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Mongolei/Vor Mörön Camp MONGOLEI EXPEDITION - Die Online-Tagebücher Jahr 2011

Naadam, das Fest der Feste

N 49°42'773'' E 100°11'497''
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    Tag: 352-353

    Sonnenaufgang:
    05:23/05:24

    Sonnenuntergang:
    21:26/21:25

    Gesamtkilometer:
    1722

    Bodenbeschaffenheit:
    Gras

    Temperatur – Tag (Maximum):
    29°C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    20 °C

    Temperatur – Nacht:
    10 °C

    Breitengrad:
    49°42’773“

    Längengrad:
    100°11’497“

    Maximale Höhe:
    1492 m über dem Meer

    Aufbruchzeit:
    9:30

    Ankunftszeit:
    19:00

Ich habe Glück. Rezindorj bringt tatsächlich Milch in die Stadt und bietet mir an mich mitzunehmen. Ich schultere mein Stativtasche, packe die Videokamera, Fotokamera, Wechselobjektive, sowie eine Flasche Wasser und eine Regenjacke in meinen Rucksack. Dann steige ich hinter Rezindorj auf den schmalen Sitz des betagten, chinesischen Mopeds. Weil zwischen mir und dem Fahrer kein Platz für das Stativ vorhanden ist klemme ich es irgendwie unter den rechten Arm. „Bis heute Abend!“, ruft Tanja mir hinterherwinkend. „Bis heute Aaaa…!“ antworte ich als mir wegen der verrenkten Sitzhaltung auch schon ein schrecklicher Krampf in den Oberschenkel fährt, der mir schlichtweg die Stimme raubt. Weil auf dem Gepäckträger ein Kanister mit ca. 20 Liter Milch verschnürt ist schiebt es mir den schweren Rucksack ins Genick. Da der aber nicht gerade, sondern schief aufsitzt, bin ich gezwungen mit meinem Körper dagegenzuhalten. Meine Füße ruhen auf abgenutzten, glatten Trittbrettchen. Wegen den sechs 2,5 Liter großen Bierflaschen, die wie Satteltaschen links und rechts an den Rahmen des Mopeds gebunden sind, werden meine Beine nach vorne gedrückt. Trotzdem zwingt mich dieser schreckliche Krampf dazu mein Körpergewicht nach oben zu drücken, um eine andere Position einnehmen zu können. Der Versuch mich hoch zu stemmen scheitert kläglich. Das Einzige was geschieht ist fast von den Trittbrettchen zu rutschen. Mit echten Schmerzen lasse ich mich wieder auf den Sitz plumpsen. Die Folge: Rezindorj kann seinen Bock nur durch eine ausgleichende Lenkbewegung in der gewünschten Fahrtrichtung halten. „Es wird schon vorbeigehen“, geht es mir durch den Kopf und versuche meinen Krampf mental unter Kontrolle zu bringen.

Das knatternde, sicherlich überladene Gefährt holpert über die Grasnarben. Wegen den Bodenunebenheiten und tiefen Mulden versagen die Stoßdämpfer. Das Hinterrad schabt unangenehm laut gegen das Schutzblech. Mein Unterkörper gleitet auf der mit glattem Plastik überzogenen Sitzbank nach vorne, so das mein Geschlecht an Renzindorjs Hintern rutscht und mir das Staiv fast aus den Händen gleitet. „Oh man das halte ich nicht aus“, murmle ich. „Ist die Milch okay?“, flattert Renzindorjs Frage an meine Ohren. „Aber ja. Alles in Ordnung!“, antworte ich den Kanister hinter mir befummelnd. „Die Milch in den Flaschen auch?“ „Ah, dachte da ist Bier drin“, antworte ich worauf Renzindorj herzhaft lacht. „Die Flaschen sind auch okay!“, antworte ich dann und würde ihn am liebsten noch warnen das sein Fahrgast aber bald aus dem Sattel kippt. Einige Minuten später gibt der Krampf endlich auf, liegt allerdings wie ein Raubtier zum Sprung auf der Lauer, um den Oberschenkel jeden Augenblick erneut anzufallen. Mittlerweile ist der Rücken völlig verbogen. Krampfhaft klammern sich die Hände am Gepäckträger fest. Ab und zu wage ich es den Körper etwas zu erheben, um das gequetschtes Geschlecht vom Hintern meines Fahrers zu entfernen. Wegen der Gefahr von den Trittbrettchen zu rutschen ist es ratsam dies zu unterlassen. Nach knapp 20 Minuten tauchen die ersten Holzhütten von Mörön auf. Zähne zusammenbeißend sehne ich mich nach dem Ende dieser Tortour.

