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Mongolei/Tsagaan Nuur Camp 2 MONGOLEI EXPEDITION - Die Online-Tagebücher Jahr 2011

Riskanter Querfeldeinritt – Unheimlich wirkende Taiga

N 51°33'337'' E 099°15'341''
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    Tag: 248

    Sonnenaufgang:
    07:06

    Sonnenuntergang:
    19:49

    Luftlinie:
    23

    Tageskilometer:
    30

    Gesamtkilometer:
    1341

    Bodenbeschaffenheit:
    Eis, Schnee

    Temperatur – Tag (Maximum):
    minus 5°C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    minus 15°C

    Temperatur – Nacht:
    minus 22°C

    Breitengrad:
    51°33’337“

    Längengrad:
    099°15’341“

    Maximale Höhe:
    1981 m über dem Meer

„Wie weit ist es bis zum Tuwa-Camp?“, fragt Bilgee am Morgen nachdem er die Pferde zu Ayush Blockhaus gebracht hat. „23 Kilometer Luftlinie. Die Reitstrecke dürfte sich auf 30 Kilometer belaufen“, antworte ich. „Wenn wir wirklich keine Ladung mitnehmen schaffen wir die Strecke noch heute.“ „Halten die Tiere das durch?“ „Denke schon“, antwortet Bilgee zuversichtlich. „Tsaya hat gerade angerufen. Sie wird in 30 Minuten hier sein. Wir laden alles in den Jeep und können mit leichtem Gepäck reiten. Lass uns in der Zwischenzeit die Kartons und Seesäcke vors Haus tragen“, schlage ich vor.

Eine Stunde später ist noch immer kein Auto in Sicht. „Wo bist du?“, ruft Tanja wegen dem ums Blockhaus pfeifenden Wind ins Handy. „Der Jeep wurde von der Polizei beschlagnahmt. Das Fahrzeug war nicht angemeldet. Ich versuche gerade ein anderes Auto zu bekommen. Denke aber in fünf Minuten bei euch zu sein“, erklärt sie. Wir warten eine weitere Stunde. Mittlerweile ist es bereits 13:00 Uhr und wenn wir noch vor der Dunkelheit das Camp erreichen möchten wird die Zeit für einen Aufbruch knapp. Dann endlich kommt Tsaya, der Fahrer, seine Frau und Ultsan. „Oh das ist aber viel Gepäck. Das bekommen wir nicht mehr unter“, meint Tsaya als hätten wir nie davon gesprochen unsere gesamten Lebensmittel der kommenden zwei Monate plus Zelte, Kleidung und Ausrüstung ins Camp transportieren zu müssen. „Wir hatten doch vereinbart den Jeep mit dir zu teilen. Du sagtest nicht viel Gepäck zu besitzen und abgesehen davon alleine zu reisen.“ „Das hat sich geändert. Im Fahrzeug befinden sich nun neun 25 Kg. Mehlsäcke die mir einige Tuwa mitgegeben haben. Außerdem möchten noch Saintsetseg und Ovogdorj mitfahren. Wir trafen sie auf dem Weg zu euch. „Sechs Mann und neun Säcke Mehl sollen in das Auto passen?“, wundere ich mich. „Ultsan wird nicht mitfahren. Er reitet die Pferde zurück die er nutzte um Jade zu suchen. Ihr werdet ihn unterwegs treffen. Also ist noch ein wenig Platz. Wenn ihr möchtet werde ich einen kleinen Teil der Ausrüstung mitnehmen.“ „Das ergibt keinen Sinn, denn nun sind wir gezwungen einen Jeep für uns alleine zu mieten“, antwortet Tanja. „Okay, dann fragt den Fahrer ob er die Strecke zum Camp heute nochmal zurücklegen möchte“, meint Tsaya. „Kannst du uns bei der Übersetzung helfen?“, frage ich. „Okay, aber verhandeln müsst ihr schon selbst.“ Nach einigen Minuten hat sich der Preis auf 55.000 Tugrik (31,- €) eingependelt. „Ach ja, da ist noch etwas. Ich nehme jetzt doch keine Ziege. Ich verfüge nur noch über 20.000 Tugrik“, (11,23 €) stellt uns Tsaya erneut vor vollendete Tatsachen. „Hätten wir das vorher gewusst hätten wir keine ganze Ziege gekauft“, meint Tanja mit einer Stimme in der ich einen ärgerlichen Unterton vernehme. „Na gut dann nimm ein Viertel der Ziege“, bietet sie Augenblicke danach an. „Oh, das ist nett von dir. Gerne“, meint Tsaya dreht sich auf dem Absatz um und steigt in den Jeep. „Dann bis heute Abend! Schick mir eine SMS wann ihr ankommt!“, ruft sie uns noch zu. „Eine SMS? Du weißt doch wie schlecht der Empfang in der Taiga ist!“, antwortet Tanja.

