Rasselnde Lungen – Pochende Herzen – Nicht enden wollende Steigung
N 35°23’54.1’’ E 109°06’44.9’’Datum:
27.11.2015 bis 28.11.2015
Tag: 152-153
Land:
China
Provinz:
Shaanxi
Ort:
Yijun
Breitengrad N:
35°23’54.1’’
Längengrad E:
109°06’44.9’’
Tageskilometer:
122 km
Gesamtkilometer:
11.232 km
Luftlinie:
71.40 km
Durchschnitts Geschwindigkeit:
21.6 km
Maximale Geschwindigkeit:
47.4 km
Fahrzeit:
5:37 Std.
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Maximale Höhe:
1.500 m
Gesamthöhenmeter:
12.898 m
Höhenmeter für den Tag:
1.500 m
Sonnenaufgang:
07:29 Uhr
Sonnenuntergang:
17:32 Uhr
Temperatur Tag max:
8 °C
Temperatur Tag min:
minus 4 °C
Aufbruch:
09:30 Uhr
Ankunftszeit:
18:00 Uhr
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
Schon früh treibt es uns aus der schrecklichen Unterkunft. Um 9:30 Uhr liegen die ersten Kilometer hinter uns. Kurz nach der Ortsgrenze erhebt sich das Qin-Ling-Gebirge erneut bis auf über 1.500 Meter. Unsere Muskeln sind sofort warm gefahren und der Boschmotor schenkt uns mit seiner Leistungsfähigkeit einen schnellen Aufstieg. Bei Temperaturen um die minus 4 Grad radeln wir wieder auf einer Art Hochdamm dahin, der sich über den Rücken des Gebirgszuges erstreckt. Bei blauen Himmel und klarer Sicht genießen wir die imposanten Schluchten, die sich links und recht von uns auftun. An den etwas breiteren Stellen wachsen Apfelbäume, die sich zu regelrechten Plantagen ausweiten, wenn sich die Berghänge nicht gerade 500 Meter in die Tiefe stürzen. Am Straßenrand sind kleine Stände errichtet an denen ihre Verkäufer frische, rotbackige Äpfel anbieten, die hier oben prächtig zu gedeihen scheinen. Wir halten an und kaufen uns ein paar der leckeren, süßen Früchte. Dann setzen wir unsere Fahrt fort. Seit wir das Qin-Ling-Gebirge überqueren, beschenkt uns Mutter Erde mit einer schönen, zum Großteil unzerstörten Natur.
Wir lassen unsere Räder gerade in eines der vielen Täler rollen als Tanjas Bremse schrecklich zu quietschen beginnt. Sofort halten wir an, um dem ungesunden Geräusch auf den Grund zu gehen. Weil ich die Ursache auf dem ersten Blick nicht gleich diagnostizieren kann, schieben wir unsere Roadtrains in ein an die Straße grenzendes Waldstück. „Wow“, entfährt es mir als ich feststelle, dass die Bremsbeläge total abgenutzt sind. „Du musst doch bemerkt haben dass die Bremsleistung nachgelassen hat?“, wundere ich mich. „Nö, hat alles prima funktioniert“, antwortet Tanja. „Hm, na gut das du keine Vollbremsung hinlegen musstest. Das wäre auf so einer Passstrecke fatal. Deine Rückbremse hatte null Bremswirkung mehr“, sage ich und setze neue Beläge ein.
Kaum haben wir unsere Talfahrt fortgesetzt als direkt vor Tanja ein Auto völlig unvermittelt von einem Parkplatz auf die Straße fährt. Ich höre nur noch wie Tanjas Reifen blockieren und sehe im Rückspiegel wie ihr Rad und Anhänger massiv schlingern. Sofort halte ich an. „Alles klar mit dir?“ „Puh, das war knapp. Dieser Vollidiot hat mich geschnitten. Hättest du nicht die Bremsbeläge getauscht, hätte es gekracht“, antwortet sie aufgeregt. Uns ist bewusst welch ein Glück Tanja gerade hatte und welch ein Glück es war nur Minuten vorher die Beläge erneuert zu haben. Oder war es kein Glück? War es Bestimmung? Göttlicher Schutz? Zufall? Darüber könnte man lange diskutieren. Fakt ist auf jeden Fall, aufkommende Probleme sofort im Keim zu ersticken. Vor allem die Bikes vor jeder Fahrt auf eventuell gelockerte Schrauben, Abnutzung oder technische Mängel zu untersuchen.