Am Ortsrand von Mörön haben sich traditionell gekleidete Reiter und ihre Pferde versammelt. „Beginnt hier das Rennen?“, frage ich Rezindorj, verstehe aber seine Antwort nicht. Über die staubigen Erdpisten der Stadt erreichen wir ein Holzhaus. Die Bremsen der zweirädrigen Kiste quietschen laut. „Hier wohnt meine Familie“, sagt Rezindorj. Ich verstehe. Hier endet die Fahrt. Stocksteif versuche ich von der Sitzbank zu steigen. Weil die Füße eingeschlafen sind falle ich fast aus dem Sattel. Rinzindorj lacht. „Meine Beine sind eingeschlafen“, versuche ich zu erklären. Dann frage ich wo hier das Naadam beginnt. „Dort“, sagt er und deutet in die Stadtmitte. „Am besten du fragst einen Minibusfahrer“, verstehe ich. „Bairlalaa. Daraa bajartaj“, (Danke Auf Wiedersehen) bedanke und verabschiede ich mich. Keinen Plan habend wo das heutige Pferderennen beginnt laufe ich etwas verloren die staubige Piste entlang. Es ist jetzt kurz vor 10:00 Uhr. Das Einzige was ich weiß ist, dass das Pferderennen um diese Zeit bereits begonnen hat. Um zum Startplatz zu gelangen, der nach Angaben ca. 15 Kilometer von hier entfernt sein muss, ist es jetzt zu spät. Vielleicht war es eine Schnapsidee ohne die Begleitung und Hilfe eines Einheimischen das Naadam beobachten zu können? Ich besitze keinen Stadtplan, kein Programmheft, nichts. Wie auch, komme ja gerade erst aus der Taiga. Nichtmal Saraa kann ich fragen da sie telefonisch nicht erreichbar ist. Etwas verzweifelt gehe ich in ein Lebensmittelgeschäft. Obwohl es nur ein winziger Supermarkt ist bestaune ich die Regale mit ihrem für Taigaverhältnisse reichhaltigen Angebot. Aus der Kühltruhe lacht mir ein Eis am Stiel entgegen. An der Kasse zahlend fragt der Mann das übliche Woher und Wohin. „Wo kommen die Pferde an?“, versuche ich mein Mongolisch. Da in der Taiga aber Dialekt gesprochen wird versteht der Mann mich kaum. Dann deutet er in eine Richtung. Mich bedankend verlasse ich den Laden, öffne die Tüte und beiße in mein Eis. Dabei fällt die Hälfte in den Staub. „Selbst das Eis taugt nichts“, fluche ich, die Schuld dem Hersteller gebend. „Tja, was nun? Eigentlich hätte ich gute Lust wieder in unser Camp zu gehen. Aber wie?“ Einem Impuls folgend laufe ich zum Ortsrand, dorthin wo sich die Reiter versammelt haben.

