Zu Gast bei einer sibirischen Familie
N 53°40'19.0'' E 102°18'48.3''Tag: 38
Sonnenaufgang:
06:09 Uhr
Sonnenuntergang:
22:24 Uhr
Luftlinie:
26.79 Km
Tageskilometer:
33.75 Km
Gesamtkilometer:
11745.65 Km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Temperatur – Tag (Maximum):
33 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
26 °C
Temperatur – Nacht:
18 °C
Breitengrad:
53°40’19.0“
Längengrad:
102°18’48.3“
Maximale Höhe:
663 m über dem Meer
Maximale Tiefe:
510 m über dem Meer
Aufbruchzeit:
12.30 Uhr
Ankunftszeit:
17.30 Uhr
Durchschnittsgeschwindigkeit:
12.66 Km/h
In bald regelmäßigen Abständen von fünfzehn Minuten scheppert die blecherne Tür des Plumpsklos, nur unweit von unserem Zelt entfernt, in den Rahmen. Der Wachhund der Kneipe geht bald unaufhörlich seiner Pflicht nach und gibt zu jedem Türkrachen seinen bellenden Kommentar ab. Lastwagenfahrer kommen und gehen die gesamte Nacht, um in der Truckerkneipe zu speisen und danach oder davor sich auf dem Plumpsklo zu erleichtern. Manche von ihnen lassen die schweren Motoren ihrer LKWS laufen. Entweder die Aggregate müssen empfindliche Ladung kühlen oder die Fahrer heizen ihre Kabinen und wollen die Wärme nicht verlieren. Wie auch immer, an Schlaf ist nur bedingt zu denken.
Am Morgen brennt uns die Sonne aus dem Zelt. Sofort beginne ich den Hinterreifen meines Rades auszubauen. Mein Vater sagte einmal, dass er sich nicht erklären konnte warum er während seiner Radtouren meist im Hinterreifen einen Platten fuhr. Zweifelsohne ist die Reparatur eines platten Reifens am Vorderreifen weit weniger Zeitaufwendig, weswegen ich gerade jetzt an meinen lieben Vater denken muss. Gott sei Dank fahren wir den Marathon Extreme von Schwalbe. Das ist der Grund, warum ich hier, nach 12.000 Kilometern, erst den ersten Platten am Hinterreifen flicken muss. Um das Rad aus den Rahmen zu bekommen schraube ich den Kettenspanner ab, löse die Magurabremse und die Seilbox der Rohloffschaltung. Erst jetzt kann ich das Rad herausnehmen. Genau untersuche ich die Innenseite des Mantels auf eventuelle Fremdkörper. Und siehe da, ein kleiner Metallsplint hat sich durch das extrem strapazierfähige Schutzgewebe gearbeitet und den Schlauch zerstochen. Schnell ist ein neuer Schlauch eingezogen und der Reifen wieder eingebaut.
Es ist bereits 12:30 Uhr als sich unsere voll aufgepumpten Reifen wieder über den sibirischen Asphalt in Richtung Südosten drehen. Sofort empfängt uns eine sechs Kilometer lange Steigung, die uns bis auf 668 Meter Höhe trägt. Die Landschaft hat sich seit geraumer Zeit geändert. Weite Felder haben die Taiga verdrängt und grenzen an die Straße. Blühende Sommerwiesen, Felder und schmale Waldstreifen zeigen wie auch hier der Mensch die Wildnis immer weiter zurückdrängt. Der Verkehr ist nach wie vor unverändert stark und wird wahrscheinlich bis zum Baikalsee oder vielleicht sogar bis zur Stadt Ulan-Ude so bleiben. Obwohl wir uns nur ungern an den ständigen Lärm der Motoren und surrenden Autoreifen gewöhnen, müssen wir uns damit abfinden. “Schau mal der hat lauter Jogamatten auf seinem Dachträger geladen. Ist bestimmt ein Jogalehrer!”, ruft Tanja auf einen vorbeifahrenden Lada zeigend. Kaum hat sie den Satz ausgesprochen hält dieser vor uns an. Ein junger, schlanker Mann in aufrechter Haltung kommt auf uns zu, um uns freundlich zu begrüßen. Priwet, menja sawut Igor. Adkuda? Kuda?” (“Hallo, ich heiße Igor. Woher kommt ihr und wohin geht ihr?”), stellt er sich freundlich vor und möchte wie alle wissen woher wir kommen. Im Laufe des Gespräches finden wir heraus, dass Igor zwar kein Jogalehrer ist aber sich auf dem Weg befindet, um seinen Meditationsmeister, der am Baikalsee lebt, aufzusuchen. “Dort nehme ich an einem Kurs teil. Wenn ihr wollt könnt ihr ja auch kommen”, lädt er uns mit offenem Lachen ein. Zum Abschied übereicht er uns noch selbst gepflückten Tee. Tanja gibt ihm dafür biologisch angebauten Tee von Sonnentor, den wir auf jeder unserer Radreisen dabei haben. Ein herrlicher, spontaner Energieaustausch an der Hauptstraße. “Vielleicht sehen wir uns im nächsten Leben. Ihr seid wunderbare Menschen”, sagt Igor in seinen Lada einsteigend und davonfahrend.