Als das Allradfahrzeug verschwunden ist tragen wir unsere Kartons wieder in die Hütte. Tsendmaa wird unsere Habe dem Fahrer aushändigen wenn er wiederkommt und ihm das Geld geben. Durch die sich ständig ändernden Aussagen Tsayas sind wir nun gezwungen einen Fremden unsere wertvolle Ausrüstung, vor allem die Technik, anzuvertrauen. Weil wir uns nicht sicher waren ob diese während unserer Abwesenheit in der Jurte gestohlen wird transportierten wir sie vom Tuwa-Camp nach Tsagaan Nuur. Nun muss ein großer Teil wieder zurück. „Es wird schon gut gehen“, hoffe ich.

Dann satteln wir unsere Pferde. Tseden-ish, Ayush und Tsendmaa kommen ebenfalls vor das Blockhaus, um uns zu verabschieden. Wir sind erleichtert. Ayush hat sich überraschenderweise an unsere Vereinbarung gehalten die wir kürzlich getroffen hatten. Weil wir ihm letztes Jahr 80.000 Tugrik (45,- €) für die zweite Lastwagenladung Holz bezahlten und das Holz wegen dem Umzug in die Taiga nicht nutzen konnten, versprach er uns als Gegenleistung für ein paar Tage kostenfrei in seinem Blockhaus wohnen zu dürfen. Freilich wäre es fair von ihm gewesen uns das Geld einfach zurückzubezahlen aber Ayush sitzt auf dem Geld wie eine Henne auf den Eiern. Auch steht der Deal in keinem Verhältnis da die Blockhütte pro Tag nur 1.000 Tugrik (0,56 €) kostet. Allerdings haben wir davon gehört das Ayush seit kurzem von Touristen den Preis von 10.000 Tugrik (5,61 €) pro Person und Nacht verlangt hat. Nun, man kann es drehen und wenden wie man möchte. Wir sind froh am Ende unseres Kurzaufenthaltes nicht doch noch zur Kasse gebeten worden sein.

Nur mit Nahrung für einen Tag beladen verlassen wir Tsagaan Nuur. Unsere Gastgeber winken uns zu. „Sain jawaaraj!“ („Gute Reise!“) rufen sie uns freudig hinterher. „Hast du gesehen? Ayush hat gelächelt“, sagt Tanja. „Hat sich sicherlich über das gute Geschäft gefreut“, antworte ich gutgelaunt wieder auf dem Rücken meines Pferdes sitzend. Am Rande von Tsagaan Nuur reiten wir über das meterdicke Eis des Sees. Wir folgen den Reifenspuren die die Fahrzeuge gezogen haben. In meiner Erinnerung weiß ich von zwei Spuren die über den See führen und bin mir nicht sicher ob wir uns auf der Richtigen befinden. „Was glaubst du? Ob wir den Tsagaan Nuur weiter hinten hätten queren sollen?“, frage ich Tanja etwas verunsichert. „Was meint dein GPS?“, (Satelliten des GPS-Systems Global Positioning System) fragt sie. „Es zeigt mir nur die Luftlinie zum Tuwa-Camp an. Wenn es danach geht könnten wir das Eis überall queren“, antworte ich und entscheide mich weiter der ersten Spur zu folgen. Als wir das Ufer erreichen winden sich die Reifenabdrücke auf einen Hügel. Wegen der starken Einstrahlung der Sonne ist der Schnee an vielen Stellen völlig weggeschmolzen. Der Fahrweg, der sich unweit vor uns gabelt, ist folglich nur schwer auszumachen.

„Wir sollten in Luftlinie zum Camp reiten. Das ist doch viel kürzer“, schlägt Bilgee vor. Ich überlege eine Weile ob es klug ist seinem Ratschlag zu befolgen. Prüfend lasse ich meinen Blick über die gebirgige Landschaft gleiten. Wir befinden uns in einem ausgedehnten Hochtal welches von teils sehr schroffen Bergen gesäumt ist. Sollten wir dem Tal folgen weichen wir von der angegebenen Luftlinie meines GPS um 90 Grad ab. Das wäre ein massiver Umweg. Nach meiner jahrelangen Erfahrung allerdings sind vermeintliche Abkürzungen entschieden länger. Unvorhergesehene Barrieren und Hindernisse, wie Flüsse, Felskanten, Wälder und vieles mehr können solche Abkürzungen im schlimmsten Fall zu einem Alptraum werden lassen. Ich erinnere mich noch lebhaft als wir letztes Jahr wegen dem Folgen der Luftlinie nur wenige Kilometer vor Tsagaan Nuur von einem Seenlabyrinth regelrecht gefangengehalten wurden, da die Tragfähigkeit der Eisdecke zu jener Jahreszeit noch trügerisch war. Daher war es unmöglich einer Luftlinie zu folgen. Nur mit großer Mühe, Umwegen und dem äußerst riskanten Überquerungen von halb zugefrorenen Seen und Flüssen erreichten wir wohl behalten unser Ziel.