Nach drei Kilometern erreiche ich die Reiteransammlung und frage ob hier das Ziel des Naadamrennens ist. „Tijmee“, antworten einige Männer. „Wann kommen die Reiter ins Ziel?“, frage ich darauf hoffend den Ziellauf nicht versäumt zu haben. „Bald.“ Weil Mörön mit knapp 40.000 Einwohner einer der großen Städte der Mongolei ist wundere ich mich hier kaum Menschen zu sehen. Wenn die Wettkampfteilnehmer jeden Moment einlaufen, müssten doch hunderte von Zuschauern hier sein? Meinen Blick über das weite Tal gleiten lassend fällt mir ein großes, quadratisches Zelt auf. „Dort ist es“, vermute ich mich auf den Weg machend. Eine blau, weiß, rot gestreifte Plastikplane wurde als Zaun errichtet. Einige wenige Mongolen stehen tatsächlich da und scheinen zu warten. „Kommen hier die Reiter an?“, möchte ich erneut wissen, um sicher zu gehen. „Tijmee“, ist die Bestätigung. Ich klettere über den Zaun und laufe zu dem Zelt. „Sitzt hier die Jury?“ ist meine Frage an die Männer im Zelt. „Tijmee. Magst du Airag?“, bietet mir ein freundlicher, älterer, in traditionellem Deel gekleideter Mann sofort an. Da es in der Mongolei sehr unhöflich ist Angebotenes abzulehnen, ich aber von gegorener Stutenmilch Durchfall bekomme, erkläre ich begleitend von Geräuschen und Handbewegungen: „Airag schmeckt gut. Vielen Dank. Bei mir aber asuudal dsaahan.“ (Bisschen Problem). Die Anwesenden brechen daraufhin vor Lachen fast zusammen. Das ist Eis ist gebrochen. „Setze dich doch zu uns“, wird mir unter dem schattenspendenden Dach des Zeltes auf einen bunten Teppich ein Platz angeboten.

Wieder erkläre ich woher wir kommen, vom Leben mit den Tuwa, von dem gestohlenen Pferd in der Taiga und von dem Plan nach Erdenet reiten zu wollen. Meine Erklärung wird nun unaufhörlich weitergegeben. Ständig gesellen sich mehr Menschen hinzu, setzten sich auf den Teppich und fragen woher der Ausländer kommt. Nun bald im Chor wird meine Geschichte wiederholt. Eigenartig ist das alle lachen wenn es um das gestohlene Pferd geht.

Ich nutze die Zeit, um das Stativ aufzustellen und die Kamera darauf festzuklicken. Ein Betrunkener lässt sich neben mir auf dem Teppich nieder. Plötzlich liegt sein Arm auf meinen Schultern, dann küsst er mich auf die Wange und zeigt mir immer wieder den nach oben gestreckten Daumen. „Lass den Mann in Ruhe!“, schimpft ein Polizist der ebenfalls unter dem Dach sitzt. Sofort nimmt der Mann seine Finger von mir und entschuldigt sich unterwürfig. Ich bedanke mich bei dem Gesetzeshüter.

In der Zwischenzeit haben sich hinter dem blau, weiß, roten Zaun tausende von Menschen versammelt. Hunderte von Staub aufwirbelnden Autos werden von eine großen Schar Polizisten in die Schranken gewiesen. Die gerade noch menschenleere Wiese, am Rande der Stadt, scheint plötzlich zu kochen. Ohne Zweifel, das Naadam, das Fest Feste, in dem sich die Besten im Ringen, im Bogenschießen und beim Pferderennen messen, beginnt. Der Sieg der Kommunisten am 11. Juli 1921 ist der historische Anlass. Heute jedoch wird das Naadam zu Ehren des ersten mongolischen Staates unter Dschingis Khan vor über 800 Jahren abgehalten.

Gebannt warten die Zuschauer auf die ersten Reiter als einige Polizisten unter das Dach des Zeltes treten. „Alle raus hier!“, brüllt der Ranghöchste mit Befehl gewohnter Stimme. Sofort erheben sich die Anwesenden und treten ins Freie. Die Polizisten schicken sie hinter den Zaun. Gerade hatte ich mich noch riesig gefreut solch einen elitären Platz gefunden zu haben und jetzt schickt man uns zu den tausenden von Besuchern. Zögerlich stehe ich mit meinem Stativ und der großen Kamera da als einer der Organisatoren ruft; „Presse dort rüber!“ „Ich spreche nicht gut Mongolisch. Was haben sie gesagt?“, frage ich. „Presse dort auf den Lastwagen“, wiederholt er und gibt einem jungen Fotografen den Befehl mich zu geleiten. Ich traue meinen Augen nicht. Auf der anderen Seite des Zielzeltes parkt ein Militärlaster dessen Ladefläche eine Platform ist. „Dort hinauf“, sagt der junge Mann in schlechtem Englisch grinsend. „Thank you“, antworte ich und klettere nach oben. Von hier besitze ich eine perfekte Sicht auf die gesamte Veranstaltung. Einfach genial. Zu genial um wahr zu sein. Wenn ich bedenke vor kurzem nicht mal gewusst zu haben wo das Rennen überhaupt stattfindet, eine beachtliche Entwicklung.

