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Mongolei/Tuwa Camp MONGOLEI EXPEDITION - Die Online-Tagebücher Jahr 2011

Bilgees Plan

N 51°39'155'' E 099°21'977''
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    Tag: 298-304

    Sonnenaufgang:
    05:25/05:18

    Sonnenuntergang:
    21:12/21:19

    Gesamtkilometer:
    1361

    Bodenbeschaffenheit:
    Eis, Schnee

    Temperatur – Tag (Maximum):
    10°C – 0 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    3°C – minus 4 °C

    Temperatur – Nacht:
    minus 3°C – minus 17 °C

    Breitengrad:
    51°39’155“

    Längengrad:
    099°21’977“

    Maximale Höhe:
    1858 m über dem Meer

In den ruhigen Tagen hier im Frühjahrscamp haben wir viel Gelegenheit darüber nachzudenken wie wir unsere weitere Reise organisieren. „Was hältst du davon wenn ich nach Tsagaan Nuur gehe und mich vor Ort nach einem neuen Pferdemann umsehe?“, fragt Tanja. „Wie willst du nach Tsagaan Nuur gelangen?“, frage ich. „Wenn Bilgee geht reiten wir mit ihm bis zu dem Punkt an dem die Tuwa ihren Nachschub erhalten. Bis dorthin kann auf jeden Fall ein Jeep fahren. Über Gambas Funkgerät können wir den Fahrer verständigen. Während Bilgee und ich mit dem Allradfahrzeug nach Tsgaan Nuur weiterfahren treibst du unsere Pferde ins Camp zurück.“ „Hm, okay. Soweit ganz gut. Und wie kommst du wieder zurück?“ „Ich miete mir so ein Moped. Die können doch überallhin gelangen. Selbst bis ins Frühjahrscamp der Tuwa. Wir haben selbst gesehen das in den letzten Tagen einige Mongolen auf ihren billigen chinesischen Zweirädern hier ankamen und wieder gingen. Tsaya hat gemeint es wäre überhaupt kein Problem sich für 10.000 Tugrik (5,71 €) so eine Mopedfahrt zu mieten.“ „Okay. Und das willst du wirklich tun?“ „Ja. Warum nicht? Wir müssen in Aktion treten ansonsten werden wir noch Stammesmitglieder und müssen hier für immer bleiben.“ „Das würde bedeuten ich kümmere mich während deiner Abwesenheit um die Pferde.“ „Ja. Ich hingegen organisiere uns einen Pferdemann, den Lebensmittelnachschub und spreche mit Saraa wegen der Visaverlängerung. Wenn ich alles habe komme ich wieder. Denke das dauert nicht länger als drei oder vier Tage.“ „Gut, könnte funktionieren. Wenn du möchtest machen wir es so. Besser als hier herum zu sitzen und auf einen glücklichen Strahl warten der eventuell nie kommt. Aktivismus war schon immer der beste Problemlöser“, antworte ich mit Tanjas Plan zufrieden.

Nach vier Tagen der Abwesenheit lässt sich Bilgee heute wieder sehen. Er ist gut gelaunt. Viel besser als beim letzten Mal. „Wie geht es Tuya?“, frage ich. „Es geht ihm sehr gut. Er liebt das Algenpräparat welches ihr mir für ihm mitgegeben hat. Er ist geradezu süchtig danach und läuft mir ständig hinterher, um mehr davon zu bekommen. Denke das hat ihm geholfen. Er springt herum und möchte unaufhörlich spielen.“ „Super. Das ist wirklich eine sehr gut Nachricht. Und Naraa? Ist sie mittlerweile in der Lage ohne fremde Hilfe aufzustehen?“ „Ja. Naraa geht es von Tag zu Tag besser. Bor ist noch immer ein Knochengestell aber das wird schon. „Was haltet ihr davon wenn ihr raus reitet um eure weitere Reise zu organisieren und ich hier bleibe und die Pferde und euer Tipi hüte?“, verblüfft uns sein Vorschlag.Wir erklären ihm Tanjas Plan worauf er sofort anbietet nach Tsagaan Nuur zu reiten. „Ich reite mit. Das gefäält mir viel besser als in einem Jeep zu fahren“, antwortet Tanja, worauf sich eine gute Lösung unserer Herausforderung abzeichnet.

