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/Pawlodar Link zum Tagebch: TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 3

Zombies oder sind es doch menschliche Kreaturen?

N 52°18'18.0'' E 076°55'49.8''
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    Tag: 89

    Sonnenaufgang:
    05:40 Uhr

    Sonnenuntergang:
    20:11 Uhr

    Luftlinie:
    34.74 Km

    Tageskilometer:
    41.62 Km

    Gesamtkilometer:
    9756.47 Km

    Bodenbeschaffenheit:
    Asphalt/schlecht

    Temperatur – Tag (Maximum):
    27 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    15 °C

    Breitengrad:
    52°18’18.0“

    Längengrad:
    076°55’49.8“

    Maximale Höhe:
    172 m über dem Meer

    Maximale Tiefe:
    148 m über dem Meer

    Aufbruchzeit:
    07.30 Uhr

    Ankunftszeit:
    14.30 Uhr

    Durchschnittsgeschwindigkeit:
    15.54 Km/h

Wolken hängen tief und versprechen Regen. Wir beeilen uns das Lager abzubauen und schaffen es gerade noch vor dem ersten Schauer. Da es heute nicht all zu weit ist können wir uns etwas Zeit lassen. Wir stärken uns in einer Steppenraststätte. In der Raststätte gestern schmeckte das Essen sehr gut, heute serviert man uns eine kaum zumutbare halbverdorbene Nahrung. Noch dazu möchte uns die Wirtin beschummeln. Es macht Sinn nach wie vor jede Rechnung zu prüfen. Gutgläubigkeit wird hier wie in vielen Ländern der Erde manchmal ausgenutzt. Schwarze Schafe gibt es leider überall. Wir packen das gammelige Essen und das alte Brot ein, um einen nach uns kommenden Gast davor zu schützen. “Wir finden schon einen ausgehungerten Hund dem wir das Zeug geben können”, meint Tanja. Kaum zwei Kilometer weiter treffen wir auf einen Pferdehirten. “Für deinen Hund”, sagen wir. Er versteht und packt das Esspaket in seine Jackentasche. “Ob er es wirklich seinem Hund gibt?”, zweifle ich

Wir erreichen die Hässlichkeit Pawlodar. Eine unschöne Stadt wie viele im Osten. Auf der Straße steht “Ziel” geschrieben. Wir nehmen diesen Schriftzug als gutes Omen. Aufmerksam rollen wir mit dem Verkehr über den kaputten Asphalt, vorbei an Blockbauten mit ihren zerfallenen Fassaden, desolaten Fabrikhallen, Schlöten, rattern über verbogenen, sich aufwölbende Straßenbahnschienen und erreichen das Zentrum. An einer roten Ampel warten wir. Sie schaltet auf grün und ich trete wie immer kräftig in die Pedale. Ich überhole einen Bus. “Kräächchchch!”, reißt mich ein fürchterliches Geräusch aus meinen Gedanken und fährt mir gleichzeitig in die Glieder. Blitzartig drehe ich mich um und sehe wie mein Anhänger selbständig über die Straße schabt und in der Mitte der Fahrbahn stehen bleibt. Die Autos bremsen, fahren zum Glück einen Bogen. Der Bus hupt. Tanja hat ebenfalls rechtzeitig anhalten können und steht mit vor Schreck geweiteten Augen neben dem Bus. “Tröööhhht!”, Tröööhhht!”, Tröööhhht!”, lässt der ungeduldige Fahrer sein lautes Horn ertönen. Das Hinterteil des Busses ragt weit in die Straße und bildet vor den heranbrausenden Autos einen Schutz für meinen Anhänger. Nach der ersten Schrecksekunde haben wir die Situation erfasst. Schnell rollt Tanja zu mir, um mein Rad zuhalten. Im Laufschritt eile ich zu meiner traurig aussehenden Box auf Rädern. Ich packe sie an der gebrochenen Deichsel und ziehe sie aus dem Verkehrsknäuel auf den Gehweg. Dann hole ich mein Rad. Die gesamte Aktion dauert nicht länger als eine Minute.

Wild schnaufend stehen wir jetzt fassungslos an der Bushaltestelle und starren auf die gebrochene Verbindung zwischen Anhänger und neu eingebauten Haltewinkel. Für Augenblicke sind wir sprachlos. “Wow, da haben wir aber echt Glück gehabt”, stelle ich nach einiger Zeit fest. “Das kann man wohl sagen”, entgegnet Tanja. Ich beuge mich zur Deichsel hinab, um den Schaden zu inspizieren. “Kein Chance. Das kann man hier unmöglich reparieren. Die Deichsel ist in Ordnung aber jetzt ist das Anschlussstück zwischen Deichsel und Haltewinkel an einer sehr ungünstigen Stelle gebrochen. Das sieht hoffnungslos aus”, ist meine Diagnose. “Wie kann denn so etwas geschehen?” “Wir haben einen Anhänger von Used, eine Kupplung von zwei plus zwei und ein Rad von riese und müller. In der Werkstatt mussten wir die Teile der drei verschiedenen Firmen zu einem System umbauen. Damit die Deichsel und die Kupplung zusammenpassen, mussten wir das Kupplungsstück stark schröpfen. So konnten wir die zwei Systeme zusammenführen und verschrauben. Nie hätten wir damals gedacht, dass das geschröpfte Kupplungsstück brechen kann. Absolut unmöglich. Aber der Killerasphalt und die schlimmen Straßen haben es fertig gebracht. Ich kann keiner der Firmen einen Vorwurf machen. Es ist wieder an einer von uns manipulierten Stelle gebrochen. Da kann keiner etwas dafür”, schlussfolgere ich. “Verstehe. Ist auch egal ob jemand etwas dafür kann. Es ist nun geschehen und uns ist Gott sei Dank nichts passiert. Jetzt weißt du warum ich dich vor den Talfahrten ermahne nicht zu übertreiben. Nicht auszudenken wenn es da gebrochen wäre. Oder auch hier in der Stadt hätte der Hänger in ein Auto rauschen können. Ist aber nicht geschehen. Unsere Engel haben uns wieder einmal beschützt. Jetzt fragt sich nur was wir tun sollen?” “Woher soll ich das wissen?”, stöhne ich und denke an unser Visum welches in ein paar Tagen ausläuft und wir das Land verlassen müssen.