Das gesamte Areal hat sich zu einem Volksfest verwandelt. Jurten, die ich vorher nicht registrierte, sind von Besuchern umringt. Auf kleinen Grills wird Fleisch gebraten und verkauft. Rauchfahnen steigen in den staubigen Himmel. Manche der Autos haben sich zu kleinen Läden verwandelt. Luftballons und tausenderlei anderes Spielzeug wird feilgeboten.

Neben mir geht ein Kameramann von Mörön-Tv in Position. Wir beide sind nun die Einzigen Pressefotografen auf einem riesigen Militärlaster. „Für wen arbeitest du?“, fragt der Kameramann auf Englisch. „Für mich“, antworte ich grinsend. „Ich filme für das örtliche Fernsehen“, antwortet er und fragt noch ob meine Filmkamera etwas taugt. „Klar, sie ist zwar klein aber sehr gut“, antworte ich freundlich. „Dort kommen sie!“, sage ich auf eine kleine Staubwolke deutend, weswegen wir beide durchs Okular unserer Kameras blicken.

Ein einzelner, etwa sieben Jahre alter Junge, galoppiert laut schreiend heran. In seiner Hand lässt er eine Stockpeitsche wirbeln. Das ebenfalls junge Pferd schwitzt. Trotzdem sind ihm die 15 Kilometer lange Rennstrecke kaum anzusehen. Der junge Jockey ist quietschgelb gekleidet und trägt einen rosafarbene, mit blauen Punkten betupften, Helm. Kaum treibt er sein dunkelbraunes Reittier über die Ziellinie, rufen die Linienrichter die Zahl 15, welche auf dem Shirt des Jungen zu lesen ist. Lautsprecherdurchsagen geben den Gewinner bekannt. Die Menschen jubeln und johlen. Ein Brausen, als wäre es die Brandung des Meeres, erhebt sich aus der wogenden Masse. Ein Erwachsener donnert auf seinem Pferd heran und gibt dem Sieger Geleitschutz. Menschen lösen sich aus der Zuschauerlinie und rasen auf die Reiter zu. Jeder möchte als Erster das Pferd des Siegers berühren. Anscheinend bringt es Glück etwas von einem Gewinner betastet zu haben. Keiner der Zuschauer nimmt dabei große Rücksicht, weswegen einer von ihnen um Haaresbreite unter die Hufe kommt.

Kaum ist der Erstplatzierte durch preschen seine Verfolger heran. Auch sie sind zwischen fünf und 13 Jahre jung. Keiner von ihnen sitzt auf einem Sattel. Alle sind bunt gekleidet und scheinen trotz der Anstrengung einen großen Spaß an dem Rennen zu haben. Es dauert nur etwa 15 Minuten bis auch der letzte Teilnehmer über die Ziellinie galoppiert oder trabt. Indes löst sich der Menschenpulk schon wieder auf. Autos rumoren und lärmen davon. Die aufgewirbelte Staubwolke scheint von einem wild gewordenem Drachen ausgelöst worden zu sein. Keine Ahnung warum es die Besucher so eilig haben. Vielleicht gehen sie ins Station, um die dortigen parallel laufenden Ringkämpfe mitverfolgen zu können? Ich weiß nicht. „Puh, das ging ja schnell“, sage ich zu meinem Kamerakollegen. „Ja, du hättest den Anfang sehen sollen.“ „War leider zu spät dran.“ „Ist eigentlicher schöner dort zu sein. Die Pferde und ihre jungen Reiter werden von vielen Autos zum Start gebracht. Das alleine ist schon sehenswert. Dann kommen noch die Schwestern, Brüder und Eltern der Jockeys dazu, die ihre kleinen Heldinnen und Helden ebenfalls auf dem Pferd reitend bis zur Startlinie begleiten. Das ist ein gewaltiges Spektakel. Dazu singen sie mit ihren hohen Stimmen das traditionelle ging-go. Wenn der Startschuss fällt bricht die Horde plötzlich laut grölend los. Nicht leicht bei dem Tumult ein gutes Bild zu schießen. Alles geht recht schnell und das Zeitfenster ist klein. Hier im Ziel hast du etwas mehr Zeit weil die Reiterinnen und Reiter hintereinander eintreffen“, erklärt er begeistert und mit strahlendem Lachen.

