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Russland/Kutulik Link zum Tagebuch TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 4

Priester und heiliges Wasser

N 53°20'20.0'' E 102°47'57.0''
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    Tag: 40

    Sonnenaufgang:
    06:11 Uhr

    Sonnenuntergang:
    22:11 Uhr

    Gesamtkilometer:
    11803.11 Km

    Temperatur – Tag (Maximum):
    20 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    17 °C

    Temperatur – Nacht:
    16 °C

    Breitengrad:
    53°20’20.0“

    Längengrad:
    102°47’57.0“

Der Morgen empfängt uns mit starkem Regen. “Wir sollten fragen ob wir eine Nacht länger bleiben dürfen”, sage ich zu Tanja. Dann klettern wir die Hühnerleiter wieder nach unten in die Küche. Es riecht nach frisch gebackenem Brot und Pfannkuchen. “Hmmm ist das lecker”, lobt Tanja, worauf Elya und ihre Mutter Sonya wieder herzhaft lachen. “Ohhh, die besten Pfannkuchen ganz Russlands”, lobe ich, worauf erneut das herzhafte Gelächter ausbricht. “Ihr könnt gerne noch eine Nacht bleiben. Wir freuen uns wenn es euch gefällt. Wenn ihr wollt zeige ich euch heute unsere Kirche und unser kleines Museum”, bietet uns Nikolai freudig an. Obwohl wir uns eigentlich gerne etwas ausruhen wollen und am besten mal alle Viere von uns strecken würden, sagen wir zu. “Nein, ihr benötigt keine Schuhe. Ist nicht weit. Nur ein paar Häuserblocks von hier”, sagt Nikolai, als er sieht wie wir unsere Schuhe anziehen. Aus Erfahrung behalten wir unsere Schuhe an und steigen in sein Auto. Diesmal kein Lada sonder ein moderner Nissan. “Der Lada ist mein Geschäftswagen”, erklärt Nikolai.

Leider hat das Museum heute am Samstag geschlossen. “Schade, ich hätte euch zu gerne die Wohnstätte einer unserer berühmten russischen Schriftsteller gezeigt, der hier in Kutulik geboren wurde und lebte”, sagt Nikolai. Dann halten wir vor einem völlig baufälligen Gebäude, welches sich als die Kirche des Ortes herausstellt. Sofort werden wir von Vater Andrej herzlich empfangen. “Sprechen sie englisch?”, fragt der junge Pater. “Ja”, antworte ich. “Das ist ja wunderbar”, entgegnet er weiter in englischer Sprache und lädt uns ein das Gotteshaus zu betreten. “Wir sind im Begriff diese Kirche wieder zu renovieren. Nach der Russischen Revolution von 1917 wurde die Kirche als öffentliches Kino missbraucht. Der Kirchturm wurde geschliffen”, erklärt Vater Andrej uns ein altes Foto zeigend wie die Kirche einst ausgesehen hatte. Im Inneren ist die Kirche im gleichen desolaten Zustand wie außen. Überall blättert der Putz von den Wänden. Die Decke ist kurz vor dem Durchbrechen. Baumaterial liegt gestapelt herum und wartet darauf eingesetzt zu werden. Ein provisorisch aufgestellter Altar, ein alter Holztisch und ein paar Stühle verraten, dass das Gotteshaus wieder in Betrieb ist. In einem kleinen Nebentrakt ist bereits renoviert worden. Ein paar Ikonen verzieren die Wände. Stolz zeigt uns der Geistliche eine Reihe von Büchern und Bildnissen. “Das ist ein besonderes Stück. Es kommt von Athos, der eigenständigen Mönchsrepublik in Griechenland. Kennt ihr den heiligen Berg Athos?”, fragt er. “Ja, ich war dort bereits 1991 für 10 Tage unterwegs. Nur ein paar Wochen vorher hat unsere lebenslange Reise begonnen. Athos war sozusagen der Auftakt unserer großen Reise”, antworte ich mich freuend hier in Sibirien auf Artefakte des heiligen Berges zu treffen. “Diese Ikone ist die einzige die die Revolution überlebt hat”, meint Vater Andrej und zeigt uns die Inschrift auf der Rückseite. Dann holt er sein heiliges Buch aus dem er seine Predigten liest. “Das wurde von einer reichen Sibirierin gespendet. Zur Erinnerung an sie habe ich auf der letzten Seite ihren Namen eintragen lassen. Es ist sehr wertvoll. Die goldene Farbe ist natürlich nicht echt. Aber es ist trotzdem wertvoll”, erklärt er uns auch diesen Schatz zeigend.