„Was überlegst du Denis?“, fragt Tanja. „Ich bin mir nicht sicher ob wir den Querfeldeinritt wagen sollten. Auf der anderen Seite weiß ich nicht welche der Fahrzeugspuren zum Tuwa-Camp führen. Folgen wir der falschen sind wir gezwungen umzukehren, um eine der andere Piste zu suchen. Dadurch würden wir viel Zeit verlieren die wir nicht besitzen. Wir haben kein Zelt oder sonstige warme Kleidung geladen, um bei diesen Temperaturen eine Nacht im Freien ohne Schaden zu überstehen“, sage ich und hoffe keine Fehlentscheidung getroffen zu haben so leicht zu reisen. „Asuudal bisch“, („Kein Problem“) meint Bilgee wie so oft zuversichtlich, worauf ich mich entscheide den Weg zu verlassen und der angegebenen Luftlinie des GPS zu folgen. Schon nach wenigen hundert Metern liegt ein weiterer See oder ein Ausläufer des Tsagaan Nuur vor uns. Wir reiten die steile Uferböschung hinunter und traversieren die hoffentlich durchgehend tragfähig Eisdecke. Da man mir von Stellen im See berichtete die nie richtig zufrieren bin ich leicht nervös. Eine etwa fünf bis zehn Zentimeter dicke Schneedecke hat das Eis unter sich begraben. So ist es unmöglich trügerische Bereiche frühzeitig zu entdecken. Langsam setzt Sar einen Huf vor den andere. Tanja und Bilgee folgen. Sie treiben die Pferde Naraa, Bor und Sharga vor sich her. An der gegenüberliegenden Seite des Sees angekommen versperrt uns eine senkrecht abfallende Böschung den weiteren Weg. Wir folgen dem Uferwall bis ich eine geeignete Passage ausmache.

Ohne Zwischenfälle verlassen wir den See und führen unsere Pferde über einen sanft ansteigenden Höhenrücken der links und rechts von hohen Gebirgen flankiert wird. Kurz bevor wir den Kamm erreichen entdeckt Mogi eine Ziegenherde die friedlich und nichts ahnend das vom Winter gebräunte Gras vertilgt. Wie ein vom Bogen gelassener Pfeil schießt er auf die Tiere zu. Gebannt verfolge ich das Schauspiel als er die Herde teilt, um dann einen der Böcke zu separieren. Noch auf der Etappe von Mörön nach Tsagaan Nuur wäre mir spätestens jetzt das Herz in die Tasche gerutscht. Jetzt hingegen betrachte ich die Spektakel relativ gelassen. Durch Rufus Vermächtnis, dem Maulkorb aus Stahl und Lederriemen, ist der Schafskiller Mogi nicht mehr in der Lage den Grasfressern ernsthaft zu Leibe zu rücken. Es dauert nicht lange und unser Hund gibt die Verfolgung auf. Hechelnd sprintet er zu uns zurück, nicht ohne sich unaufhörlich mit der Schnauze voran in die von der Sonne übriggelassenen Schneeinseln zu werfen. „Du gibst einfach nicht auf was?“, frage ich ihn weil er auf diese Weise versucht die Beißhemme loszuwerden.

