Neue Dimension der Neugierde – Im inneren der Felsenhöhlen – Schnaps gegen Foto
N 38°51’17.9’’ E 110°29’26.2’’Datum:
09.11.2015
Tag: 134
Land:
China
Provinz:
Shaanxi
Ort:
Shenmu
Breitengrad N:
38°51’17.9’’
Längengrad E:
110°29’26.2’’
Tageskilometer:
100 km
Gesamtkilometer:
10.557 km
Luftlinie:
54.66 km
Durchschnitts Geschwindigkeit:
22.5 km/h
Maximale Geschwindigkeit:
44.1 km
Fahrzeit:
4:26 Std.
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Maximale Höhe:
1.250 m
Gesamthöhenmeter:
7.531 m
Höhenmeter für den Tag:
670 m
Sonnenaufgang:
07:12 Uhr
Sonnenuntergang:
17:31 Uhr
Temperatur Tag max:
14 °C
Temperatur Tag min:
2 °C
Aufbruch:
Uhr 10:00 Uhr
Ankunftszeit:
Uhr 17:00 Uhr
Platte Reifen gesamt:
8
Platte Vorderreifen:
2
Platte Hinterreifen:
5
Platte Anhängerreifen:
1
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
Am ersten Abend in Baode hatten wir eines der vielen unscheinbaren, kleinen Straßenrestaurants aufgesucht, um unseren enormen Radlerhunger zu stillen. Schon beim Betreten, des wie immer nüchtern eingerichteten Raumes, stellten alle Gäste schlagartig das Essen ein und sahen uns an als wären wir Geister. Nun, das ist für uns nichts mehr Neues, aber trotzdem glaubten wir in dieser Stadt auf eine neue Dimension der Neugierde zu treffen. Bisher konnten wir mit dem plötzlichen Superstarlevel ganz gut umgehen, aber an dem Abend nach 135 Kilometer auf der von Schwerlastzügen befahrenen Höllenstraße, wollten wir nur in Ruhe zu Abendessen, um uns danach ins Bett fallen zu lassen. Das Getuschel an den Nachbartischen wurde immer lauter. Etwas verhalten schritt der Inhaber des Restaurants an unseren Tisch und zeigte uns in seinem Smartphone ein Foto auf dem uns zwei Radfahrer und ein weißer Hund ansahen. Diesmal waren wir es die vor Überraschung die Augen aufrissen. „Wie kommt denn unser Bild in seine Kamera?“, wunderte ich mich. „Ich hab´s“, sagte Tanja nach einer Weile. „Als wir in die Stadt hinein fuhren, hielten wir doch neben der Post um nach dem Weg zu fragen.“ „Ja und?“ „Dort wurden wir ständig fotografiert.“ „Ja und?“, fragte ich erneut, weil ich noch immer nicht verstand. „Na irgendjemand von den Chinesen dort muss mit unserem Gastgeber hier befreundet oder verwandt sein und hat ihm sofort die Bilder weitergeschickt.“ „Verblüffend“, antwortete ich.
Zuerst war es nur ein Gast der versucht hatte uns heimlich zu fotografieren. Um ihm einen Gefallen zu tun unterbrachen wir unsere Mahlzeit und ließen uns Arm in Arm mit ihm ablichten. Dann wollten seine Freunde ein ähnliches Bild, dann der Nachbartisch, dann der Inhaber und am Ende alle Angestellten. An ein ruhiges, friedliches Abendessen war also nicht zu denken. Als wir danach unser Hotel erreichten, wiederholte sich die Fotosession mit einem Teil des Personals. Die Rezeptzionistin, jede Küchenangestellte, der Wachmann und Putzfrauen, alle wollten zumindest ein Bild besitzen auf dem sie mit Ausländern festgehalten waren.
Weil das Wetter der darauffolgenden drei Tage miserabel war entschieden wir uns dafür es auszusitzen. Wir verbrachten die meiste Zeit in unserem Zimmer. Im Schutz unserer vier Wände nahmen wir ungestört unser Mittag- und Abendessen ein, welches Tanja für uns in einem der vielen Supermärkte besorgte.
