‚Wuuuuchchch!‘, faucht es aus dem Nebel
N 38°16’36.5’’ E 109°43’11.3’’Datum:
10.11.2015
Tag: 135
Land:
China
Provinz:
Shaanxi
Ort:
Yulin
Breitengrad N:
38°16’36.5’’
Längengrad E:
109°43’11.3’’
Tageskilometer:
119 km
Gesamtkilometer:
10.676 km
Luftlinie:
92.94 km
Durchschnitts Geschwindigkeit:
23.8 km/h
Maximale Geschwindigkeit:
52.1 km
Fahrzeit:
4:58 Std.
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Maximale Höhe:
1.250 m
Gesamthöhenmeter:
8.261 m
Höhenmeter für den Tag:
730 m
Sonnenaufgang:
07:16 Uhr
Sonnenuntergang:
17:33 Uhr
Temperatur Tag max:
8 °C
Temperatur Tag min:
4 °C
Aufbruch:
Uhr 09:30 Uhr
Ankunftszeit:
Uhr 17:00 Uhr
Platte Reifen gesamt:
8
Platte Vorderreifen:
2
Platte Hinterreifen:
5
Platte Anhängerreifen:
1
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
Tuuuhhhhht! Tuuuhhhhht! Tuuuhhhhht!, brüllt es gedämpft aber gefährlich aus dem wabernden Nebel. Die Sicht hat sich schlagartig auf vielleicht 50 Meter reduziert. Uns in einer langsam dahinschwebenden dichten Wolke befindend, queren wir eine riesige Kreuzung, die die vom Highway kommenden Lastwägen auf die Bundesstraße leiten soll. „Ich kann nichts mehr sehen!“, rufe ich, das Gefühl nicht loswerdend in den Schlund eines Drachens zu rollen. Um uns herum dröhnen die Motoren. Um auf sich aufmerksam zu machen haben die Fahrer der stinkenden Blechmonster ausnahmslos die Warnblinkleuchten angestellt. Zusätzlich drücken sie in einem fort auf ihre ohrenzerreißend lauten Hupen. Wir hingegen besitzen nur unsere lächerlichen Fahrradglocken, auf die hier in China nicht mal Fußgänger unter ganz normalen Bedingungen reagieren. „Wir sollten unsere Warnleuchten anbringen!“, ruft Tanja. „Gute Idee!“, antworte ich mein Rad hinter der Kreuzung so weit rechts wie möglich stoppend. „Wuuuuchchch!“, faucht einer der 38-Tonner dicht an uns vorbei. Eigentlich ist es Wahnsinn bei solchen Wetterbedingungen mit dem Rad unterwegs zu sein. Aber wir besitzen keine andere Wahl, können nicht ausweichen. Wegen einer Begrenzungsmauer am rechten Fahrbahnrand ist es uns sogar unmöglich die E-Bikes einfach in die Pampa zu schieben, um dort ein oder zwei Stunden auf besseres Wetter zu warten. Nervös befestige ich die Warnleuchten an unseren Anhängern. Wuuuuchchch! Wuuuuchchch! Wuuuuchchch!, faucht es indes ohne Unterbrechung neben uns als würden sich die schwer beladenen Lastwägen im Starknebel vermehren. „Warum dauert das so lange?“, fragt Tanja konzentriert auf die graue Wand blickend, um die daraus auftauchenden Pkws und Lastwägen im Auge zu behalten. „Ich glaube es nicht. Ich bekomme sie nicht angeschaltet!“, fluche ich, anscheinend nicht in der Lage einen lächerlichen Ein-Ausschalter zu bedienen. Da wir unsere Lupinleuchten auf dieser Reise zum ersten Mal benötigen, gehe ich davon aus, dass sich die Batterien entleert haben. „Ein Versuch noch“, sage ich nicht aufgebend als sie plötzlich rot und grell zu blinken beginnen. „Man muss zweimal kurz hintereinander drauf drücken um sie zu aktivieren“, erkläre ich Tanja, die mich gerade fragen wollte warum die Leuchten auf einmal funktionieren. „Scheiß Technik“, fluche ich weiter. Mittlerweile braucht man schon eine Bedienungsanlage, um eine Fahrradrückleuchte, die verschiedene Funktionen bietet, einzuschalten. Natürlich trifft die Leuchte keine Schuld da ich ja vorher die Bedienungsanleitung hätte lesen können. Jedoch bietet jedes Gerätchen, und sei es noch so klein, umfangreiche Funktionsmöglichkeiten, an die ich mich in Summe unmöglich erinnern kann. Dabei denke ich an mein neues Smartphone, dessen Bedienungsmöglichkeiten äußerst