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Mongolei/Tsagaan Nuur Camp 2 MONGOLEI EXPEDITION - Die Online-Tagebücher Jahr 2011

Geistige Beweglichkeit und bedingungslose Flexibilität

N 51°21'781'' E 099°21'056''
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    Tag: 247

    Sonnenaufgang:
    07:08

    Sonnenuntergang:
    19:47

    Luftlinie:
    1311

    Bodenbeschaffenheit:
    Eis, Schnee

    Temperatur – Tag (Maximum):
    minus 5°C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    minus 12°C

    Temperatur – Nacht:
    minus 15°C

    Breitengrad:
    51°21’781“

    Längengrad:
    099°21’056“

    Maximale Höhe:
    1554 m über dem Meer

Aprilwetter gibt es auch in der Mongolei. Gestern wurden wir mit traumhaften Sonnenschein verwöhnt und heute heulen Sturmböen um die Blockhütte. Die Temperaturen sind auf mindestens minus 12 °C gefallen. Bilgee, Tanja und ich frühstücken Spiegeleier und selbstgebackenes Brot. Dann macht sich Bilgee auf, um die Pferde außerhalb des Dorfes auf eine Weide zu bringen. Wir nutzen den Tag, um die restlichen Lebensmittel und Zusatzfutter für die Pferde zu besorgen. Im Dorf treffen wir auf die Bürgermeisterin der Tuwa die uns vor einigen Monaten viele Schwierigkeiten bereitete. Sie begrüßt uns äußerst freundlich. „Ich hatte mir Sorgen um euch gemacht. Mein Stamm berichtete mir aber über euer Wohlergehen und wie gut ihr euch mit den Taigabewohnern arrangiert habt. Das freut mich. Kann ich euch irgendwie behilflich sein?“, sagt sie mit zuckersüßer Stimme. „Vielen Dank. Wir haben soweit alles was wir benötigen. Außer du kannst uns Fleisch verkaufen. Das scheint es in ganz Tsagaan Nuur nicht zu geben“, antwortet Tanja. „Wenn ihr möchtet gebe ich euch eine Ziege. Die ist geschlachtet, bereits ausgenommen und liegt tiefgefroren in meinem Schuppen.“ „Oh, das wäre prima. Was soll sie denn kosten?“ „88.000 Tugrik“, (49,- €) antwortet sie. Nach kurzem Verhandeln bekommen wir die Ziege für 80.000 Tugrik (45,- €). Da in Mörön oder anderen Städten das Fleisch doppelt so teuer ist hat uns Ultsii einen sehr fairen Preis offeriert. Tsaya, die nach ihrem Krankenhausaufenthalt in Ulan Bator mittlerweile ebenfalls Tsagaan Nuur erreicht hat, möchte die Hälfte der Ziege von uns abkaufen. Da wir nicht wissen ob Bilgee in den kommenden sechs Wochen eine ganze Ziege vertilgt, freuen wir uns über den Handel.