Die Sonne steht schon tief und taucht den Asphalt vor uns in ein goldenes Licht. Wir schrauben uns zum wiederholten Male über unzählige Serpentinen in ein Tal. Obwohl unser heutiges Ziel, das Städtchen Yijun, nur 71 km Luftlinie von unserem morgendlichen Startpunkt entfernt liegt, zeigt unser Bordcomputer bereits 120 zurückgelegte Tageskilometer und 1.500 Höhenmeter an. „Ob das dort vorne Yijun ist?“, fragt Tanja auf ein paar der typischen chinesischen Hochhäuser deutend, deren schwarzen, zackigen Silhouetten eine Bergspitze krönen. „Ich hoffe“, antworte ich heftig schnaufend, da es schon wieder nach oben geht. Bei völliger Dunkelheit erreichen wir die Stadt, die tatsächlich auf dem höchsten Punkt einer Bergkuppe errichtet wurde. Vor uns gabelt sich die Straße. „Links oder rechts?“, fragt Tanja. „Hm, wenn ich das wüsste“, antworte ich. „Was sagt dein Gefühl?“ „Tja, wenn es danach geht sollten wir rechts fahren aber der Koordinatenpunkt, den ich heute morgen ins GPS eingespeist habe, weist eindeutig nach links“, antworte ich weswegen wir uns daran halten und links abbiegen. „Zum Glück geht es hier bergab“, freut sich Tanja. „Zum Glück“, bestätige ich. Auf einmal hört die Straßenbeleuchtung auf. Es wird immer dunkler. „Ich kann nur hoffen, dass unsere Bleibe direkt an der Bundesstraße liegt“, meine ich auf die Lichter von Yijun blickend, die rechts, weit über unseren Köpfen, von der Bergspitze leuchten. Nach einem weiteren Kilometer werde ich stutzig. Laut GPS müsste die Unterkunft direkt hier sein. Weil wir aber immer ungenaue Koordinaten von den Hotels erhalten, kommt es vor, dass sich unser Übernachtungsplatz bis zu 500 m weit entfernt von seiner tatsächlichen Position befindet. Wenn man sich einen Kreis vorstellt, kann die Entfernung von Kreisrand zu Kreisrand sogar ein Kilometer betragen. Und ein Kilometer auf 360 Grad gesehen, ist ein großer Raum in dem sich ein Haus verstecken kann. Vor allem in einer dicht bebauten chinesischen Stadt. Nun, das ist nichts Neues auf unserer Reise. Yijun allerdings erstreckt sich über einen Bergrücken. Das erschwert unsere Suche ungemein. „Ich glaube wir müssen da rauf“, sage ich kleinlaut auf die Lichter über uns blickend, die uns schadenfroh anzugrinsen scheinen. „Du hättest auf dein Gefühl hören sollen.“ „Ja, ja, ich weiß, aber die Fakten sprachen dagegen“, verteidige ich mich und frage zur Sicherheit einen Passanten wo unser Hotel ist. „Nali“, (Dort) sagt er und deutet nach oben.