umfangreich sind. Aber auch jede App hat teils detaillierte Funktionsvarianten. Zum Beispiel Whatsapp, die chinesische Variante WeChat, die kabellose Fernauslösung für unsere Fotoapparate aber auch die umfangreiche Bedienung unserer Foto- und Filmkameras und der Lenkerkamera GoPro, des Laptops und Tablets ist beachtlich. Nicht zu vergessen muss man sich ganz nebenbei mit der Software und den vielen Programmen auskennen, wie zum Beispiel dem Übersetzungsprogramm für die englischen Texte, dem Lightroom um unsere vielen Bilder bereits während der Reise zu archivieren und zu beschriften, dem Photoshop für Bildbearbeitung, Google Maps für die tägliche Reiseplanung, dem Einrichten eines VPN-Zugangs, um die in China gesperrten Googledienste überhaupt nutzen zu können. Dann kommt die Bedienung unserer Facebookseite dazu, das Befüllen von Instagramm, das umfangreiche Updaten der Website mit unseren Berichten, Fotos und Filmen. Selbst unsere Pufferbatterie bietet einige Varianten der Bedienungsmöglichkeiten und fordert technisches Verständnis. Zu erwähnen ist da auch der Bosch Bordcomputer, das GPS-System, die vielen Ladegeräte mit unterschiedlichen Netzteilen, selbst die Bedienungsanleitung unsere Suunto Uhren gleicht eher einem Buch als einer Anleitung. Alles muss man beherrschen. Und das ist nur ein Teil von den Geräten und Software die sich wie Mutanten unaufhörlich verändern. Manchmal denke ich sehnsüchtig an die Zeit vor über 30 Jahren zurück als ich begann mit einem kleinen Rucksack die Welt zu erkunden. Damals gab es nur wenig Technik, keine fehlerhafte Software und das Leben war entschieden freier als heute.
Während der weiteren Fahrt fühlen wir uns durch die Warnleuchte sicherer. Plötzlich schneidet mich ein teurer Audi. Ich kann gerade noch bremsen, um Schlimmeres zu verhindern. Als ich das Auto überhole sehe ich durch die getönten Scheiben eine elegant gekleidete junge Chinesin, die sich angeregt am Smartphone unterhält. Sie hat von dem Beinahunfall nicht das Geringste mitbekommen. Nur ein paar Kilometer weiter kracht es fast wieder. Ein schweres dreirädriges Lastenmotorrad räumt mich fast von der Straße als der Fahrer mich überholt, um dann kurz vor mir nach rechts abzubiegen. Wieder verhindere ich durch eine Vollbremsung die Karambolage. Ich brülle den Mann an. Am liebsten hätte ich ihn in einem Hechtsprung vom Sattel geholt. „Bleib gelassen Denis! Ansonsten verlierst du den Flow!“, warnt Tanja hinter mir die meinen Ärger spürt. „Ja, ja. Ich weiß“, antworte ich, denn mir ist bewusst, dass wir eine sehr gute Chance haben solch eine Radreise unverletzt zu überstehen, wenn wir uns in diesem Flow bewegen. Der Flow ist ein restloses Eins sein mit der augenblicklichen Situation. Ein Fließen ohne Ärger, ohne Angst, voll konzentriert aber nicht gestresst. Es ist der Moment in dem alle meine Sinne, alles was sich um mich herum befindet, abscannen. Als wäre mein Organismus ein Supercomputer, der losgelöst von Zeit und Raum unaufhörlich agiert ohne sich dabei im Geringsten anstrengen zu müssen. Obwohl der Flow etwas mit hoher Konzentration zu tun hat ist dieser Zustand mit einer Trance zu vergleichen, eine Trance bei vollem Bewusstsein. Es ist das Gefühl welches auch viele Extremkletterer und Extremsportler beschreiben. Ein Gefühl in dem ich glaube alles ohne jegliche Arroganz im Griff zu haben. Zweifelsohne können wir im Flowmodus viele vermeintliche Gefahren früh erkennen, umgehen oder sogar vermeiden. Sobald ich aber in meine Emotion und Aggression verfalle ist der Flow gebrochen und das Unglück hat die Chance sich zu manifestieren.