Nachdem sich das Knäuel von Menschen und Autos gelichtet hat mache auch ich mich auf dem Weg in die Stadt. Nach einem staubigen Marsch von etwa drei Kilometer habe ich das Glück einen Minibus anhalten zu können. Er nimmt mich in das Zentrum mit. Vor dem größten Supermarkt der Stadt spukt er einige Fahrgäste aus. Magisch angezogen zieht es mich in das große aus Stein errichtete Gebäude. Die gefüllten Regale betrachtend läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Jedoch fehlt mir das nötige Geld etwas kaufen zu können. Um wieder flüssig zu sein brauche ich dringend einen Bankautomaten. Schnell verlasse ich das Gebäude, eile zum nächsten Geldautomaten, stecke meine Karte hinein und warte auf das angenehme Geräusch wenn die Maschine die Scheine in den Ausgabeschlitzt zählt. Doch, oh Schreck, auf dem Bildschirm erscheinen die kaum zu glaubenden Sätze; „Diese Aktion ist im Augenblick nicht möglich. Bitte kontaktieren sie ihre Bank.“ „Sicherlich etwas falsch eingegeben“, sinniere ich. Erneut zieht die Maschine wie ein gefräßiges Tier meine Karte in sich hinein. Jedoch mit gleichem, ernüchternden Ergebnis. Da es pro Eingabe neun verschieden Möglichkeiten gibt probiere ich sie alle durch. Auch wenn meine Finger nur einen Betrag von 50.000 Tugrik in die Tastatur tippen, erglimmt die gleichförmig ärgerliche Anweisung. Entnervt begebe ich mich zum nächsten Bankautomaten, nur um die selben Sätze serviert zu bekommen. „Gelassen bleiben. Wo liegt der Fehler?“, fiebert es durch mein Gehirn. Ein Blick in die Dokumententasche lässt mich eine weitere Bankkarte mit längerer Laufzeit entdecken. Mir dämmert vor neun Monaten eine neue Karte in die Mongolei geschickt bekommen zu haben. Nervosität befällt mich als der Automat die Karte schluckt. „Geben sie ihre Geheimzahl ein“, erscheint es wie vorher auch. „Okay“, murmle ich und tippe. „Rrrrrrrrrrttttt, chchcht“, scheppert und klappert es als die Scheine tatsächlich in das Ausgabefach geschoben werden. Begeistert reiße ich meine Faust in den Himmel, so dass eine wartende Frau hinter mir tierisch erschrickt. „Uutschlal“, entschuldige ich mich. Freudig eile ich erneut in den Supermarkt, um das kleine Kaffee namens Shalom aufzusuchen. Hungrig bestelle ich einen mongolischen Hamburger, ein Stück amerikanische Torte, die so bunt ist wie ein Jahrmarkt, und eine Tasse Milchtee. Auch wenn diese Mahlzeit unter normalen Bedingungen nicht meinem Geschmack trifft esse ich mit großem Appetit. Als der Magen dann noch immer Hungersignale sendet passt das identische Gericht nochmal hinein. Befriedigt verlasse ich das Shalom und mache mich auf zum Station.

Ich komme gerade rechtzeitig zur Siegerehrung der kleinen Reiter. Ein erfahrener, im edlen blaufarbigen Deel und Spitzkappe gekleideter Pferdezüchter, hat ein Mikrophon in der Hand und singt lautstark ein Lobeslied. Dann trinkt er einen Schluck gegorene Stutenmilch und reicht die Schale an den Jungen weiter. Nachdem auch er mit stolzem Gesichtsausdruck davon genossen hat wird der Rest über den Kopf des Pferdes gekippt. Soweit ich erkenne, gratuliert man auch dem zweiten und dritten Sieger auf die gleiche Weise.

Der Pferdezüchter und die kleinen Jockeys reiten unter Jubelrufen in Begleitung ihrer stolzen Eltern aus dem Station. Sicherlich wird in den entfernt liegenden Jurtensiedlungen noch lange, vielleicht über den Winter hinweg, über den großen Sieg gesprochen.