Auf dem Bergrücken angekommen werden wir von einem Ovol empfangen. Wie es der Brauch erfordert umrunden wir ihn dreimal welches uns nach dem Glauben der Mongolen einen glücklichen Reiseverlauf garantiert. „Ich muss meine Schuhe wechseln“, sagt Tanja laut, um den über den Höhenzug fauchenden, bitterkalten Wind zu übertönen. „Hast du kalte Füße?“, frage ich. „Sehr kalt. Es war eine gute Entscheidung die Filzschuhe mitgenommen zu haben“, meint sie. Auch Bilgee schlüpft in seine warmen mongolischen Filzschuhe. Ich hingegen habe aus Gewichtsgründen meine warmen Winterschuhe in Ajushs Blockhaus gelassen. „Du frierst nicht?“, wundert sich Tanja. „Nein, bisher halten mich meine kanadischen Winterschuhe warm“, antworte ich und blicke von hier oben in das hinter uns gelassene Hochtal. In weiter Ferne sehe ich wie sich ein schmales Band durch den Schnee um einen felsigen Gebirgszug windet. „Das muss der Weg ins Tuwa-Camp sein“, meine ich nachdenklich. „Dann hat sich die Abkürzung gelohnt“, stellt Tanja fest da sich die Piste viele Kilometer von uns entfernt befindet. „Zweifelsohne. Wenn sich uns auf der restlichen Strecke kein Hindernis in den Weg legt war es eine sehr gute Entscheidung.“ „Wie weit ist es noch?“ „Ca. 11 Kilometer“, antworte ich die Zahl vom Navigationscomputer ablesend. „Oh, dann sind wir in spätestens um 19:00 Uhr im Tuwa-Camp?“ „Vielleicht“, antworte ich auf einen weiteren Höhenzug blickend der direkt vor uns liegt.

Unheimlich wirkende Taiga

Dem Richtungspfeil meines Systems folgend reite ich wieder voraus. Sollte ich auf ein landschaftliches Hemmnis stoßen kann ich Tanja und Bilgee entgegenreiten und sie in eine andere Richtung führen. Somit ersparen sie sich den Umweg. Am Scheitel des Berges baut sich ein dichter Wald vor uns auf. Ihn zu durchqueren scheint unmöglich. Ich reite zurück, um Tanja und Bilge zu informieren. Nach einer kurzen Beratung entscheiden wir uns dem Saum der Taiga in Richtung Süden zu folgen bis sich eine Schneise in Richtung Westen auftut. Konzentriert lasse ich meine Augen auf dem Waldrand geheftet. Dann glaube ich Gesuchtes gefunden zu haben. Ich folge der Lichtung die den dichten Wald vor uns teilt. Immer darauf hoffend ihn so durchqueren zu können. Abrupt verliert sich das offene Weideland in dichtem Geäst. Zwingt uns der undurchdringlich wirkende Lärchenwald zur Umkehr? Und wenn ja in welcher Richtung sollen wir ihn umgehen? Ich verfluche mich selbst nicht zum ersten Mal auf dieser Reise. Im Glauben daran den Weg zum Tuwa-Camp leicht zu finden habe ich selbst das Kartenmaterial zurückgelassen. So weiß ich nicht wie groß das Waldgebiet ist welches uns in den Weg gewachsen ist. Dann entdecke ich eine Lastwagenspur die sich in den hartgefrorenen, unebenen Boden gepresst hat und in die Tiefes des Forst führt. Augenblicklich entschließe ich mich ihr zu folgen. Vor mir tut sich eine Art Ovol auf. Dicke Baustämme sind mit blau, gelb, grün, weiß und roten Stoffstreifen umwickelt. Ich schieße ein Foto, wende mich im Sattel, um zu sehen ob mir Tanja und Bilgee folgen und reite weiter in die Düsternis des Gehölz.

Mogi, der hier nichts zu jagen hat, folgt mir in kurzem Abstand. Tanja und Bilgee befinden sich wegen den vielen Bögen, in denen sich der Pfad schlängelt, außer Sicht- und Hörweite. Links und rechts, der sich immer weiter in den Wald windenden, großen Reifenspuren, liegen umgefallene dicke Baumstämme. Viele von ihnen wurden mit Motorsägen bearbeitet. Mit ungutem Gefühl folge ich der vorgegebenen Spur. Immer darauf hoffend sie kommt auf der anderen Seite des Nadelwaldes heraus. Die Kompassnadel verrät eine starke Richtungsabweichung. Aber solange die Himmelsrichtung nur grob stimmt bin ich nicht zu sehr beunruhigt. Auf einmal höre ich ein schweres Knacken rechts neben mir. Erschrocken blicke ich in die Undurchdringlichkeit der Taiga. „Ob es ein Bär war der aus seinem Winterschlaf erwacht ist?“, geht es mir urplötzlich durch den Kopf. „Die sind doch gerade zu dieser Jahreszeit besonders gefährlich?“ Mit einem Schauder rasen mir Ultsans Jagdgeschichte durchs Gehirn als würde ich sie gerade selbst erleben. „Eigenartig welche Gedanken einem in solch finsterem Wald durch den Kopf gehen. Sollte tatsächlich ein hungriger Bär unseren Weg kreuzen hätten wir auf unseren müden Pferden nicht die geringste Chance mit heiler Haut davonzukommen. Wahrscheinlich würde Sar mich einfach abwerfen und in wilder Panik davongaloppieren“, denke ich weiter und beobachte meinen Hund ob er sich eigenartig verhält. Aber Mogi trottet mir mehr oder wenig gelangweilt hinterher. „Nein ein Bär kann dieses Geräusch nicht ausgelöst haben“, beruhige ich mich selbst.

