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Russland/Kutulik Link zum Tagebuch TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 4

Auf die Gefühle hören!

N 53°20'20.0'' E 102°47'57.0''
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    Tag: 41

    Sonnenaufgang:
    06:13 Uhr

    Sonnenuntergang:
    22:10 Uhr

    Gesamtkilometer:
    11803.11 Km

    Temperatur – Tag (Maximum):
    20 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    14 °C

    Temperatur – Nacht:
    12 °C

    Breitengrad:
    53°20’20.0“

    Längengrad:
    102°47’57.0“

Deprimierender könnte ein Blick aus dem Fenster kaum sein. Es regnet in Sturzbächen. Der Wind heult und bläst ums Haus. Das Thermometer ist auf 12 Grad gefallen. An ein Weiterfahren ist unter solchen Umständen nicht zu denken. Ist er das? Der Winteranfang im Juli? Eigentlich unmöglich. Und doch? Wer weiß? Wir sind hier in Sibirien. Ein Land mit extremem Wetter. Eines der bedingungslosesten Witterungen unserer Mutter Erde. Heute Nacht musste ich fünfmal raus, um das Plumpsklo aufzusuchen. Nicht das dieses Toilettenhäuschen hier ekelhaft ist. Nein, ganz im Gegenteil ist es sehr gepflegt und der Abstand zu den Exkrementen beträgt mindestens zwei Meter. Und trotzdem ist es unangenehm nachts raus zu müssen, um bei Regen zum Häuschen zu laufen. Ich war jedes Mal durchnässt als ich wieder ins Bett geschlüpft bin. Im Winter, bei minus 40 oder 50 Grad, muss das eine echte Herausforderung sein. Wie auch immer knabbert der kalte Regen und der ums Haus pfeifende Sturm an meiner Moral. Noch ist es weit und ich hoffe nicht, dass sich dieser Trip zu einer Durchschlagephase entwickelt.

Ich stehe auf, setze mich in meinen Campstuhl und schreibe über die vergangenen Tage. Es ist bereits 12:30 Uhr und in der Küche unter uns tut sich noch nichts. Mein Magen knurrt laut vor Hunger. Wären wir hier nicht Gäste, würde ich einfach an unseren Anhänger gehen und mir etwas zu Essen holen. Jedoch möchte ich nicht, dass mich dabei unsere Gastgeber erwischen. Das könnte auf sie unhöflich wirken.

Tanja sitzt neben mir im Bett und liest ein Buch. Auch sie versteht nicht warum uns keiner zum Frühstücken ruft. “Ob wir hier nicht mehr willkommen sind?”, frage ich. “Hm, wer weiß? Kann ich mir aber nicht vorstellen. Vielleicht möchten sie uns am Sonntag nicht stören?”, antwortet Tanja den Regen beobachtend und überlegt; “Wie sagt man bei uns Zuhause? Ein Gast der länger als drei Tage bleibt fängt zu stinken an wie ein Fisch.” “Aber, wir sind hier erst den dritten Tag. Das wäre ein bisschen früh. Vielleicht ist es bei den Burjaten so üblich am Sonntag kein Frühstück einzunehmen?” entgegne ich. “Ich weiß nicht. Ich glaube sie haben drüben im Winterhaus gegessen. Ich habe gehört wie jemand etwas geholt hat. Aber riechst du das nicht? Irgendetwas Leckeres bäckt im Ofen?”, meint Tanja, worauf ich tatsächlich den phantastischen Duft von frischem Brot wahrnehme. “Wir sollten morgen auf jeden Fall aufbrechen. Ob es regnet oder nicht”, überlege ich weiterhin. “Ja, ich möchte unter keinen Umständen die Gastfreundschaft ausnutzen.” “Ich auch nicht”, sage ich und versuche mich trotz meines knurrenden Magens zu konzentrieren und ein paar Zeilen zu schreiben.

Es ist 14:00 Uhr und noch immer still unter uns. Als Radfahrer verbrennt der Körper seine Nahrung schnell. Auch in den Ruhetagen muss man ihn ständig füttern. Mein Hunger steigert sich dementsprechend ins Unerträgliche. Ich denke über die Gastfreundschaft und unterschiedlichen Sitten und Gebräuche der verschiedenen Völker nach. Kleine Gesten und Handlungen können Menschen einer anderen Kultur verunsichern, ja sogar beleidigen. Im Laufe der letzten 290.000 Reisekilometer haben wir diesbezüglich viel gelernt. Wir sind hoch sensibel und aufmerksam geworden und achten darauf den geringsten Verhaltensfehler zu vermeiden. Und doch ist jede Situation wieder anders. Trotz einiger Grundregeln gibt es Nuancen der Unterschiede. Und manchmal macht man einen groben Fehler ohne es nur zu erahnen. In extremen Fällen können solche Fehler tödlich gefährlich sein. Ich erinnere mich da an Pakistan als Tanja und ich mit unseren Kamelen durch die Dörfer ritten. Um jedes Haus war eine zwei Meter hohe Lehmmauer herumgezogen. Als Reiter konnte ich über die Mauer in die Höfe sehen und etwas von dem Familienleben erhaschen. Ich dachte nicht daran, dass ich als Fremder unter keinen Umständen unverschleierte Frauen zu Gesicht bekommen darf. Vor allem dachte ich nicht daran, dass diese Tat ausreichen konnte, um mich an den nächsten Masten zu hängen. Zum Glück hat mich ein Pakistaner aufgeklärt. Ab diesem Zeitpunkt bin ich vor jeder Mauer vom Kamel gestiegen, während Tanja im Sattel sitzen bleiben durfte. Wir erlebten ungezählte eigenwillige, für uns zum Teil nicht nachvollziehbare Gebräuche und ganze Netzwerke von komplizierten Regelwerken.