„Hallo Denis!“, ruft mich eine Stimme. Saraa sitzt auf der Tribüne und winkt mir aufgeregt zu. „Dachte du bist mit Touristen am Khuvsgul Nuur unterwegs?“, frage ich verwundert. „War ich auch. Wir sind aber heute rechtzeitig zum Naadam in Mörön angekommen“, erklärt sie lachend. „Na schön dich hier zu treffen. Dann kann ich dich gleich über die Geschehnisse des Wettkampfes ein wenig fragen?“ „Aber gerne. Hast du das Bogenschießen heute Morgen schon gesehen?“ „Nein ich war beim Zieleinlauf der jungen Jockeys. Habe ich etwas verpasst?“ „Wie man es nimmt. Es ist schon beeindruckend all die Schützen mit ihren angespannten Gesichtern in einer Reihe stehen zu sehen. Es sind Männer sowie auch Frauen allen Alters die sich unter einander messen. Der erste Pfeil wird immer von einem Mann abgegeben, der im Jahr des Tigers geboren wurde. Diejenigen aus dem Jahr der Ratte sammeln die Pfeile wieder ein. Die Pfeile die ihr Ziel getroffen haben werden von denen registriert die im Jahr des Affens geboren wurden, und den Lobgesang, so ähnlich wie du es gerade bei der Siegerehrung der jungen Reiter gesehen hast, stimmt ein Unparteiischer aus dem Jahr des Drachens an“, erklärt Saraa mit leuchtendem Gesichtsausdruck. „Na gut die Erklärung zu hören. Hätte ich ja nie verstanden. Und auf was schießen die Teilnehmer?“ „Auf mit Filz umwickelte kleine Bälle oder Dosen die im Rasen aufgereiht sind.“ „Dachte sie haben eine richtige Zielscheibe mit farbigen Kreisen und so?“ „Nein bei unserem Naadam ist das anders.“ „Und aus welcher Distanz wird geschossen?“ „75 Meter. Alle Teilnehmer besitzen somit die gleichen Chancen den mergen verliehen zu bekommen.“ „Den mergen?“ „Heißt soviel wie der Treffsichere. Aber dieser Wettstreit ist eine Sache der Gemeinsamkeit. Zeremonielle und symbolische Handlungen zeigen, dass es nicht ausschließlich um den Sieg geht sondern darum, um dabei zu sein.“ „Klingt ja sehr ehrenhaft. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass der persönliche Ehrgeiz des Einzelnen eine wichtige, motivierende Rolle spiel?“, überlege ich. „Sicherlich. Ich zum Beispiel hätte viel dafür gegeben das Naadam zu gewinnen. Es bringt dir viel Ansehen und Ehre“, widerspricht sie sich nun ein wenig. „Hast du früher am Naadam teilgenommen?“ „Ich? Nein, habe nie dafür trainiert. Ist nur ein Traum. Aber wir sollten jetzt nicht soviel reden. Schau auf den Platz. Die Ringer kommen.“

Vielleicht 20 Ringerpaare kommen in wiegenden Schritten und mit ausgestreckten Armen auf den sonnendurchfluteten Platz. Den Körper auf und ab bewegend scheinen sie um ein Podest zu tanzen. „Das ist das Banner von Dschingis Khan“, erklärt Saraa. „Und warum tanzen die Männer?“ „Nun das ist kein Tanz. Die Ringer bewegen ihre Körper auf diese Weise, um den Flug des Adlers darzustellen. Damit symbolisieren sie so unbezwingbar wie der Raubvogel zu sein.“

