man spricht davon, dass ganze Landstriche untertunnelt waren und die unterirdischen Gänge eine Länge von über 200 Kilometer gehabt haben sollen. Der Vietcong hat dieses Gangsystem genutzt, um überraschende, schnell geführte guerilla Attacken gegen das U.S. Militär zu führen. Sogar die kurzfristige Besetzung der US-Botschaft in Saigon wurde durch die Tunnelanlagen möglich und gilt bei allen historischen Untersuchungen als der Wendepunkt des Krieges. Laut Aussage eines amerikanischen Kommandeurs war wegen der immensen Ausdehnung die Zerstörung des Tunnelsystems nicht möglich. Nicht mal durch die ständigen Luftangriffe der B-52-Bomber. Auch das Einleiten von Gas war erfolglos, da die Vietnamesen in ihre Tunnel Siphons einbauten. Letztendlich mussten die Amerikaner Soldaten da runter schicken, um eine Chance gegen den Vietcong zu erlangen.“ „Eine unglaubliche Geschichte“, antwortet Tanja mit ihrer Stirnlampe den tropfenden Gang ausleuchtend. Um nicht zu rutschen folge ich ihr vorsichtig. Das Gespräch über die sogenannten Tunnelratten hat mich aufgewühlt. Meine Gedanken überschlagen sich regelrecht. Krieg ist für beide Seiten ein Albtraum, geht es mir durch den Kopf und denke darüber nach dass die US-Infanterie anfangs nicht wusste woher der Vietcong so urplötzlich kam, aus dem Hinterhalt zuschlug und wie von Geisterhand im Nichts verschwand. Erst spätere Patrouillen fanden kleine, nahezu perfekt getarnte Löcher im Urwaldboden. Anfangs schickte man ganze Trupps dort runter, um den Vietcong zu bekämpfen. Oftmals erblickte keiner der jungen Soldaten jemals wieder das Tageslicht, weil die engen Tunneleingänge zum Beispiel mit Sprengfallen, Dornen und spitzen Pfählen gesichert waren. Manchmal wurde dem eindringenden Soldaten durch den Vietcong oder einer Fangschnur ein Speer zwischen die Augen gestoßen wenn er gerade im Begriff war sich in so ein Loch herabzulassen. Letzten Endes aber war der Einsatz der Tunnelratten ein trauriger Erfolg, weil er dem Vietcong die Sicherheit nahm sich in seinem Tunnelsystem verstecken zu können…

Wer mehr über unsere Abenteuer erfahren möchte, findet unsere Bücher unter diesem Link.

Die Live-Berichterstattung wird unterstützt durch die Firmen Gesat GmbH: www.gesat.com und roda computer GmbH http://roda-computer.com/ Das Sattelitentelefon Explorer 300 von Gesat und das rugged Notebook Pegasus RP9 von Roda sind die Stützsäulen der Übertragung. Pegasus RP9 von Roda sind die Stützsäulen der Übertragung.

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