„Das sind die Pakete und eure Pässe die mir Saraa für euch mitgegeben hat. Ihr wisst, dass Saraa keine Visaverlängerung für euch besorgen konnte?“, fragt Tsaya. „Ja wissen wir. Wir waren zu früh dran. Die Behörden verlängern unser Aufenthaltserlaubnis erst einem Monat vor dem Ablaufdatum. Wir sind nun gezwungen die Pässe noch einmal zu schicken. Keine Ahnung wie wir das organisieren wenn wir wieder mit den Pferden unterwegs sind aber uns wird schon etwas einfallen“, antworte ich und frage nach Tsayas befinden. „Mir geht es schon viel besser aber die Ärzte verordneten mir für die kommenden zwei Jahre Herzmedizin. Nach der Diagnose und den Checks stellten sie eine seltene Herzkrankheit fest und das ich einen kleinen Herzinfarkt hatte.“ „Einen Herzinfarkt? Um Gottes Willen. Wann soll das gewesen sein?“, frage ich erschrocken. „Könnt ihr euch erinnern als Ultsan so lange weg war, um den Zaun zu bauen?“ „Ja natürlich.“ „An einem der Abende kam ich zu euch und berichtete von starken Herzschmerzen und einem schlimmen Ziehen in der Brust. Das muss es gewesen sein.“ „Oh man da hast du offensichtlich Glück im Unglück gehabt.“ „Absolut. Aber im Krankenhaus gab man mir noch maximal fünf Lebensjahre. Ich hatte Tagelang geweint. Auch meine Familie stand unter Schock. Sie wollten mir ein Ding ins Herz einbauen mit dem man nicht länger als ein paar Jahre leben kann.“ „Ein Ding? Meinst du einen Herzschrittmacher?“, frage ich. „Denke so heißt es.“ „Aber damit kann man doch ewig leben. Meinem Vater hat man auch einen eingesetzt. Das ist eine Routineoperation.“ „Bei euch in Europa schon. Aber hier sieht es anscheinend anders aus. Wie auch immer. Ich konnte mich mit der Diagnose nicht abfinden und suchte ein weiteres Krankenhaus auf. Habe euch ja schon am Telefon davon berichtet. Dort war die Diagnose v,ielversprechender. „Sie sind eine junge Frau. Ihr Herz wird sich in ein paar Jahren erholen und sie werden damit alt. Nehmen sie ihre Medizin und bewegen sie sich viel aber maßvoll. Dann gibt es keine weiteren Probleme“, meinte eine Herzspezialistin. „Unterschiedlicher kann eine Diagnose kaum sein“, bin ich verblüfft. „Viele Ärzte in der Mongolei sind nur aufs Geldverdienen aus. Ich habe erlebt wie die Ärzte zur Visite ins Zimmer kommen auf die verschiedenen Patienten deuten und sagen: „Sie müssen 3 Millionen, sie 3,5 Millionen und sie 4 Millionen für ihre Operation zahlen. Einer Frau, die in unserem Zimmer lag, sagte man sie solle in den nächsten Tagen 2,5 Millionen Tugrik (1.405 €) für ihre Operation aufbringen. „Wenn sie den Eingriff nicht machen lassen werden sie in wenigen Tagen sterben“, meinten sie, worauf die Frau zusammenbrach. „Woher soll ich denn soviel Geld nehmen?“, jammerte sie. „Rufen sie ihre Verwandten an. Die sollen Tiere aus der Herde verkaufen“, antwortete ein Arzt. Es geht dabei nicht darum den Menschen zu helfen sondern um die wirtschaftliche Situation des Krankenhauses oder der Ärzte zu verbessern. Häufig werden bewusst Fehldiagnosen gestellt nur damit die Patienten völlig unnötige Operationen durchführen lassen. Hast du das Geld, kannst du leben. Hast du es nicht, stirbst du“, seufzt sie schwer. „Oder du lebst weiter weil du dich nicht operieren lässt“, antworte ich. „Ich bin froh draußen zu sein und noch zu leben“, setzt Tsaya ihren Krankenhausbericht fort. „An einem Abend hat eine Schwester meine Medikamente der Frau im Nachbarbett verabreicht und ihre mir injiziert. Der Frau ging es furchtbar schlecht. Sie musst sich daraufhin die ganze Nacht übergeben und ich bin in einen komaähnlichen Tiefschlaf gefallen“, erzählt sie sichtlich erleichtert diese Nacht überstanden zu haben. „Nicht nur in mongolischen Krankenhäusern sterben Patienten durch menschliches Versagen“, antworte ich.

Um das traurige Thema zu wechseln fragen wir Tsaya ob sie heute noch in die Taiga fahren wird und ob sie unser Gepäck mitnehmen kann. „Kein Problem. So wie es aussieht fahre ich alleine. Wenn ihr mit mir die Fahrtkosten teilt wäre das fantastisch. „Klar. Machen wir“, antwortet Tanja. Am Abend ist Tsaya noch immer im Dorf. Der Jeepbesitzer kann ganz unerwartet aus irgendwelchen Gründen nicht fahren. Eine normale Situation in diesem Land. Was soeben noch Gültigkeit besitzt ist einen Augenblick später nicht mehr relevant. Versprechen, Abmachungen und Vereinbarungen wechseln wie der Pulsschlag und trotzdem ist in der Mongolei nahezu alles machbar. Deutsches Denken funktioniert hier nicht und wenn wir nicht in der Lage wären uns der unaufhörlichen Veränderung zu unterwerfen, würden wir mit hoher Wahrscheinlichkeit einfach durchdrehen. Geistige Beweglichkeit und bedingungslose Flexibilität werden uns seit Beginn der Reise erbarmungslos abverlangt.

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