Heute, am vierten Tag in der Stadt Baode, hat der unangenehme Dauerregen aufgehört. Spontan entscheiden wir uns für die Weiterfahrt. Für eine kurze Zeit radeln wir am berühmten gelben Fluss, dem Huang He, vorbei. Gerne würde ich vom zweitlängsten Fluss Chinas und dem viertlängsten einzelnen Fluss der Erde, ein paar Bilder schießen, jedoch nimmt uns dichter Nebel jegliche Sicht. „Hätte zu gerne gesehen ob er wirklich gelb ist“, sage ich zu Tanja als wir auf einer Brücke stehen und in die trübe Nebelsuppe unter uns blicken. „Weißt du wie lang er ist?“, fragt Tanja. „Manche schreiben von 4845 Kilometern anderen Angaben zu Folge soll er sogar 5464 Kilometer lang sein.“ „Woher kommen die unterschiedlichen Aussagen?“ „Angeblich liegt es an den ungleichen Messverfahren“, antworte ich nachdenklich. „Was geht dir durch den Kopf?“, möchte Tanja wissen weil ich offensichtlich zeitvergessend auf den nur schemenhaft zu erkennenden Wasserlauf blicke. „Hm, habe gerade darüber nachgedacht welch ein Abenteuer es wäre diesen Strom von seiner Quelle in den ausgedehnten Weiten des Hochlandes von Tibet bis zu seiner Mündung im Golf von Bohai, einen Randbereich des Gelben Meeres, mit einem Kajak zu folgen.“ „Jetzt lass uns erstmal die noch vor uns liegenden 12.000 Kilometer mit dem E-Bike bewältigen bevor du schon wieder ein neues Abenteuer ausheckst“, antwortet sie lachend.
Kaum haben wir den Huang He überquert, sind wir über eine weitere unsichtbare Provinzgrenze gerollt. Shanxi lassen wir nun hinter uns und die nahezu gleichnamige Provinz Shaanxi, in der 13 Dynastien über tausend Jahre ihre Residenz hatten, öffnet uns ihre Tore. In der östlichsten Provinz Nordwestchina leben heute 38 Millionen Einwohner. Das sind auf einer Fläche von 205.800 km² 175 Einwohner pro km². In Deutschland leben in Vergleich 227 Menschen auf einen km². Noch bis Ende des 19. Jahrhunderts dominierten mit 78 % Bevölkerungsanteil muslimische Volksgruppen, wie die Hui, die Provinz. Dann ereigneten sich die Moslemaufstände während deren Millionen von Menschen getötet wurden. Danach war ein Großteil der muslimischen Gemeinden vernichtet. Heute machen die Moslems nur noch 1 Prozent der Bevölkerung aus.
Wir folgen einer schmalen Landstraße. Weil sich die Verkehrsader durch kleine Dörfer, Täler und an Bergzügen vorbei windet, wählten die bösen Trucks den für sie einfacheren Highway S20. Erleichtert, heute nur von wenigen schwer beladenen Lastern bedroht zu sein, genießen wir die Fahrt so gut wir können, denn auch hier verschmutzen eine Vielzahl von Kraftwerken die Luft.
Immer wieder spitzt die Sonne durch die dichte Nebeldecke und frisst sich ein regelrechtes Loch in die graue Wand. Gegen Mittag hat sie die letzten Nebelschwaden verdunsten lassen und beschenkt uns mit einem blauen Himmel. „Super!“, juble ich, meine rechte Faust in den Himmel streckend. Seit einiger Zeit stehen immer wieder große, mit brauner Farbe hinterlegte, Schilder am Straßenrand. Sie weisen auf Sehenswürdigkeiten hin. „Ob es einen Sinn ergibt dort hinauf zu fahren?“, frage ich, weil der Richtungspfeil auf eine steile, schmale Passstraße deutet. „Wir besitzen doch genügend Energie in unseren Akkus“, meint Tanja. „Stimmt. Dann rauf auf den Berg“, antworte ich, weshalb wir unserer Bikes im Turbomodus die Serpentinen hochtreten. Immer weiter führt das neu betonierte Sträßchen in die Berge. Reste von alten Wachtürmen der Chinesischen Mauer strecken ihre Gerippe links und rechts von uns in den blauen Himmel.
Nach 300 weiteren Höhenmetern ziehen sich neben uns tiefe Schluchten durch das gelbe Lössgestein. Unsere Augen gleiten über eine raue, beeindruckende Gebirgslandschaft. In der Ferne, auf dem Rücken eines anderen Bergzuges, sitzt ein Tempel. Vom lästigen Straßenverkehr ist hier oben schon lange nichts mehr zu hören. Kleine, noch ursprüngliche Dörfer tauchen auf. Die Bauern haben ihre Ernte zum trocknen direkt auf die Fahrbahn gelegt. Mit vor Überraschung aufgerissenen Augen blicken sie uns an als wir nahezu lautlos an ihnen vorbei gleiten. „Ni hao!“, grüßen wir freundlich. Dann geht es weiter bergauf. „Wo ist denn nun der angekündigte Tempel?“, fragt Tanja. Ich antworte mit einem Schulterzucken. „Lass uns noch bis dort hinten fahren“, schlage ich vor, auf einen Punkt deutend, an dem sich der Weg hinter einem Bergrücken versteckt. Plötzlich entdecken wir große Löcher im gelben Lössgestein neben uns. „Felsenhöhlen“, sage ich und halte an.