„Ihre Kleidung sieht recht traditionell aus?“, wundert es mich. „Ist auf die Khalkha-Tracht zurückzuführen.“ „Khalkha-Tracht?“, frage ich nicht wissend was sie damit meint. „Nun die Khalka gehören zum östlichen Zweig und sind mit ca. 80 Prozent die größte Volksgruppe der Mongolen. Dazu gehören auch die am Baikalsee lebenden Burjaten. Die Dörbet, Torguten, Ölöten (auch Oleten), Oiraten (auch Dsungaren) und Kalmücken, gehören zum westlichen Zweig und machen etwa 7 Prozent der Mongolen aus“, erklärt sie. „Was du alles weißt?“ „Gehört zu meinem Geschäft. Die Touristen fragen viel.“ „Ha, ha, ich weiß. Dann kannst du mir bestimmt auch erklären warum die Schuhspitzen der wadenhohen Stiefel nach oben gebogen sind?“ „Sie sollen verhindern, dass die Erde verletzt wird die uns Mongolen heilig ist.“ „Hm, wenn ich an den Bergbau denke, die daraus resultierende katastrophale Verschmutzung des Grundwassers und eurer Flüsse oder daran wie viele von euch Müll einfach wegwerfen, der dann für Jahrzehnte die heilige Erde verschmutzt, ist davon kaum noch etwas übrig“, gebe ich zu bedenken. „Ja, da hast du Recht. Mit unserem Land geht es bergab.“

„Warum tragen die Männer nur einen kleinen Slip und das Jäckchen welches Oberarme und Rücken bedeckt, die Brust aber frei lässt?“, lenke ich das Gespräch wieder zum Geschehen zurück. „Keine Ahnung warum sie den Slip tragen. Sieht auf jeden Fall sexy aus. Aber die Weste ist auf eine alte Sage zurückzuführen nach der in grauer Vorzeit einmal eine Frau das Ringen für sich entschieden hat. Weil Frauen beim Ringen nicht zugelassen sind muss seither das Oberteil vorne offen sein.“

In der Zwischenzeit wird auf dem Platz kräftig gerungen. Ehrlich gesagt verstehe ich ohne Saraas Erklärung nicht im Geringsten worum es geht und muss öfter Nachfragen. „Der Sieger wird in neun Runden nach dem K.-o.-System ermittelt. Im Kampf dürfen die Ringer jedes Körperteil berühren“, erklärt sie. „Okay und wenn einer auf den Boden fällt hat der Andere gewonnen?“ „So ungefähr. Wenn der Gegner den Boden mit dem Knie, Ellbogen oder Kopf berührt. Aber schau dir das an. Dieser Kämpfer dort ist wirklich unfair“, sagt sie plötzlich erregt auf den Rand des Platzes deutend. Überrascht sehe ich wie einer der muskulösen Männer seinen Gegner regelrecht überrannt hat bevor der Kampf von einem der vier Sekundanten, die auch gleichzeitig die Richter sind, frei gegeben wurde. Der vermeintliche Sieger reißt die Hände nach oben und beginnt seinen eigenartigen Tanz ohne auf die Richter zu hören. Da er nach Saraas Aussage ein berühmter Ringer ist und in der Hierarchie der mongolischen Bevölkerung ganz oben steht, ist er im Begriff somit den Kampf für sich zu gewinnen. Er hat jedoch nicht mit den vielen Zuschauern gerechnet die plötzlich wie aus einem Munde brüllen. Das Getöse der Menschen ist ohrenbetäubend. Endlich bestimmen die Sekundanten diesen Angriff als ungültig. Der Mann wehrt sich eine Weile, wird aber nach wie vor ausgebuht. Dann dirigieren die Richter ihre Ringer in die Mitte des Platze und geben den Kampf erneut frei. Diesmal hat der charakterschwache Athlet schlechtere Karten. Der Kampf geht über lange Zeit, wird mehrfach abgebrochen und am Ende vom neuen Publikumsliebling eindeutig gewonnen. Der Besiegt bleibt für Minuten fassungslos auf dem Boden, während der Gewinner außer sich vor Freude mit erhobener Faust zur Tribüne rennt. Der Applaus ist infernalisch. Der Mann springt in die Höhe, beginnt unter unaufhörlichen Anfeuerungsrufen seinen Adlertanz um das Podest auf dem das Banner von Dschingis Khan steckt. Dann springt er wieder zu seinem Gegner, der mittlerweile wieder auf den Beinen steht. Nach der Tradition läuft nun der Verlierer unter den Armen des Gewinners hindurch womit der Sieger den Schwächeren unter seine Fittiche nimmt.