Um 15:00 Uhr erreichen wir in einem Tal eines der Straßencafes. Erschöpft setzen wir uns in den Schatten auf eine Bank und blicken respektvoll auf die ca. fünf Kilometer lange Steigung, die aus der Senke wieder nach oben führt. Kaum haben wir Platz genommen, spricht uns eine adrett gekleidete Sibirierin mit gut frisierten roten Haaren an. “Ich bin die Chefin dieses Cafes”, stellt sie sich vor. Sie plaudert ein paar Worte und fragt uns das was alle fragen, als ein Lada mit ohrenbetäubend lauter Musik vor das Cafe fährt. “Das ist mein Sohn. Ein Taugenichts. Er arbeitet nicht. Hilft nicht im Cafe und hat nur Flausen im Kopf. Ein echter Bandit”, sagt sie mit einer Selbstverständlichkeit die mich ein wenig erschreckt. Dann verschwindet sie wieder. Wegen der großen Hitze und den gestrigen Anstrengungen befinden wir uns 40 Minuten später noch immer auf der Bank. Tonja, die Cafechefin, kommt wieder und setzt sich erneut zu uns. “Wohin fahrt ihr heute noch?”, möchte sie wissen. “Bis zur nächsten Gastiniza”, antworte ich. “Oh, die ist aber noch weit.” “Wie weit?” “Nun, ca.40 Kilometer von hier.” “Hm, dann schlafen wir eben im Zelt”, erwidere ich etwas apathisch. “Wenn ihr wollt könnt ihr auch in meinem Haus nächtigen”, lädt sie uns unverhofft ein. “In deinem Haus?”, frage ich und blicke dabei Tanja an, um zu sehen was sie dazu meint. “Wie weit ist dein Haus von hier entfernt?”, möchte ich, wegen den gestrigen schlechten Erfahrungen, wissen. “Nicht weit. Nur drei Kilometer.” “Hm”, überlege ich und frage Tanja. “Entscheide du”, ist ihre erneut unschlüssige Antwort. “Warum eigentlich nicht”, antworte ich. “So lernen wir etwas von den Menschen hier kennen”, füge ich noch hinzu. “Wahrscheinlich hast du Recht. Wir sind müde und ich habe gestern Nacht von einer schönen Bleibe an einem schönen See geträumt. Ein See in dem wir uns erfrischen und schwimmen können. Vielleicht wohnt Tonja an diesem Gewässer”, wünscht Tanja. “Wer weiß”, antworte ich und hoffe, dass ihr Sohn, der Bandit, nicht ebenfalls da wohnt und uns nachts die Ausrüstung klaut.
Um 17:00 Uhr wird Tonja von ihrem Mann abgeholt. Wir folgen dem Auto und als wir an einem wunderschön gelegenen, kleinen See vorbeikommen, traue ich meinen Augen kaum. “Ob Tanjas Traum hier zur Realität wird? Wäre nicht das erste Mal”, frage ich mich und freue mich offensichtlich die richtige Entscheidung getroffen zu haben. An dem kühlen Nass vorbeifahrend beobachten wir Kinder und Jugendlich die vergnügt im Wasser planschen. Sie schreien und jauchzen vor Vergnügen und am liebsten würde ich mit hineinspringen. “Na ja, das machen wir später oder morgen”, geht es mir durch den Kopf.