Die Sonne kommt langsam durch. Frisst sich ihren Weg zur Erdoberfläche frei. Die Sicht ist schlagartig gut bis sich wieder ein paar tief hängende Wolken vor dem heißen Stern schieben, wodurch die Nebelwände und Abgaswolken sofort wieder alle Farben, jegliche Sicht und Materie in sich einsaugen. Zwei Stunden lang wechselt sich das eigenartige Wetter zwischen Sicht und plötzlicher Trübheit. Immer wieder tauchen Kraftwerke neben oder vor uns auf die mit ihren hässlichen Rauchfahnen den Nebel zu füttern scheinen. Auch der Kohlestaub ist unverändert und hüllt das Land in sein graues Tuch. Ob das unserer Gesundheit schadet? Ob das unsere Lungen aushalten? An einem Ampelstopp kehrt eine Frau die Straße. Es gibt unendlich viele Frauen und Männer wie sie, die mit aus Zweigen zusammengebundenen Besen, unaufhörlich gegen die unsagbare Schmutzlawine ankehren, um sie dabei noch weiter aufzuwirbeln. Viele von ihnen stehen den ganzen Tag in einer wogenden, dichten Staubfahne. Viele von ihnen tragen keinen Mundschutz. Die Frau neben uns tut alles um unseren Ampelstopp zu erschweren. Hustend bitte ich um erbarmen. Die Straßenfegerin nimmt nicht mal Notiz von uns. Sie macht ihren Job, egal was um sie herum geschieht, egal ob ein armer Chinese ein simples Essen an seiner Fahrradgarküche zubereitet. Alles wird im aufgewirbelten Straßenstaub erstickt. Mir kommt es so vor als wäre jegliches Feingefühl im Schmutz verloren gegangen, im am Straßenrand schwimmenden Altöl untergegangen.
Der Verkehr, Staub und Dreck wird vor der Stadt Yulin unerträglich, steigert sich zum Alptraum, bis die zwölfspurige Straße sich immer mehr dem Zentrum nähert. In diesem Bereich benetzen Tanklastwägen die gesamte Hauptverkehrsstraße mit klarem Wasser, um dem Staub Herr zu werden. „Das glaube ich nicht!“, rufe ich entsetzt. Schon öfter wunderten wir uns warum viele Straßen in den Städten und Dörfern plötzlich nass waren, ohne dass es geregnet hatte. Hier werden wir Zeugen davon, dass die Stadtverwaltung den Asphalt bewässert. Welch eine unglaubliche Verschwendung wenn man bedenkt das Wasser in China bald mehr wert sein dürfte als Gold. Nicht zu glauben wenn man Bedenkt das Wasser unser Lebensmittel Nummer eins ist und es in China davon an allen Ecken und Enden mangelt.
Wir fahren an einem ausgetrockneten, breiten Flussbett vorbei. Nur ein erbärmliches Rinnsal wabert durch seine Mitte. Wasser wird in diesem Land allen Flüssen entzogen, um die Felder am Leben zu erhalten, es wird benötigt um knapp 1,4 Milliarden Menschen mit Trinkwasser zu versorgen, wobei ca. 300 Millionen Chinesen keinen Zugang zu sauberen Trinkwasser besitzen. Einen Großteil des Wassers fressen die Industrieanlagen weg. Das geht sogar soweit, dass der Heng He, der berühmte Gelbe Fluss, am Ende seiner mehreren tausend Kilometer langen Wanderung durch Tibet und China, für sechs Monate im Jahr trocken fällt. Das heißt, dass für sechs Monate kein einziger Tropfen mehr ins Meer mündet, weil der Mensch den viertgrößten Fluss der Erde mehr oder weniger ausgetrunken und verbraucht hat.