„Was für ein Kampf“, sagt Saraa. „War spannend. Wegen der üblen Attacke habe ich auch zu dem jetzigen Gewinner gehalten“, antworte ich. „Er ist jetzt der arslan.“ „Arslan?“, frage ich nach. „Sorry, das heißt Löwe. Als Gewinner des Turniers trägt er diesen Ehrentitel. Wer fünf Gegner bezwingt ist ein natschin, übersetzt Falke. Nach zwei weiteren Siegen bezeichnen sich die Männer als zaan das heißt in deiner Sprache Elefant. Dann, als Sieger des Wettstreites, kommt der Löwe. Einer der das Naadam zweimal hintereinander für sich entscheidet wird zum avraga, dem Riesen. Bei weiteren Siegen wird er zum Mächtigen oder Unbesiegbaren.“ „Gibt es überhaupt Ringer die mehrfach hintereinander gewonnen haben?“ „Oh ja. Einer der berühmtesten Kämpfer aller Zeiten ist Bajanmunch. Er hat zehn Mal das Naadam in Ulan Bator gewonnen. Sein ofizieller Titel war; „Der das Auge erfreuende, landesweit berühmte, mächtige unbesiegbare Riese.“ „Wow, was für ein gewaltiger Titel.“ „Stimmt, ein wirklich berühmter Mann in unserem Land. Er wurde aber nochmal übertroffen.“ „Was? Es gab einen Kämpfer der mehr als zehn Mal gewann?“ „Ja. Sein Name ist Baterdene. Er entschied das Naadam zwischen 1988 und 1999 elf Mal für sich.“ „Gab es da noch eine Steigerung des Titels?“ „Man nennt ihn; Den bei allen bekannten, über die Ozeane berühmten, die Menschen glücklich machenden, ewigen Titan. Seine Berühmtheit brachte ihn sogar als Abgeordneten ins Nationalparlament.“ „Nun, da war er sicherlich nicht der einzige Sportler der nach seiner aktiven Laufbahn Karriere in der Politik machte“, sage ich an Arnold Schwarzenegger denkend, der es als Bobybuilder und weltberühmter Schauspieler im Oktober 2003 das Amt des Gouverneurs von Kalifornien übernahm.

Die anschließende Siegerehrung der Ringer wird von einer lauten Militärkapelle begleitet. Die Männer werden von wichtigen Persönlichkeiten der Stadt beglückwünscht, bekommen Urkunden und Medaillen überreicht. Laut Aussage von Saraa erhält der Gewinner ein Preisgeld zwischen einer halben Million (333,- €) und einer Million Tugrik. (666,-€) Als die Sportler die Treppe von dem abgeriegelten Bereich der Tribüne herunter kommen strecken ihnen die Journalisten und Fernsehmenschen Mikrophone entgegen. Dann betreten die Helden des Naadam den Rasen. Nichts hält mehr die Menge auf den Tribünen. Sie strömen zu hunderten auf den Platz und wollen die Athleten berühren. Jeder möchte seine Hand auf den schweißnassen Körper der Ringer drücken. Den vielen Polizisten gerät die Situation völlig außer Kontrolle. Sie sind nicht mehr in der Lage die Massen zu halten was zur Folge hat das die Wettkämpfer einfach überrannt werden. Einer von ihnen fliegt plötzlich wie eine Feder in die Luft. Bevor er auf den Boden fällt fangen ihn unzählige Hände wieder auf. Dann wird der Held wie eine Trophäe in die Mitte des Platzes getragen. Zum Glück wird bei dieser Aktion keiner verletzt. Alle sind ausgelassen. Einige fotografieren das Spektakel und die Ringer mit kleinen Digitalkameras. Dann läuft eine Militärparade auf goldenen Pferden ein. „Dschingis Khans neun goldene Pferde“, erklärt Saraa mit Stolz in der Stimme. Die Parade hält vor dem Podest mit den Bannern des Khans. Jeder der neun Uniformierten nimmt einen der speerähnlichen Stäbe mit der dreigezackten Spitze vom Podest und trägt diese im Stechschritt zu seinem Pferd. Der Befehlshaber gibt das Kommando zum Aufsitzen, worauf die Truppenschau das Station verlässt und somit das Fest der Feste beendet ist.

Später bin ich wieder in unserem Camp. Die Tochter von Renzindorj hat mich mit ihren Auto zu meinem Heim gebracht. Noch ganz im Bann des Festes erzähle ich Tanja haarklein von meinen Erlebnissen.

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