Obwohl der Blick über eine Lehmmauer in einem pakistanischen Dorf nichts mit dieser Situation hier bei unserer burjatischen Familie zu tun hat und wir hier nicht im Geringsten gefährdet sind, ist es trotzdem angesagt darüber nachzudenken warum wir auf einmal nichts mehr zu essen bekommen. “Sind wir nach zwei Tagen wirklich schon zu lange da? Aber Nikolai hat uns ausdrücklich darum gebeten länger zu bleiben. Allerdings ist dieses Haus nicht das seine. Es gehört den Großeltern und seine Schwester muss für uns sorgen. Vielleicht liegt es an Sonya? Vielleicht ist es ihr zuviel? An den Kosten kann es nicht liegen. Wir hatten gestern im Lebensmittelgeschäft reichlich eingekauft, um einen Ausgleich zu schaffen. Tanja hat Elya hübsche Ohrringe geschenkt und Sonya ein Cremeset fürs Gesicht. Kleine Gastgeschenke die wir für solche Fälle immer im Gepäck haben. Hm, was ist nur der Grund”, plagt es meine Gehirnwindungen. “Tanja! Denis! Essen kommen”, ruft Elya plötzlich und unterbricht meine Gedanken. “Oh, super!”, antworte ich, springe auf und klettere mit Tanja die Hühnerleiter nach unten. Es ist 14:30 Uhr als wir mit Suup lapscha, (selbst gemachte traditionelle Nudelsuppe) frisch gebackenem Brot und Pfannkuchen unseren Hunger stillen dürfen.

“Haben wir uns jetzt alles nur eingebildet?”, geht es mir wieder durch den Kopf. “Hör auf deine Gefühle. Sie sind nie umsonst. Du hast doch darüber geschrieben eure Sensibilität im Laufe eurer Reisejahre weiterentwickelt zu haben. Gefühle sind kein Zufall. Gefühle sind Sprache ohne Laut. Nicht immer das was Laut ist, was Lärm macht entspricht der Wahrheit. Manchmal sind es die leisen Stimmen, die Gesten, die Mimik, ein Augenzwinkern oder ein Gefühl, die dich warnen. Manchmal ist es deine innere Stimme die dir erzählt was richtig und was falsch für dich ist. Das weißt du ganz genau. Also höre darauf. Höre in dieser lauten Welt auf deine Gefühle. Nehme sie ernst. Dann wirst du immer das Richtige tun. Das weißt du. Ich muss dich diesbezüglich nicht überzeugen”, höre ich auf dieser Reise zum ersten Mal Mutter Erde zu mir sprechen.

Was es mit den Gesprächen mit Mutter Erde auf sich hat

Für die Leser, die erst seit kurzem unsere Reisen verfolgen, möchte ich an dieser Stelle erklären wie es zu den Gesprächen mit der Mutter Erde gekommen ist. Seit unserem 7.000 Kilometer Marsch durch den Australischen Kontinent habe ich immer wieder einmal mit Mutter Erde kommuniziert. Erst war es eine kaum wahrnehmbare Stimme. Im Laufe des drei Jahre langen Marsches durch die Wüsten wurde sie lauter und irgendwann konnte ich sie nicht mehr ignorieren. Mir wurde klar, dass diese Gespräche einen ganz realen Hintergrund hatten. Immer wenn es mir besonders schlecht geht oder ich große Probleme wälze kommt diese Stimme. Immer außer in Deutschland. Seltsam. Vielleicht sind meine Herausforderungen in Deutschland anderer Natur. Vielleicht habe ich in meiner Heimat nicht den Zugang zu ihr, zu Mutter Erde. Wer weiß? Auf manchen Reisen gab es sehr häufig diese Gespräche, die sich in meinem Kopf abspulen. Hier in Sibirien war die Stimme von Mutter Erde bisher nicht zu vernehmen. Vielleicht habe ich schon das eine oder andere gelernt? Mein Leben ist leichter geworden. Ich nehme so Manches nicht mehr als zu ernst. Das könnte der Grund dafür sein das ich mittlerweile Mutter Erde nur sehr selten höre, denn sie trat bisher immer als Helfer auf. Nie gab es ein Gespräch zum reinen Vergnügen. Wer weiß ob dieser Augenblick des kurzen Austausches der Einzige während unserer Sibirienreise bleibt. Das ist abzuwarten. Fakt ist auf jeden Fall, dass wir morgen wieder unsere Räder gen Südosten drehen lassen werden. Auf zu neuen Erlebnissen, Erfahrungen und Geschichten die das Leben schreibt.

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