“Wollt ihr mit mir Tee trinken?”, fragt er. “Gerne”, antworten wir und folgen ihm zu einer weiteren, bereits hergerichteten Kammer. Kaum treten wir ein, decken vier Frauen für uns den Tisch, stellen einen Teller mit süßem Gebäck und Schokolade darauf und bieten uns einen Platz auf dem Sofa an. “Und ihr möchtet zum Baikal? Wisst ihr schon wohin genau?”, interessiert es den Pater. “Wir haben uns noch keine Gedanke gemacht”, antworte ich. “Oh ihr müsst unbedingt auf die Insel Olchon. Es ist die größte Insel im Baikal mit Bergen von bis zu 1276 Meter Höhe. Ihr habt nur dann den Baikal gesehen wenn ihr auf Olchon wart. Ich habe dort eine Bekannte. Sie heißt Simone. Sie ist Deutsche. Wartet ich rufe sie gleich mal an”, sagt er ohne auf eine Antwort von uns zu warten. Nur Minuten später unterhalte ich mich mit Simone über das Mobiltelefon von Vater Andrej. “Ihr könnt gerne zu uns kommen. Wir besitzen einen Garten in dem ihr auch euer Zelt aufstellen dürft”, bietet sie uns an. Später erfahren wir, dass die Insel 250 Kilometer abseits unserer Route liegt und der Weg dorthin beschwerlich sein soll. “Vielleicht können wir mit der Fähre dahin gelangen?”, überlege ich. “Ist eine gute Idee”, bestätigt Tanja. Wir beschließen die genauere Planung, ob wir diese Insel aufsuchen oder nicht, auf später zu verlegen.

Nachdem Teetrinken führt uns der Vater durch den Gemüsegarten. Er bückt sich, bricht zwei Paprikaschoten ab und reicht sie mir. “Die esst ihr wenn ihr wieder Zuhause seid. Dann denkt ihr an mich und diese Kirche”, sagt er.“Es gibt nicht weit weg von hier eine heilige Quelle. Wollt ihr sie sehen? Dann könnt ihr in dem heiligen Wasser baden und davon trinken”, wechselt er spontan das Thema. Da sich die plötzlichen und unvorhergesehenen Programmpunkte des heutigen Tages schneller ändern als uns lieb ist überlegen wir einen Augenblick. “Ist nur 10 Kilometer weit und bestimmt interessant”, hilft uns Andrej eine Entscheidung zu finden. “Okay”, sagen wir trotz unserer Müdigkeit zu. Schnell werden wir wieder ins Auto von Nikolai verfrachtet und verlassen Kutulik. Kaum liegt das 6.000 Selendorf hinter uns, lässt Vater Andrej Nikolai kurz anhalten. “Schaut euch die schöne Landschaft an. Da musst du ein Foto schießen”, schlägt er vor. Wir steigen aus, ich fotografiere und weiter geht es. In einem kleinen Dorf halten wir vor einer alten, heruntergekommenen Holzbaracke. “Bitte, ich möchte euch etwas zeigen”, fordert uns der Gottesmann auf auszusteigen. Er führt uns in die ärmliche Bleibe. Zwei Männer kommen aus dem Haus und lassen sich, vor dem Vater verbeugend, den Segen geben. “Das hier sind Birkenzweige die wir zusammenbinden. Sie werden in der Banja benutzt, um sich damit auf den Körper zu schlagen, um die Durchblutung anzuregen”, erklärt der Vater auf die vielen Bündel deutend, die über einer Schnur zum trocknen aufgehängt wurden.

Kaum hat seine Erklärung beendet, folgen wir ihm in das furchtbar arme Haus, welches alles was wir bisher an Armut in Sibirien gesehen haben in den Schatten stellt. Hier gibt es keine Teppiche auf dem Holzboden. Unterm eisernen Bettgestell liegt einfaches Stroh. Die Kleidung baumelt an rostigen Nägeln die in die Holzwand geschlagen wurden. Im Wohnzimmer hängen ein paar vergilbte orthodoxe Heilige an der Wand und blicken uns aus ihren Bilderrahmen traurig an. In der Küche steht ein kleiner elektrischer Backofen, in dem eine alte Frau namens Valentina gerade ein Blech voll Teigrollen bäckt. “Setzt euch”, bittet uns Vater Andrej auf. Kaum haben wir uns in der Küche auf die Holzbank niedergelassen, holt die alte Frau seufzend und zugleich gütig lächelnd zwei Teebeutel aus einer Schachtel. Es sind die Letzten. “Alles für unsere Gäste”, sagt Vater Andrej ebenfalls gütig lächelnd. Ich sitze da und weiß nicht wie mir geschieht. Wieder fühlen wir uns wie in einem unechten Film als echte Schauspieler. Dann ist das Gebäck fertig. Sofort holt Valentina das heiße Blech heraus und legt uns einen ganzen Berg von leckeren dampfenden Teigtaschen auf einen Teller. “Kuschet, kuschet”, (“Esst, esst”) fordert sie uns sanftmütig auf davon zu nehmen. Wir haben große Schwierigkeiten den armen Leuten auch noch ihre Süßspeisen wegzuessen. Und doch wäre eine Ablehnung eine große Beleidigung. “Wie kann es angehen das einem die Ärmsten der Armen noch ihr letztes Hemd anbieten, während wir Reichen oftmals so unbeschreiblich geizig sind?”, geht es mir durch den Kopf. “Wenn du möchtest schreib ich dir das Rezept auf?”, fragt Valentina warmherzig lächelnd. “Aber gerne. Es schmeckt wirklich vorzüglich”, antwortet Tanja, worauf die alte Frau die Backanleitung für Tanja auf einen alten Zettel kritzelt. Andrej erklärt uns, dass diese alte Hütte zur Kirche gehört und ein Aufenthaltsort für Drogensüchtige ist die wieder in das normale Leben wollen. “Bisher können wir uns noch kein besseres Rehabilitationshaus leisten”, meint er entschuldigend.