Nach drei Kilometern treten unsere müden Oberschenkel noch immer unsere Rösser über leichte Hügel. Wir befinden uns mitten im Ort Zima. Es geht vorbei an kaputten Zäunen, alten Holzhäusern und den für diese Region typischen Gemüsegärten. Alsdann unterqueren wir, wie so oft auf dieser Strecke, eine Brücke, über die gerade ein Güterzug der Transsibirischen Eisenbahn rattert. Rechts neben uns ragt ein großer eiserner Förderturm sein bizarres Gestell in den Sommerhimmel. Wir erfahren, dass er seit 30 Jahren Salz aus dem Bauch der Mutter Erde schafft. Das Salzvorkommen soll sich auf eine Länge von 20 bis 30 Kilometer hinziehen und bei der heutigen Fördermenge noch für weitere hundert Jahre ausreichen. Auch wenn es nicht schön aussieht gibt das Untertagebergwerk 150 Menschen Arbeit. Bei einer Arbeitslosigkeit von ca. 70 Prozent ist so ein Bergwerk für jeden der einen Job bekommt ein absoluter Glücksfall. Hinter dem Stahlturm verlassen wir die Asphaltstraße und holpern über eine aufgeworfene Lehmpiste, die sich nur hundert Meter neben den Gleisen der Transsib. entlang schlängelt. In den meisten Dörfern und Ortschaften findet sich, wenn überhaupt, nur eine einzige geteerte Straße. Alle Pfade und Wege die davon wegführen bestehen nahezu zu hundert Prozent aus Lehm, der die Fahrzeuge beim kleinsten Regen regelrecht versinken lässt.
Endlich bleibt das weiße alte Auto vor einer ärmlichen Hütte stehen. Sergej, der ernst dreinblickende Mann von Tonja, öffnet das Tor und bitte uns herein. Wir rollen unsere Räder in den schmalen Hof, der links und rechts von je einer Holzhütte begrenzt wird und lehnen sie an einen Holzzaun. Ein Hund bellt uns mit dem Schwanz wedelnd an. “Dick beißt nicht”, sagt Tonja, worauf wir ihn streicheln. Dick ist von der offensichtlich seltenen Berührung so hingerissen das er wie ein Irrer auf und ab springt. “Ihr könnt euer Gepäck ins Winterhaus bringen”, schlägt Tonja vor und führt uns in die dunkle Hütte. Der Geruch von Katzeurin schlägt uns entgegen.
Wie so üblich ziehen wir unsere Schuhe aus und betreten eine Art Aufenthaltsraum, in dem sich ein ausziehbares Sofa, ein paar dahinvegetierende Pflanzen und ein Kamin befinden. Vor den kleinen Fenstern hängen mit Blumen verzierte Vorhänge, auf dem Boden liegt ein alter Teppich und an der buckelschiefen Decke kleben ornamentierte, quadratische Styroporplatten. “Heute Nacht könnt ihr auf dem Sofa schlafen. Ich werde es für euch ausziehen”, sagt Tonja auf den Diwan deutend der vor 20 Jahren vielleicht einmal besser ausgesehen hat als heute. “Oh, vielen Dank. Wir besitzen unsere eigenen Matratzen. Die legen wir auf den Boden”, antworte ich, um dem betagten Kanapee zu entrinnen. “Aber es ist doch viel bequemer auf dem Sofa?” “Wir haben spezielle Matratzen. Die sind gut für meinen Rücken. Ich hatte mal eine Bandscheibenoperation und muss auf diesen Matratzen liegen”, sage ich und bin erleichtert das Tonja akzeptiert. Wir sind gerade dabei unser Lager für die Nacht herzurichten als die Tür wieder aufgeht und eine Frau mit graumeliertem Haar das Zimmer betritt. Tanja möchte sich gerade vorstellen, jedoch bemerkt sie in letzter Sekunde, dass es Tonja ist die in das Zimmer eilt. “Hier sind Hausschuhe”, meint sie liebevoll und reicht uns je ein paar alte Schlappen. “Das war doch Tonja?”, frage ich verwundert, nachdem sie wieder verschwunden ist. “Ja, sie hat offensichtlich ihre Perücke abgenommen”, erklärt Tanja.
Während Tanja die Toilette aufsucht werfe ich einen Blick in den nächsten Raum. Es ist zweifelsohne das Wohnzimmer. Eine moderne Wohnzimmerwand der sechziger Jahre enthält Bücher, Gläser für besondere Anlässe, Plastikblumen, Fotos der Kinder und einiges an nicht definierbarem Krimskrams. Auf der Hauptseite des Wohnraumes befinden sich blaue Fliesen, hinter denen sich, der von der angrenzenden Räumlichkeit beheizbare Holzofen befindet. Eine runde Wanduhr hängt mit drei Blumenbildern auf einer Blumentapete. Bei oberflächlicher Betrachtung und ein paar Stunden Putzen kein ungemütlicher Raum.