In diesem Moment wird mir mehr denn je bewusst wo wir uns befinden. „Taiga“, lasse ich das Wort über meine Lippen gehen und spüre seine Tiefe, spüre seine Bedeutung, seine Größe. Unsere kleine Reisegruppe befindet sich weit ab von jeglicher menschlicher Zivilisation im größten zusammenhängenden Nadelwaldgebiet der Erde welches sich von Skandinavien über Sibirien bis nach Nordamerika erstreckt. Dieser Waldtyp wächst in den gemäßigten und nördlichen Breiten und gehört somit zu den außertropischen Wäldern unserer Erde, die zusammen etwa 14 Millionen Quadratkilometer Landfläche bedecken. Die außertropischen Wälder gedeihen hauptsächlich in Russland, Nordamerika und Europa, größere Gebiete befinden sich aber auch in Australien, Neuseeland, Chile, Argentinien, Nordafrika und den Küstenregionen Südafrikas. Im Gegensatz zu den tropischen Regenwäldern zeichnet sich die Taiga durch eine geringe Artenvielfalt aus und besteht zu großen Teilen aus Birkenwälder, Fichten, Kiefern, Lärchen und Tannen.

Wie auch schon auf unserem Fahrradtrip durch die endlose sibirische Taiga rieche ich in diesem Moment den satten, urigen, klaren Duft der teils bis zu 800 Jahre alten Baumriesen. Abgestorbene Bäume recken ihre kahlen, von Moos bewucherten Stämme in die schneeträchtigen Wolken. Ein faszinierender Gedanke, dass die Taiga zum Teil noch völlig unerschlossen ist. Mit einem Mal begeistert mich die pure massive Anwesenheit dieser wohl ältesten, größten und höchsten Lebewesen unserer Erde und lasse ohne Unterlass meine Blicke über die grünen Kreaturen schweifen. Für mich sind diese Wesen zweifelsohne mächtige und beständige Symbole des Lebens. Wenn jedem Einzelnen von uns Erdenbürgern wirklich bewusst wäre, dass der Wald eine riesige Energiequelle für unser Ökosystem ist, würden wir mit Sicherheit schonender mit ihm umgehen. Bäume benötigen Sonnenlicht, Kohlendioxid und Wasser um zu überleben. Wenn uns Menschen doch im tiefsten Inneren unseres Bewusstseins klar wäre, dass die Bäume daraus wichtige Nahrung für Mensch und Tier und den hoch wichtigen Sauerstoff produzieren, würden wir garantiert anders mit dem Erhalter unseres Lebens umgehen. Wer würde sich schon freiwillig erwürgen um dann zu ersticken? Was für ein furchtbarer Tod. Und doch holzen wir, für unsere wunderbaren Holzterrassen, Schneidebrettchen, edlen Lenkräder und Armaturenbretter in unseren Autos, weiterhin Urwälder ab. Zumindest lassen wir holzen und kaufen dann bewusst oder unbewusst den Tod oder den unserer Kinder, oder sind mit dafür verantwortlich, dass die kommenden Generationen nicht mehr genug Luft zum Atmen besitzen. „Welch ein Wahnsinn“, geht es mir durch den Kopf. „Wie kann man so eine kranke Entwicklung nur stoppen? Wie kann man uns Menschen verständlich machen, dass Bäume Kohlendioxid aus der Luft filtern und somit die Zusammensetzung unserer Erdatmosphäre erneuern? Wie kann man uns Menschen nur erklären, dass Bäume uns mit frischer Luft versorgen, die wir alle, ob reich oder arm, sekündlich zum Überleben benötigen? Was können wir tun, um rechtzeitig zu begreifen, dass Bäume die wohl ältesten, größten und höchsten Lebewesen unserer Erde sind?“

Der sich wie eine Riesenschlange dahinziehende Pfad wird von starkem Astwerk überdacht. Es scheint immer dunkler zu werden. Als er sich bald um 180 Grad von unserer Zielrichtung entfernt wird mir meine Fehlentscheidung ihm gefolgt zu sein bewusst. „Noch eine Biegung, dann muss ich auf Tanja und Bilgee warten, um eine weitere Entscheidung zu treffen“, denke ich als sich das Dickgicht lüftet und der Wald verjüngt. Immer mehr Licht zwängt sich zwischen die meist kahlen Bäume. Zu meiner großen Erleichterung gibt mich das Holz plötzlich frei und der meist überwachsene oder mit Schnee bedeckte Pfad führt auf eine mit meterhohen Strauchwerk bewachsene Hochebene.