„Gehst du zu erst?“, frage ich weil wir nicht beide zur gleichen Zeit unsere Räder allein lassen wollen. „Geh du“, bietet Tanja mir den Vortritt. Auf leisen Sohlen schreite ich durch ein von der Straße nicht einsehbare Schlucht und befinde mich ganz unerwartet in einer Art von Menschen geschaffenen Innenhof. „Wow“, flüstere ich und klettere in die erst vor ein paar Jahren nicht all zu langer Zeit verlassene Wohnhöhle. Ajaci, der mich begleitet, möchte zuerst in das dunkle Innere springen. „Bist du verrückt?“, halte ich ihn zurück. „Bleib hinter mir, ansonsten fällst du noch in irgendein tiefes Loch und ich muss dich am Ende da rausholen“, flüstere ich tiefer in die Höhlen kletternd. Man braucht nicht viel Fantasie um sich vorstellen zu können, dass in dieser Region die ersten Hominiden schon vor 1,15 Millionen Jahren siedelten, denn Shaanxi gilt als eine der bedeutendsten Wiegen der chinesischen Zivilisation. „Raus da Ajaci!“, schimpfe ich meinen Hund als er in einen schmalen, dunklen Gang läuft, dessen Ende ich von meiner Position nicht erkennen kann. Plötzlich rieselt es von der Decke. Erschrocken blicke ich nach oben. Trockener Lösssand fällt auf eine darunter befindliche, ebenfalls aus Löss gebauten, Bettstatt. Ajaci und ich drücken uns durch einen weiteren schmalen Gang in eine angrenzende Wohnhöhle. Hier liegen größere Erd- und Gesteinsbrocken herum, die sich vor nicht all zu langer Zeit aus der Decke über uns gelöst haben. Mit ungutem Gefühl denke ich an das größte und folgenreichste Erdbeben in der chinesischen Geschichte, welches sich im Jahre 1556 in Shaanxi ereignete, und nach Schätzungen 830.000 Menschenleben forderte. Den Aufzeichnungen zur Folge starben in manchen Regionen der Provinz über 60 % aller Einwohner. Damals lebten die meisten Menschen in solchen Yaodongs. Viele ihrer Bewohner wurden durch die Erschütterungen des Bebens in ihnen bei lebendigem Leib begraben. „Rrrsssss“, rieselt es in diesem Moment direkt vor uns von der Decke. „Komm lass uns hier verschwinden“, sage ich zu meinem Hund und eile wieder ins Freie.
„Und ist es sehenswert dort drin?“, fragt Tanja. „Absolut. Du musst aber unbedingt darauf achten nirgends rein zu fallen. Auch sind die Höhlen teils einbruchgefährdet“, warne ich sie als sie losläuft, um sich ebenfalls ein paar der Yaodongs anzusehen.
Wenig später entdecken wir den Grund für das Schild an der Straße. Es ist ein aus Beton gebauter, nagelneuer, sehr kleiner buddhistischer Tempel. Weil wir schon viele uralte und sehenswerte Gotteshäuser in unserem Leben besichtig haben, lassen wir dieses unbesucht liegen, um wieder ins Tal zu fahren. Eine alte, vielleicht 1,40 Meter kleine Bäuerin, begrüßt uns. Wir stoppen unsere Bikes. Sie humpelt zu Tanja. „Ni shi narr en?“, (Woher kommen sie?) verstehen wir. „Wo lai zi deguo“, (Ich komme aus Deutschland) antwortet Tanja. Die Frau schüttelt den Kopf als hätte sie Tanja nicht verstanden. „Ihaa! Ihaa! Ihaa!“, mischt sich der klagende Ruf eines Esels in die rudimentäre Unterhaltung als wollte auch er etwas von seinem kargen Leben hier oben in den Bergen erzählen. Vor einer noch bewohnten Felsenwohnung stehend knabbert er am Heu welches sein Besitzer im hingeworfen hat. Die alte Frau lacht und stellt weitere Fragen die wir nicht verstehen. „Wir müssen weiter. „Zaiijan!“, (Aufwiedersehen) verabschieden wir uns. „Hi, hi, hi“, lacht es freundlich hinter uns als wir unsere Aluminiumrösser in ausladenden Kurven um die auf der Straße liegende Ernte steuern. „Hier ist die Welt stehengeblieben“, meint Tanja als sie auf dem einsamen Sträßchen für ein paar Meter neben mir fährt. „Eine schöne Welt“, antworte ich. „Ja, aber sicherlich sind die Menschen sehr arm“, erwidert sie. „Es ist nicht immer arm was arm aussieht, wenn diese Menschen mit ihrem Leben zufrieden sind, sind sie reich“, antworte ich. „Da hast du sicherlich recht“, sagt Tanja.