“Das glaubst du nicht. Also ich weiß nicht wie ich das schaffen soll?”, sagt Tanja etwas aufgelöst in den Raum kommend. “Was?”, möchte ich wissen. “Warte, ich muss erst überlegen wir ich diese Herausforderung meistern kann”, antwortet sie sich auf den alten Diwan niederlassend und ihren Kopf auf die Hände stützend. “Na jetzt sag schon was ich nicht glauben soll?”, möchte ich ungeduldig wissen. “Ich muss dringend austreten. Aber auf diese Toilette kann ich nicht gehen. Kannst du sie dir bitte mal ansehen. Vielleicht bin ich ja auch übermüdet und sehe die Situation völlig überspannt”, antwortet sie. “Wir finden schon eine Lösung”, beruhige ich Tanja erstmal und mache mich auf, die Toilette zu suchen. Mitten im Gemüsegarten, zwischen all den Kohlköpfen, Kartoffelstauden, und anderen Pflanzen, steht eine betagte Holzhütte, die wie ein umgestürztes Dreieck aussieht. Schon oft habe ich diese seltsamen Häuschen in den sibirischen Gärten gesehen aber erst jetzt weiß ich was unter ihnen steckt. Es ist die Toilette. Klar, es gibt kein fließend Wasser und die übel riechenden Plumpsklos baut man so weit wie möglich vom Wohnhaus entfernt. Schon einige Meter vor dem umgestülpten Dach schlägt mir der Gestank von menschlichen Exkrementen entgegen. Mutig wage ich mich weiter heran und betrete das Bedürfnishäuschen. Jetzt weiß ich was Tanja meint. Im Holzboten wurde in einen zehn Zentimeter hohen Absatz ein längliches Loch gesägt. Alles ganz normal. Nur der entsetzliche Gestank ist vielleicht etwas stärker als sonst. Aber als mein Blick in das Loch fällt muss ich mir mühe geben keine Übelkeit aufkommen zu lassen. Das Loch ist nahezu bis zum Anschlag voll geschissen. Nur wenige Zentimeter fehlen und die klebrige Masse tritt über das Ufer. Muss man dort seine Notdurft verrichten, wird man unweigerlich mit den Ausscheidungen der Vorgänger angespritzt. Zweifellos und ohne die geringste Übertreibung. Ich kann es nicht fassen. Die fesch aussehende Tonja, ihr Mann Sergej, Tochter Sascha, der fünfjährige Enkel Pascha und der zwanzigjährige Banditensohn nutzen für ihr Geschäft dieses ekelhafte Haus. Mein Blick bleibt für einige Sekunden wie gebannt in dem vollen Loch als ich urplötzlich das schmatzende Rascheln vernehme. Oh Gott. Der gesamte Inhalt bewegt sich in rasender Geschwindigkeit. Es sind Millionen von Maden die dort drin leben. Mir wird übel und ich hüpfe ins Freie.
“Du hast nicht übertrieben. Da gehe ich auch nicht hin”, sage ich. “Und was machen wir jetzt? Wir können doch nicht wieder gehen?”, fragt Tanja. “Mach einfach einen Spaziergang zu den Eisenbahngleisen. Dort findest du bestimmt einen Platz. Oder du begibst dich in einem günstigen Moment zum Ende des Gartens und kriechst unter die Büsche. Das ist alles besser als dieser üble Bunker”, schlage ich vor. “Oh, ist eine gute Idee. Und Denis?” “Ja?” “Danke, dass du es auch so siehst. Dachte schon ich übertreibe und werde etwas zu sensibel.” “Sensibel? Mein Gott Tanja. Ich habe schon viel erlebt aber so etwas schlägt dem Fass den Boden aus. Nein du bist mit Sicherheit nicht zu sensibel.”