Kalter Wind weht über das offene Land und lässt mich erschaudern. Ich steige aus dem Sattel um in den Schnee zu pinkeln und meine steifen Glieder zu strecken. Wer hätte gedacht das wir nach 4 ½ Monaten Jurtenleben ohne jegliches Training einen Gewaltritt hinlegen müssen? Bei minus 18 ° C wische ich mir den vom Wind gekühlten Schweiß von der Stirn und lasse die Stelle an der dieser Pfad aus dem unheimlichen Wald kommt nicht aus den Augen. Nach einer kleinen Ewigkeit entdecke ich endlich Tanja, Bilgee und die Pferde. Ich warte bis sie aufgeschlossen haben und reite dann wieder voraus querfeldein durch das riesige Strauchwerkfeld. Mittlerweile ist es kurz vor 20:00 Uhr. Die Sonne hat sich schon seit geraumer Zeit hinter den hohen Bergen versteckt und auf den Weg zur anderen Seite der Erdhalbkugel aufgemacht. Nach unserer Planung sollten wir längst im Camp sein aber das GPS zeigt noch immer sechs Kilometer bis Ziel.

Der Untergrund auf dem sich das Gewächs ausbreitet ist mit tiefen Löchern versehen. Die Pferde tun sich schwer nicht ins straucheln zu geraten. Ihre Schwäche macht sich jetzt mehr und mehr bemerkbar. Unter normalen Bedingungen hätten wir spätestens hier ein Zelt aufgebaut und uns ausgeruht. Jedoch sind die Bedingungen nicht normal. Wir sind gezwungen weiter zu reiten und ich hoffe wir erreichen unsere Jurte bevor es stockdunkel ist. Mitten im Strauchgebiet streckt eine halbverfallene Hütte ihre morschen Balken in den grauen Abendhimmel. Sicherheitshalber markiere ich die Stelle im GPS. Sollte uns kurz vor Ziel eine weitere natürliche Barriere den Weg versperren, können wir im Notfall zu dieser Hütte zurückkehren, um darin zu nächtigen. Dort wären wir vor dem Wind geschützt und hätten die Möglichkeit ein wärmendes Feuer zu entfachen.

Unsere Beine und die Pferdekörper streifen an den harten Gewächsen vorbei. Wir kommen nur mit ca. zwei Kilometern in der Stunde voran. Als wir über einen kleinen Hügel reiten erkennen wir einen weiteren Waldstreifen. „Oh nein!“, rufe ich. Da ich die letzten Monate mit Mogi täglich ausgedehnte Spaziergänge ums Camp herum unternommen hatte müsste mir die Landschaft spätestens hier bekannt vorkommen. Jedoch ist mir jeder Berg und Hügel völlig fremd. Meine Nervosität steigert sich von Minute zu Minute. „Ob das GPS nicht richtig funktioniert?“, durchzuckt mich ein Gedanke der mich erschaudern lässt. Links vor uns liegt ein großer langgezogener Bergrücken der mir allerdings irgendwie vertraut erscheint. Ich studiere seinen Waldbewuchs und bin mir fast sicher ihn schon öfter nur wenige Kilometer östlich vom Camp ausgemacht zu haben. Vielleicht stoßen wir von der falschen Seite auf das Tuwa-Camp? Ich weiß es nicht und bin verwirrt. Hat uns der Pfad durch den unheimlichen Wald fehlgeleitet?

Mittlerweile haben wir den Rand des Walddtreifens erreicht. 2 ½ Kilometer bis Ziel verspricht der Handcomputer. Weil wir kaum eine andere Chance besitzen versuchen wir den Forst in Luftlinie zu durchqueren. Die dünnen Lärchenbäume und der katastrophale Untergrund lassen uns nur noch einen Kilometer in der Stunde vorankommen. „Denis! Wo bist du?“, höre ich plötzlich Tanjas Stimme. Ich wende mich im Sattel und sehe hinter mir nur dichten Wald. Im Zwielicht der Dämmerung beginnen sich die Baumstämme mit der heraneilenden Schwärze der Nacht zu vereinen. „Hier bin ich! Hiiieeer!“, antworte ich damit sich die beiden an meinem Rufen orientieren können. Für Tanja und Bilgee ist es eine große Herausforderung die Pferde durch das Gehölz zu treiben. Ich atme erleichtert auf als ich hinter mir die schemenhaften Bewegungen von Pferden erkenne. Plötzlich strauchelt Sar, bricht mit den Vorderfüßen in eines der Löcher. Bevor ich vornüber aus dem Sattel geschleudert werde knicken seine Hinterbeine ein. Wie ein sitzendes Kamel hockt das arme Tier in einer Schneewehe in der jetzt auch meine Knie stecken. Ich versuche gerade aus den Sattel zu steigen als er sich wieder aufrappelt. Als wäre nichts gewesen stapfen wir weiter voraus, um meiner Frau und meinem mongolischen Freund den Weg zu weisen.