Im Flussbett sind unzählige Felder angelegt. Im Vorbeifahren können wir erkennen, dass einige Menschen trotz der späten Jahreszeit etwas Grünes ernten. Der Kloakegestank der uns von dort unten entgegenschlägt nimmt uns den Atem. Ich möchte gar nicht daran denken, dass der dort geerntete Salat, die Paprika, Tomaten und anderes Gemüse in den Restaurants und Geschäften der Stadt landen.
Obwohl wir teils unsere Unterkünfte via Internet vorher buchen, sind sie in den Städten nicht leicht zu finden. Das liegt daran, dass bei den angegebenen Googlekoordinaten die letzten zwei Zahlen fehlen. Diese Ungenauigkeit führt dazu, dass die jeweilige Bleibe bis zu 500 Meter vom angegebenen Punkt entfernt sein kann. Mittlerweile sendet uns Margaret immer ein Foto von unserem Übernachtungsplatz mit, welches wir dann den Menschen auf der Straße zeigen.
„Wir sind da!“, sage ich, nachdem wir auch heute den Koordinatenpunkt in Yulin erreicht haben. Von einem Hotel ist hier weit und breit nichts zu sehen. Tanja zückt ihr Smartphone und zeigt das Bild einigen Passanten. Sofort bildet sich die übliche Menschenansammlung um uns. Es wird diskutiert und beratschlagt. Manche schicken uns nach links, manche nach rechts. Einer der Männer gibt die Adresse in sein Smartphone ein, um die Location über ein chinesisches Kartenprogramm zu finden. Als er unser Guesthouse entdeckt hat schickt er uns in die Richtung aus der wir gerade gekommen sind. Ein anderer kommt auf die Idee die Telefonnummer anzurufen die Margaret mit gesandt hat. Bingo. Der hilfsbereite Mann hat den Besitzer erreicht. Der verspricht uns umgehend abzuholen. Schon zehn Minuten später folgen wir seinem Moped in die verwinkelten Gassen der Hutongs von Yulin. Diesmal hätten wir unseren Übernachtungsplatz aus eigener Kraft nie gefunden. Ehe wir uns versehen stehen wir im Innenhof einer Hutong. Der Mann sperrt eine Tür zu einem kleinen, übel riechenden, feuchtkaltem Raum auf. Hinter einem aus durchsichtigem, schmierigem Glas befindlichen Raumtrenner, gafft uns die Toilettenschüssel an. Durch das zugige Fenster fällt trübes Licht auf die zwei Betten die zum Glück frisch bezogen wurden. Mein Blick fällt auf den alten Teppichboden der mit unzähligen Brandlöchern übersät ist. Ob er die Ursache des kloakenartigen Gestanks ist? Oder ist etwas in der Klimaanlage gestorben? „Und da sollen wir bleiben?“, frage ich erschrocken. „Haben sie kein Zimmer im ersten Stock?“, möchte ich wissen. „Bu“, (Nein) ist die Antwort. Uns bleibt nichts anderes übrig als unsere gesamte Habe in die feuchte Schimmelburg zu schlichten. Weil wir dieses Gästehaus angaben, um uns die Anhängerdeichsel und Kupplungen schicken zu lassen, müssen wir auf jeden Fall so lange warten bis die wichtigen Ersatzteile angekommen sind. „Oh stinkt das hier“, beklage ich mich und schalte die Klimaanlage ein. Röchelnd beginnt sie ihren Dienst und bläst warme Luft in unsere Gruft. „Beklage dich nicht. Wir sind heile angekommen. Darauf kommt es an. Alles andere ist Nebensache. Sobald die Deichsel da ist machen wir uns weg von hier. Bis dahin halten wir das schon aus“, beruhigt meine zuversichtliche Tanja die Situation…
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