Nach 100 Tageskilometern fahren wir durch die Stadt Sehnmu. Etwa 30 oder 50 Meter über uns wird die Stadt von einer atemberaubenden, mehrere Kilometer langen Autobahnkonstruktion überquert. „Achte auf die Straße!“, ermahnt mich Tanja weil ich staunend, bald fassungslos was der Mensch alles bauen kann, nach oben blicke.
Kaum haben wir unsere Räder und Ausrüstung in der Lobby der heutigen Unterkunft verstaut und Ajaci auf seiner Decke im Zimmer geparkt, suchen wir eines der Restaurants auf. Diesmal ist es eine modernere Gaststätte, in der viele junge Chinesen speisen. Kaum öffnen wir die Tür verstummen erneut alle Anwesenden. Erschrocken blicken wir in den großen Raum und rufen aus reiner Verlegenheit „Ni hao!“ „Ni hao! Ni hao! Ni hao“, echot es aus allen Richtungen. Wir schreiten an einem Empfangstresen vorbei, an dem drei junge Frauen uns mit offenem Mund nachsehen. „Ni hao!“, grüßen wir auch sie und setzen uns an dem einzigen freien Tisch. „Ich glaube hier muss man reservieren“, sage ich zu Tanja leise auf die noch immer verdutzten Gesichter der Empfangsmädels blickend. Die tauen jetzt aber auf, lachen und rufen laut in die Küche. Sofort kommt ein junger Kellner angwieselt und bringt die Speisekarte. „Puh, Gott sei Dank sind da Bilder drin“, meine ich auf die verschiedenen fotografierten Gerichte deutend. Langsam gewöhnen sich die Gäste an unsere Anwesenheit und setzen ihre Nahrungsaufnahme fort. „Gambei!“, (Prost) ruft es neben uns. Ein junger Mann reicht mir ein Schnapsglas, um mit mir anzustoßen. Höflich nehme ich das Gläschen, lasse es erklingen und kippe die klare Flüssigkeit in meine Radlerkehle. „Hooo“, entfährt es mir worauf alle Anwesenden des Nachbartisches zusammenbrechen vor Lachen. Das Eis ist gebrochen, die Kehle geschmiert und die ersten Handys uns Smartphones gezückt. „Gambei“, ruft es. Der Freund des ersten Schnapsglasüberreichers drückt mir ein weiteres gefülltes Gläschen in die Hand. „Gambei!“, rufe auch ich, worauf sich fast alle Anwesenden im gesamten Restaurant nach mir umdrehen. „Willst du dich betrinken?“, fragt Tanja schmunzelnd. „Sicherlich nicht“, antworte ich, merke aber schon wie mir das Zeug nach 100 km Radfahren in den Kopf steigt. „Gambei!“, tönt es erneut. Wieder kippe ich als Gegenleistung für ein paar Fotos den Schnaps in meine Kehle. „Jetzt reicht es aber. Ich mag keinen Schnaps mehr. Hoffe nicht dass noch andere in dem Restaurant auf die Idee kommen die Ausländer unter den Tisch saufen zu wollen“, sage ich mich wieder setzend. Kaum habe ich mich niedergelassen dröhnt erneut das Gambei durchs Restaurant!“ Ich bin schon im Begriff aufzuspringen, um meinen nächsten Schnapp zu empfangen, aber diesmal will der Nachbartisch ein Foto mit Tanja. „Ha, ha, ha, schau bloß dass du dich nicht betrinkst“, pruste ich vor Freude als Tanja die Lippen ans Glas setzt. Überrascht sehe ich wie sie das Becherchen genauso voll zurück gibt wie sie es bekommen hat. „Du hast beschummelt“, flüstere ich. „Habe ich nicht. Man muss nicht jedes Glas austrinken welches man bekommt.“ „Hm, stimmt. Wenn wieder so ein Becherchen rüberwandert mache ich auch einen auf Nippen“, sage ich und komme endlich dazu einen Blick in die Speisekarte zu werfen…
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