Um durch das Gewirr von Sträuchern und Stämmen eine Passage zu finden steige ich vom Pferd und gehe zu Fuß weiter den Berg hinauf. Erst jetzt bemerke ich wie gefährlich dieser Boden wirklich ist. Unter kleinen Schneeinseln liegen scharfkantige Felsen, bis zu einen ½ Meter tiefe Löcher und unzählige, mit Flechten bewachsene Erdbuckel. Als die Schatten der Nacht herabgesunken sind stolpere ich von Buckel zu Buckel und rutsche wie ein Betrunkener in Spalten und Löcher bis ich mir das Knie verdrehe. „Ahh!“, rufe ich. „Ist was?“, höre ich Tanjas Frage aus der nun völligen Schwärze zu mir dringen. „So ein Scheiß! Wir hätten den Weg nehmen sollen! Diese verdammten Abkürzungen!“, fluche ich laut und ungehalten. Schon seit einer halben Stunde weisen uns die Stirnlampen die Richtung durch das Labyrinth der Bäume. Manche stehen sehr dicht und zwingen uns zur Umkehr. In Schlangenlinien kämpfen wir uns unter großer Anstrengung durch das Geäst. „Nerven bewahren. Nervenbewahren. Nerven bewahren“, rede ich mir selbst ein, noch immer nicht gewiss ob die Richtung stimmt. Weil Pferde auf vier Beinen sicherer Laufen als ein Mensch auf zwei steige ich wieder in den Sattel.

Es ist 21:00 Uhr als ich die ersten Rentierspuren in verbliebenen Schneeflecken entdecke. Das Gefühl auf der richtigen Fährte zum Tuwa-Camp zu sein überwältigt mich. Um 21:30 Uhr kreuzen wir einen schmalen Trampelpfad der Hirsche. Auch wenn er wieder leicht vom Ziel wegführt folge ich ihm. Ich bin überzeugt von dieser Spur zu unserem Heim geführt zu werden. Mehr und mehr Rentierkot bedeckt den Boden. Wegen der Höhe von nun 2.000 Meter ist die Schneedecke wieder geschlossen. Im Schnee entdecke ich einen Steigbügel den die Tuwa für ihre Rentiere nutzen. Müde lasse ich mich aus dem Sattel gleiten, hebe ihn auf und reite weiter. Hundegebell dringt an unsere Ohren und wird mit jedem Meter lauter. Das erste Tipi erscheint im Lichtstrahl unserer Stirnlampen. Überrascht stellen wir fest das Lager aus der entgegengesetzten Richtung zu erreichen. „Also hat uns der unheimliche Wald doch in einen Bogen um die Zeltsiedlung der Tuwa geführt“, sage ich zu Tanja die dicht hinter mir reitet.

Wir binden gerade unsere Pferde an die Bäume vor unserer Jurte als Tsaya aus ihrem Blockhaus kommt und uns zu heißen Tee einlädt. Wir tragen unsere Satteltaschen in die Jurte, entfachen ein Feuer und eilen in das Blockhaus Nummer eins. „Gut das ihr es noch heute bis ins Camp geschafft habt“, meint Tsaya. „Das kann man laut sagen. Wir sind wirklich erleichtert“, antworte ich. „Warum habt ihr so lange gebraucht?“ „Wir sind schon ab dem Tsagaan Nuur in Luftlinie geritten. Dadurch mussten wir durch die Wälder und über eine Hochebene mit festem Buschwerk“, erkläre ich. „Ich habe schon gesehen wie ihr den falschen Weg über den See genommen habt“, meint Ultsan. „Wie du hast uns gesehen?“, frage ich verwundert. „Ich war mit meinen Pferden auf einen Hügel und erkannte sechs Pferde, drei Reiter und einen Hund. Das konntet nur ihr gewesen sein. Ich benötigte übrigens nur vier Stunden bis hierher“, erzählt er. Tanja und ich sehen uns an und können kaum glauben was wir da gerade gehört haben. Im Stillen fragen wir uns warum er nicht von seinem Hügel geritten kam um uns den richten Weg zu weisen? Ich schlucke meinen aufkommenden Ärger hinunter und überhöre die Prahlerei die Strecke in der Hälfte der Zeit bewältigt zu haben. „Nun wie gesagt, wir sind froh hier zu sein“, antworte ich indes. „Durch die Wälder reiten und das auch noch in der Nacht kann ins Augen gehen“, setzt Tsaya das Gespräch fort. „Ja das haben wir gemerkt“, antworte ich mir Mühe gebend meinen erneut aufflammenden Ärger herunter zu schlucken. „Ist übrigens der Jeep mit unserer Ausrüstung angekommen?“, wechsle ich das Thema. „Nein. Der Fahrer hat kein Benzin bekommen weil die Tankstelle geschlossen war. Er wird morgen aufbrechen“, erklärt Tsaya. „Wie soll es anders sein“, murmle ich in meinen Bart. „Ist der Mann wirklich vertrauensvoll?“, frage ich. „Wie meinst du das?“ „Na ich meine ob es ein ehrlicher Mann ist und ob auch wirklich alles von unseren Sachen hier ankommt?“ „Auf ihn kann man sich verlassen“, beruhigt sie mich.