Als wir wieder vor der Baracke stehen wartet ein dicker Toyotajeep auf uns. “Nikolai kann wegen den schlechten Pfaden mit seinem Auto nicht zur Quelle”, erklärt Vater Andrej und bitte uns in das 100.000 Euro teure Wunderwerk der Technik einzusteigen. “Mein Name ist Dimitri”, stellt sich der Besitzer des Wagens vor. Er ist Geschäftsmann und handelt mit Soja, berichtet er während der Fahrt. “Ich bin öfter in China, um das Sojageschäft mit Sibirien anzukurbeln”, verstehe ich. Der Toyota verlässt die Lehmpiste und folgt nun einem matschigen Pfad. Gebannt sitzen wir in dem Geländewagen und können kaum glauben das wir uns ohne Vorwarnung im schwierigsten Terrain befinden. Auf schlammigen, lehmigen Untergrund geht es schlingernd steil bergauf, an Seen und Flüssen vorbei, durch dichte Wälder, Über Äste und Geröll, über Felder und Wiesen bis wir irgendwo in der von Nikolai beschriebenen Sibirischen Zivilisation halten. Ohne Worte zu verlieren steigen Vater Andrej und Dimitri aus. Wir folgen ihnen und wandern jetzt über eine grüne, mit Blumen bewachsene Märchenwiese. Wilde Walderdbeeren gedeihen unter unseren Füßen. Dimitri und Andrej bücken sich, um davon zu essen. Wir tun es ihnen nach. Dann geht es weiter, wieder einen Hügel hinab und plötzlich stehen wir vor einem unscheinbaren kleinen Wasserbecken. “Hier ist die Quelle”, erklärt der Pater. Wir trinken einen Schluck, benetzen unseren Kopf mit dem kühlen, reinen Wasser und Dimitri füllt das heilige Nass in zwei große Plastikflaschen. Auf dem Rückweg denke ich über den eigenwilligen aber sehr interessanten Tag nach, jedoch ist er noch nicht zu ende.

Kaum sind wir wieder im Dorf hat Nikolai die Frau ausfindig gemacht die den Schlüssel zum örtlichen Museum hütet. “Dobre Wejtscher”, (“Guten Abend”) begrüßt uns die alte Dame freundlich und beginnt mit voller Leidenschaft uns über ihre Heimat, den Traditionen und alles was ihre Region so hergibt zu erzählen. Es gibt nicht besonders viel zu sehen aber alles ist liebevoll dekoriert. Kinder haben ihre Bastelsachen ausgestellt. Es gibt ein paar alte Truhen, Teekannen, Instrumente eines hier geborenen Musikers, viele Fotos usw. Dann kommen wir in die Räume des Schriftstellers Alexander Wampilow. Hier geht das Herz der Museumsleiterin richtig auf. “Er ist im Alter von 35 Jahren beim Angeln im Baikalsee ertrunken. Das Ruderboot ist gegen einen schwimmenden Baumstamm gestoßen und umgekippt. Wampilow hat es noch geschafft seinen Freund zu retten, ist aber beim Schwimmen zum Ufer gestorben. Wahrscheinlich an Unterkühlung”, erklärt sie traurig, denn sie kannte die Mutter des jungen Mannes.

Am Ende stellen wir uns für ein gemeinsames Porträt auf, welches einen Platz im Buch der Besucher bekommen soll. Dann verabschieden wir uns und fahren wieder zum Haus von Nikolais Schwester. Es regnet Wolkenbruchartig als wir aus dem Auto ins Haus rennen. Ich halte meine Leica schützend unter die Jacke. Als wir das Haus erreichen, fällt sie herunter und knallt auf dem Holzboden. Erschrocken hebe ich sie wieder auf und frage mich wie mir so etwas passieren kann. Ich schieße ein paar Testbilder und bin erleichtert. Sie funktioniert fehlerfrei. Dann gibt es Abendessen. Obwohl Elya den ganzen Tag für uns übersetzt hat, wird sie nicht müde und übersetzt weiterhin ihrer Mutter und Nikolai bis in die Nacht alle Gespräche. Als wir dann ins Bett der Großeltern fallen, sehnen wir uns nach ein paar Tagen der Ruhe. Tage in denen wir uns nichts ansehen, in denen wir nicht Kommunizieren müssen, sondern nur ruhen dürfen. Aber, was ist schon eine Reise ohne die Menschen, ohne Gastfreundschaft und Kommunikation? Wir sind froh von dem zuvorkommenden Nikolai und seiner gastfreundschaftlichen Familie eingeladen worden zu sein. Wir sind froh einen kleinen Einblick in das Haus und die Lebensweise einer burjatischen Familie bekommen zu haben.

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