Im weiteren Verlauf des konstruktiven Gespräches hat sich folgender Plan entwickelt. Tanja und Bilgee reiten die 40 oder 50 Kilometer mit zwei Reit- und zwei Packpferden nach Tsagaan Nuur. Sie werde auf diesem Trip schon mal die erste Ausrüstung herausbringen die wir nicht unbedingt benötigen. Im Ort suchen sie nach einem geeigneten, zuverlässigen und vertrauenswürdigen Mann. (Die Hoffnung stirbt zuletzt). Wenn sie erfolgreich waren reiten sie mit neuem Lebensmittelnachschub zurück. Bilgee wird ab diesem Zeitpunkt weitere 10 Tage die Pferde hüten. Wenn diese kräftig genug sind reitet er mit uns und dem restlichen Gepäck nach Tsagaan Nuur, um von dort seine endgültige Heimreise anzutreten. Das bedeutet, dass er nicht wie von ihm geplant am 20. Mai geht sondern erst am 10 Juni. Damit hat er uns aus welchem Grund auch immer knapp drei Wochen seiner Zeit geschenkt und somit letztendlich doch sein Verantwortungsbewusstsein gezeigt. Wie er diese drei Wochen plötzlich bei seinem Chef vertreten kann ist uns unklar. Aber das tut auch nichts zur Sache. Hauptsache wir können diesen abgelegenen Ort mit einigermaßen gut genährten Pferden sicher verlassen und wie geplant unseren Trip vorsetzen. Mit oder ohne Bilgee das wird die Zukunft zeigen.

Tanja und mir fällt also ein Stein vom Herzen. Es ist schon eigenartig wie viel Schwierigkeiten wir uns durch fiktive Probleme gestalten. Wie schwer wir Menschen es uns machen obwohl in der realen Welt noch gar nichts geschehen ist. Als Bilgee uns seinen Abzug unterbreitete war ja alles in Ordnung. Auch bis heute ist alles okay. Er ist da, hütet die Pferde und wir leben unser Leben im Frühjahrscamp. Und trotzdem zerbrachen wir uns den Kopf, waren enttäuscht, entrüstet, wütend. Unser Gefühle spielten verrückt und das nur wegen einer Aussage. Und genau das ist eigentlich das Verrückte. Warum haben wir uns durch einen einzigen Satz, Ich gehe am 20. Mai, die Laune verderben lassen? Hat das einen Sinn ergeben? Nein, hat es nicht. Das einzige Resultat unserer heruntergezogenen Laune war, dass wir urplötzlich die Tage nicht mehr genossen. Und jetzt stellt sich heraus, dass diese schlechte Laune, diese schlechte Energie völlig sinnlos war. Verschwendung! Ach wäre es schön wenn man jede Aussage, egal welche, völlig gelassen aufnehmen könnte. Damit meine ich auch wenn man erfährt eine Million im Lotto gewonnen zu haben. Denn die Gefahr in großen psychischen Höhen liegt der große psychische Absturz. Und den muss man bekanntlicher Weise erst mal verkraften. Es wäre also in der Tat sinnvoller auch einen Lottogewinn ohne all zu große Emotionsschwankung hinzunehmen. Womit ich nicht meine das man sich nicht freuen sollte. Freuen ja aber so das man die Aussage verkraften kann wenn sich der vermeintliche Lottogewinn als einen Zahlendreher herausstellen sollte.

Unabhängig davon käme es einer Meisterleistung gleich das Frühjahrscamp mit angeschlagenen Pferden und all der Ausrüstung zu verlassen. Die Tuwa würden uns nicht helfen. Außer wir würden ihre Pferde und Arbeitskraft zu normalen Konditionen mieten. Da ist es egal wie lange wir hier waren und was wir ihnen geschenkt oder für sie getan haben. Diese Art von Hilfe scheint es bei diesem Stamm nicht zu geben. Im Großen und Ganzen achtet jeder auf sich selbst. Jede Familie funktioniert wie ein kleiner Stadtstaat und kümmert sich hauptsächlich um seine eigenen Belange. Nichtmal Ultsan oder Tsaya kamen mit Lösungsvorschlägen. Das erwähne ich nicht mit negativen Gefühlen den Menschen gegenüber mit denen wir einen harten Winter überlebten. Es ist einfach eine weitere Erfahrung wie gnadenlos das Leben in der Wildnis sein kann. Hier sind starke Menschen gefragt. Schwäche ist nicht angesagt, wird ausgespuckt oder vertrieben. Ein Naturgesetzt das zwar nicht gerade lustig ist aber zu einem unumstößlichen Fakt gehört.