“Tanja! Denis! Kommt doch bitte. Ihr könnt jetzt baden!”, ruft Tonja unser Gespräch unterbrechend. Während Tonja Tanja zeigt wo man hier baden kann tippe ich unsere Loggdaten in den Computer. Dann betritt Tanja wieder den dunklen, leicht muffig riechenden Raum. “Und wie war dein Bad? Ist es so wie in deinen Träumen?”, frage ich etwas ironisch lächelnd. “Draußen steht ein kleines aufblasbares Planschbecken. Da kann die Familie ein Bad nehmen. Sergej hat extra für uns Wasser eingelassen. Am besten du gehst da rein und wäscht dich. So habe ich es gemacht”, erklärt sie. Mit meinem Waschzeugbeutel bewaffnet schreite ich dann an dem Stinkhäuschen vorbei und entdecke das kleine Planschbecken. Wäre die Situation nicht so real würde ich kräftig und laut herauslachen. In meinem Reiseleben habe ich schon die skurrilsten Waschgelegenheiten gehabt. Tropische Flüsse, mit Piranhas verseuchtes Gewässer, Tümpel, Sumpflöcher, Pfützen, Wassertonnen, Duschen aller erdenklichen Bauarten und vieles, vieles mehr, aber in einem Kinderplanschbecken durfte ich noch nie meinen Körper reinigen. Als ich glaube keinen zu sehen, ziehe ich meine Unterhose aus und knie mich in das bunte Plastikgefäß. Neben mir schwimmen die Quietschenten von Enkelchen Pascha. Notdürftig kippe ich die Brühe über mich und seife mich ein. Als ich die sibirische Badeanstalt verlasse ist das Wasser so braun, dass man nicht einmal mehr die Füße der verschieden Quietschenten sehen kann. Dann lasse ich mich von der abendlichen Sonne lufttrocknen, ziehe meine Unterhose wieder an und begebe mich zur Unterkunft zurück.
Tonja hat sich noch mal aufgemacht, um im Dorf etwas einkaufen zu gehen. Ich nutze die Zeit und sehe mir den Garten und die Wohnhäuser genauer an. Überall wo mein Blick hinfällt entdecke ich Müll. Alles was man eventuelle Mal gebrauchen kann wird aufgehoben. Nicht geordnet, sondern in unkoordinierten Haufen. Überall wächst Gemüse. An manchen Stellen hat Tonja auch ein paar Blumen. Alte Socken und Strümpfe hängen neben einem Handtuch über dem Zaun zum trocknen. Ein Stromkabel mit historischem Stecker zieht sich durch die Erde und wartet nur darauf einen unaufmerksamen Erdbewohner einen tödlichen Schlag zu versetzen. Ich bin sprachlos wie Menschen hier leben und bin mir gleichzeitig bewusst, dass es in Sibirien noch viel Schlimmeres gibt. Tonja hat mit 10.000 Rubel (228,- Euro) im Monat einen topbezahlten Job. Ihr Mann Sergej ist der Fahrer vom Cafe und für die Besorgungen und Einkäufe verantwortlich. Er verdient 5.000 Rubel (114 Euro) Tochter Sascha arbeitet ebenfalls im Cafe und verdient 7.000 Rubel (159,- Euro) Ihr Mann Micha arbeitet im Bergwerk und verdient ebenfalls 10.000 Rubel (228,- Euro) im Monat. Nachdem uns Tonja von 70 Prozent Arbeitslosigkeit in ihrem Ort berichtet hat gehört diese Familie zu den Gesegneten Sibiriens. Viele Menschen haben überhaupt kein Einkommen und müssen von den Dingen überleben die sie anpflanzen oder an der Straße verkaufen. Manche leben am absoluten Existenzminimum, welches mit Worten nicht mehr zu beschreiben ist. Ich denke daran wie es uns Zuhause ergeht. Was ein Arbeitloser oder Sozialempfänger bekommt und erkenne mal wieder in welch einem superreichen Land ich geboren bin.
“Denis! Essen kommen!”, ruft Tonja meine Gedanken unterbrechend. Ich mache mich auf in das so genannte Sommerhaus. Meist ist das Sommerhaus ein Raum in dem sich auch die Küche befindet. Ich ziehe meine Schuhe aus und betrete die vor Schmutz strotzende Küche. Auf dem einst weiß gestrichenen Ofen versammeln sich angebrannte Töpfe. Auf dem Deckel des einen liegt eine Zahnpastatube, ein Bündel verwelkte Karotten, eine alte Zeitung, ein blauer schmutziger Socken. Im Topf neben an ist jemand beschäftigt gewesen Wilderbeeren zu kochen. Überall liegen vertrocknete Wilderdbeeren herum. Dazwischen ein Putzschwamm und eine Seife. Am Fuße des Ofens türmt sich der Müll von vielen Tagen. Er wird offensichtlich, zumindest zum Teil, aufgehoben um damit den Herd zu heizen. Auf dem Elektroherd reihen sich ebenfalls alte, schmutzige Töpfe. Auf einer Kochstelle wurde der völlig vergraute Wasserkocher abgestellt. Das weiße Kunststoffsofa, auf dem wir Platz genommen haben, strotzt vor Dreck und ist seit Jahren nicht mehr abgewischt worden. Die Regale quellen regelrecht mit Schachteln, Tassen, Kannen, Ölflaschen und was weiß ich noch allem über. In der nicht abgegrenzten Nebenkammer befindet sich Tonjas Bett. Ein vor sich hinflimmernder Fernseher, eine am Kabel hängende Glühbirne, ein paar staubige Zudecken, und herumliegende Klamotten, zeigen das Reich der Restaurantchefin. Als ich ein Foto von Tonja machen möchte setzt sie erst ihre Perücke auf. Das erspart die Morgentoilette und man sieht auch unfrisiert und ungewaschen gut aus.