Vor uns zieht sich eine kleine Gasse in die Höhe. „Da kommt ihr mit euren Rädern nicht rauf“, verstehen wir den Mann, der uns erklärt noch weiter ins Tal zu fahren, um dann über eine Hauptstraße wieder in die Stadt zu gelangen. „Diese Straße hier ist viel zu steil. Das schaffe ich nie“, sagt Tanja auf die in der Dunkelheit verschwindende Gasse blickend. „Das schaffst du auf jedem Fall. Leg den ersten oder zweiten Gang ein und gib Vollgas. Dann kletterst du wie ein Bergsteiger nach oben. Der Boschmotor lässt dich nicht im Stich“, sage ich. „Ich hoffe du hast recht“, zweifelt Tanja. „Okay, auf mein Kommando!“, rufe ich. Da ich mich zu diesem Zeitpunkt müde und schlapp fühle versuche ich zuversichtlich zu klingen. Wir treten wie die Wilden in die Pedale und schrauben uns mit vier oder fünf km/h in die Höhe. Unsere Räder schwanken und Ajaci quietscht vor Vergnügen. Weil wir uns in einer Stadt befinden und nicht wollen dass er überfahren wird, muss er im Anhänger bleiben. Wir arbeiten uns Stück für Stück, Meter für Meter in die Höhe. Da der Anstieg von der Nacht regelrecht verschluckt wird ist sein Ende nicht in Sicht. Unsere Lunge rasselt, das Herz schlägt wie wild, es pumpt das Blut in die Adern, versorgt es mit dem nötigen Sauerstoff. Dann legt sich plötzlich eine Speed Bump, eine der unangenehmen Fahrbahnschwellen quer über die Straße. „Treten!“, brülle ich, um Tanja zu motivieren ihr schweres Rad über die Barriere zu manövrieren. Sollte der Speed Bump sie stoppen, gibt es bei dieser Steigung keine Chance für einen weiteren Start. Weil man hier nirgends das Rad abstellen oder dagegen lehnen kann, wäre ich gezwungen bis nach oben zu fahren, um dort mein wertvolles E-Bike unbeaufsichtigt stehen zu lassen. Dann müsste ich zu Tanja hinunter eilen, um mit ihr gemeinsam ihren Roadtrain nach oben zu schieben. Tanja meistert es aber über die heftigen Geschwindigkeitsbrecher, die sich jetzt alle 15 Meter über die Fahrbahn ziehen, ohne zum Stehen zu kommen. Unsere Muskeln laufen heiß, sind aber so gut trainiert, dass sie nicht übersäuern und dicht machen. Zum Glück kommt uns, über die sich dahin windende schmale Steigung, kein Fahrzeug entgegen. Wir schaffen es bis ganz nach oben. Völlig ausgepumpt stehen wir erstmal da und schnappen nach Luft. Dann finden wir die Kraft und klatschen siegesgewiss unsere rechten Hände gegeneinander. „Super“, sage ich. Tanja grinst. „Ja super“, antwortet sie. Nur 100 Meter von dem sich steil in die Höhe ziehende Sträßchen entfernt befindet sich unser Hotel. Das Personal öffnet die Flügeltür und wir dürfen zum ersten Mal auf dieser Reise unsere Räder in kompletter Beladung inklusive Anhänger in die Lobby rollen. Erst drinnen, in der behaglichen Wärme, beginnen wir mit dem Entladen. Flinke Hände helfen uns die vielen Taschen ins Zimmer zu tragen. Leider riecht es dort wieder nach Verfaultem aber das ist uns an diesem Abend egal. Weil die Matratzen bretthart sind blase ich meine Isomatte auf, um sie aufs Bett zulegen. „Weiß nicht wie du auf so einem unbequemen Ding schlafen kannst?“, wundere ich mich. „Zu weiche Matratzen sind nichts für mich“, ist Tanjas trockene Antwort. Um mir nicht das Steißbein zu verstauchen setze ich mich vorsichtig auf ihr Nachtlager und bin bass erstaunt darin nahezu zu versinken. „Man, deine Matratze ist ja butterweich. Von wegen weiche Matratzen sind nichts für dich“, sage ich und stelle daraufhin fest, dass auf meiner Seite ein Brett eingezogen wurde, um das alte durchgelegene Unterbett weiter nutzen zu können. „Ha, ha, ha, habe mich schon gewundert warum du dich über die Härte beschwert hast“, prustet Tanja vor Lachen.
Am nächsten Morgen wache ich mit Halsschmerzen und Kopfweh auf. Vielleicht habe ich mich in der kalten Unterkunft in Yan’an verkühlt? Oder liegt es an der Überanstrengung des gestrigen Tages? Wir entscheiden uns einen Tag auszuruhen. Ich sitze in meinem Klappstuhl und schreibe über unsere Erlebnisse als plötzlich die Heizung ausfällt und es ungemütlich kalt wird. An der Rezeption erklärt man uns in diesem Haus nur nachts zu heizen. Frierend verbringe ich die Stunden beim Schreiben. Sicherlich nicht gut für meine Erkältung…
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