Da in wenigen Tagen die dreimonatigen Schulferien beginnen könnte ich mir gut vorstellen das Bilgee gar kein Jobangebot bekam sondern in sein Jurtencamp ziehen möchte, um dort mit seinen Söhnen und Verwandten den Sommer zu verbringen. Somit könnte er gleichzeitig seiner Leidenschaft, der Murmeltierjagd nachgehen. Jedes Murmeltierfell bringt zwischen 15.000 und 25.000 Tugrik. (8,57 € und 14,28 €). Nachdem was er uns letztes Jahr bei seinem Einstellungsgespräch erzählte ist er in der Lage bis zu drei Tiere am Tag zu schießen. Das würde bedeuten, dass er im besten Fall bis zu 75.000 Tugrik (43,- €) am Tag umsetzt. Wenn ich davon die realistische Hälfte ansetze könnte er am Tag ca. 35.000 Tugrik (20,- €) machen. Das wären bei 20 Arbeitstagen 700.000 Tugrik (400,- €) im Monat. Er selbst sprach davon ohne Schwierigkeiten 500.000 Tugrik (286,- €) im Monat mit seiner Jagd erwirtschaften zu können. Bei uns erhält er 300.000 Tugrik (171,- €) zuzüglich volle Verpflegung. Obwohl das Durchschnittseinkommen in der Mongolei zurzeit bei ca. 188.000 Tugrik (107,- €) liegt wird ihn unser gezahlter Lohn nicht mehr halten. Ein wesentlicher Faktor dürfte auch noch sein während der Jagd die Abende und Wochenenden mit seiner Kindern und Familie verbringen zu können und sich nicht auf einer kraftraubenden Expeditionsreise herumtreiben zu müssen. Dabei spielt der mündliche Vertrag den wir zu Beginn der Reise mit Handschlag besiegelten offensichtlich keine Rolle.

Gerade beim Tippen dieser Zeilen erinnere ich mich an die geradezu unbeschreibliche Schläue von Bilgee und sein außergewöhnliches Verhandlungsgeschick welches schon bei seiner Gehaltsverhandlung im letzten Jahr in Erdenet begann. Dann die 5 Millionen Tugrik die er in Mörön urplötzlich für die Fütterung der Pferde haben wollte zuzüglich der dazugehörigen 700.000 Tugrik Lohn. Als wir dadurch gezwungen waren die Pferde beim Militär unterzubringen wollte er sie genauso urplötzlich nicht mehr von Tsgaan Nuur nach Mörön zurückreiten. Auch mit dieser Entscheidung brachte er die Expedition fast zum Scheitern. Das war der Grund warum wir den jungen Tulgaa engagierten die Pferde zurück zu reiten. Mit seiner erneuten urplötzlichen Entscheidung die Expedition drei Monate früher als vereinbart zu verlassen brachte er uns nochmals in große mentale und psychische Schwierigkeiten. Auch wenn Bilgee als zuverlässig, liebenswert und vertrauensvoll erscheint, müssen wir achtsam sein. Er sucht sich, bewusst oder unbewusst, dramatische Zeitpunkte aus, um uns vor neue unangenehme Tatsachen zu stellen. Ich bin mir sicher, dass er bis heute nicht damit gerechnet hat, dass wir bisher in jeder Situation einen funktionsfähigen Alternativplan ausarbeiten konnten. Schön ist das nicht aber es hält unseren Geist flexibel und lässt diese Expeditionsreise manchmal bald unerträglich spannend werden. Darauf könnte ich zwar verzichten aber eine Expeditionsreise ist kein im Reisebüro gebuchter Trip mit Netz und doppelten Boden. Es ist keine Reise an deren Ende man den Veranstalter für Unpünktlichkeit, Unzuverlässigkeit, schlechten Service und Essen, Unehrlichkeit, Betrug usw. verklagen kann. Unsere große Reise ist ein Abenteuer mit ungeahnten Herausforderungen die uns fast immer in ungelegenen Augenblicken serviert werden. Und vielleicht ist auch genau dieser Aspekt einer davon aus dem sich das Wort Abenteuer zusammensetzt. Ich weiß es nicht. Fakt ist das wir die Herausforderungen gerne annehmen auch wenn sie uns gelegentlich zu viel werden. Fakt ist auch, dass ich mir nach wie vor kein lehrreicheres, schöneres, aufregenderes und tiefsinnigeres Leben vorstellen kann und möchte. Und sollte mich heute jemand fragen was ich in meinem Leben anders tun würde wenn ich könnte würde ich antworten. Nichts! Es ist genau so wie es ist perfekt. Absolut in Ordnung. Besser könnte es bisher nicht sein. Einfach traumhaft. Und wenn es die Reinkarnation wirklich gibt, dann Lieber Gott, dann lass mich bitte wieder Abenteurer werden.

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