Nur wenige Minuten verstreichen als das Gespräche auf den fatalen Zustand unserer Pferde kommt. „Die wurden mit hundertprozentiger Sicherheit den gesamten Winter geritten. Ich denke das Militär hat sie für Patrouillenritte eingesetzt und ihnen nichts zum fressen gegeben“, behauptet Ultsan. „Wie können Menschen nur so etwas tun?“, fragt Tanja ihre Tränen nicht mehr kontrollierend. „Zwei oder drei eurer Tiere werden das Frühjahr nicht überleben“, versetzt Ultsan Tanja einen weiteren Hieb der definitiv zu viel für sie ist. „Warum sollten sie jetzt noch sterben? Der harte Winter ist doch vorbei“, frage ich. Die Frühjahrsmonate sind meist kritisch. Das Gras ist unter dem Schnee abgestorben und wegen der Höhenlage der Taiga wächst frisches Gras erst im Juni. Bis dahin haben die Pferde kaum etwas zu fressen“, erklärt er. Nach einem bald achtstündigen harten Ritt durch ein hartes Land hätten wir gerne ein paar tröstende Worte gehört. Die niederschmetternden Aussagen von Ultsan geben uns für heute den Rest.

Geknickt und total erschöpft gehen wir in unsere Jurte. „Das Bett haben wir extra für dich gebaut“, sage ich zu Bilgee auf seine Schlafstätte deutend. „Oh vielen Dank. Das ist wirklich gut geworden“, freut er sich und macht es sich darauf sogleich bequem. Als wir dann unseren Hunger mit einer gefriergetrocknete Nahrung aus der Tüte stillen meint er: „Macht euch nicht zu viel Sorgen wegen den Pferden. Man hat mir prophezeit mindestens eines wenn nicht zwei auf den Weg von Mörön hierher wegen ihrer Schwäche zu verlieren. Und? Wie sieht die Realität aus. Alle sechs Pferde erreichten wohlerhalten Tsagaan Nuur. Und jetzt haben wir es sogar bis in die Taiga geschafft. Ich bin mir sicher die Pferde durchzubringen. Sie halten mehr aus als man ihnen nachsagt. Ihr werdet schon sehen.“ „Vielen Dank für deine aufmunternden Worte“, sagt Tanja sichtlich erleichtert.

Dann schlüpfen wir auf unser Wandan. Weil Tanja sehr gefroren hat und wir uns heute nur mit unseren Deels zudecken können, legt sie eine große Ladung Holz in unseren Kanonenofen. „Können wir nicht wenigsten das Plastik des Dachkranzes öffnen. Ich halte es vor Hitze bald nicht mehr aus“, frage ich vorsichtig. „Wie du weißt hat der Fahrer unsere Ausrüstung nicht gebracht. Folglich habe ich keinen Schlafsack. Du willst wohl das ich wieder friere?“ „Nein auf keinen Fall.“ „Aber es ist irre heiß hier. Ich möchte nicht an einem Hitzschlag eingehen“, entgegne ich. Um Tanja nicht weiter zu verärgern verlege ich meinen Schlafplatz auf den Fußboden der Jurte. Dort hat es anstatt 34 °C nur 20 °C. Nachts um drei Uhr sinken die Bodentemperaturen allerdings auf minus 10 °C. Bibbernd vor Kälte wache ich auf und beziehe wieder meinen Platz neben Tanja.

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