“Kuschet, kuschet”, (“esst, esst”) fordert sie uns liebenswürdig auf vom reichlich Angebotenen zu nehmen. Ich denke nicht an das Plumpsklo, an das fehlende Waschbecken, um sich danach die Hände zu waschen. Vor allem denke nicht an all die Bakterien die hier zu Milliarden Zuhausen sein müssen und nehme mir ein Spiegelei. “Sind von unseren eigenen Hühner”, meint Tonja nicht ohne Stolz in der Stimme. Keiner fragt hier ob die Eier mit Salmonellen verseucht sind. Wer soll so etwas überprüfen? Wen interessiert es schon? “Hier nimm von dem Brot”, bietet Tonja an, greift mit ihren Händen danach und legt es mir auf den Teller. Es gibt Milchtee und zur Feier des Tages, einmal im Leben ausländische Gäste zu bewirten, eine große Flasche Bier. Tanja und ich sehen uns mit wissenden Blicken kurz an. Wir essen ohne daran zu denken davon eventuell krank zu werden, denn genau das ist es was krank macht. “Hier, Gurken aus dem eigenen Garten”, sagt Sergej, der uns gegenüber langsam seine Scheu verliert. Er hat sie extra gewaschen und legt sie mir auf den Teller. Wo er sie gewaschen hat weiß ich nicht. Ist auch egal. Die Mensche hier sind auch mit den geringen hygienischen Verhältnissen relativ alt geworden. Da wird uns ein kurzer Ausflug in ihre Welt nicht umbringen.
Es ist 23:00 Uhr als wir unter unser Brettschneidermoskitonetz krabbeln. Mit offenen Augen liege ich da und lasse den Tag Revue passieren. Grelle Blitze zucken am Himmel und erleuchten für kurze Augenblicke unsere Schlafstätte. Die Lampe über mir nimmt eine fratzenhafte Gestalt an. Oder? Habe ich mich getäuscht? Ein Bild an der Wand zwinkert mir zu. Das Rasseln des Kettenhundes vereint sich mit dem Donner der sich tief grollend nähert und Regen ankündigt. “Oh bitte lieber Gott, lass es morgen nicht regnen. Trotz der umwerfenden, liebevollen Gastfreundschaft wollen wir hier nicht bleiben. Eine Katze miaut. Die Transsibirische rattert vorbei und lässt das betagte Haus ein wenig wackeln. Sergej schläft aus Rücksicht seiner Gäste gegenüber im Bett seiner Frau. Er kommt nicht in das Winterhaus wo seine eigene Bettstatt auf ihn wartet. Lange bleibe ich liegen und lausche den fremdartigen Geräuschen und rieche die fremdartigen Gerüche. Dann muss ich plötzlich austreten. Ich setze meine Stirnlampe auf und wackle nach draußen. Es nieselt. Langsam und bedacht, gegen nichts zu treten, vor allem nicht auf die tödlich gefährliche Stromschlange, schreite ich in den Garten. Es geht vorbei an dem Stinkhaus, aus dem ich glaube es Schmatzen und Rascheln zu hören. Am äußersten Ende des Gartens pinkle ich an den Zaun. Irgendetwas brennt mich an den Waden und Schienbeinen. Fühlt sich wie Brennesel an. Da ich aber nicht auffliegen möchte lasse ich meine Stirnlampe ausgeschaltet. “Sehe morgen nach welch unangenehmes Graut hier wächst”, denke ich und schlüpfe vom Regen nass geworden wieder unter den Schlafsack.