“Ich rufe Heiko von riese und müller an”, entscheide ich spontan und schalte mein Handy ein. “Es klingelt”, meine ich hoffnungsvoll. “Heiko Müller?” “Oh wie gut dich beim ersten Versuch gleich zu erreichen. Wir stehen hier im Berufsverkehr von Pawlodar, nicht weit weg von Sibirien”, sage ich und erkläre die prekäre Situation. “Kann man es reparieren?” “Nein Heiko, da sehe ich keine Chance.” “Na kein Problem, wir schicken dir ein Ersatzteil. Ich sage unserem Werkstattleiter Kay gleich bescheid. Er wird sich darum kümmern und dich anrufen”, meint er bevor die Leitung zusammenbricht. “Der Chip ist leer”, stelle ich fest und berichte Tanja von Heikos Vorschlag. “Sehr gut, dann brauchen wir jetzt nur noch eine Unterkunft. Lass uns erstmal ein wenig den Schock verarbeiten. Dann können wir ja überlegen wie wir hier wegkommen”, schlägt Tanja vor sich auf ein niedriges Geländer setzend. Während dessen gehe ich über die Straße und kaufe uns ein Eis. Kaum habe ich es in mich hineingeschleckt entscheide ich mir ein Zweites zu besorgen. “Wie steht es mit dir? Möchtest du auch noch eines?”, frage ich. “Kann nicht schaden”, höre ich mit Verwunderung, denn Tanja isst nur in sehr seltenen Fällen Eiscreme.

Geldmache oder Hilfe?

Als ich zurückkomme steht ein etwa 50 Jahre alter Mann neben Tanja und spricht auf sie ein. “Radfahren ist sehr schlecht für dich. Ist sehr schlecht für Frauen”, vernehme ich noch. “Das ist mein Mann”, stellt Tanja mich vor. Sofort wendet sich der Mensch an mich und versucht mir einzureden wie schlecht Rad fahren für Frauen ist. “Auch für dich ist es nicht gut. Da, das tut bestimmt weh, oder?”, fragt er und drückt mir unvermittelt mit seinem Daumen in den Brustkorb. “Nein das tut nicht weh”, antworte ich, zu verblüfft, um seine Hand von meinem Körper zu nehmen. Dann drückt er mir auf den linken Brustkorb mit gleichem Resultat. Ich versuche den seltsamen Herren zu ignorieren und beuge mich wieder über das Kupplungsstück.

“Sieht nicht gut aus”, meint der Mann. “Nein”, antworte ich und überlege gerade Tanjas Anhänger zu zerlegen, um ihre Kupplung an mein Rad zu setzen. Somit könnte ich Tanjas Anhänger auf meiner Box verspannen und wir könnten auf diese Weise zumindest eine Gastiniza erreichen. “Ist eine gute Idee”, lobt sie meinen Einfall. “Ich bin Taxifahrer. Mein Auto steht gleich da drüben. Ich fahre sie zu einem Hotel und danach zu meinem Freund. Er ist ein Topmechaniker. Der kann so etwas problemlos reparieren. Zu Zeiten der Sowjetunion war ich selber Chefingenieur. Ich kenne mich mit Mechanik aus. Das bekommen wir hin. Ist eine Leichtigkeit”, vernehme ich die Worte des Brustdrückers und sehe ihn prüfend an. “Vielleicht ist der Vorschlag des Taxifahrers die Rettung”, meine ich. “Wer weiß?”, überlegt Tanja. “Was kostet die Fahrt zum Hotel?”, möchte ich wissen. “300,- Tenge”, (1,62- Euro) antwortet er.

Nach kurzer Überlegung entscheiden wir dem Taxifahrer zu vertrauen. Wir laden Tanjas Anhänger in den Kofferraum seines Autos und befestigen das intakte Kupplungsstück an meinem Rad. Somit kann ich meinen Hänger wieder an mein Intercontinental klicken. Geplant ist nun mit dem Taxifahrer ein Hotel zu suchen während Tanja auf unsere Bikes achtet. Ich werde dann Tanjas Hänger an der Rezeption lassen, der Taxifahrer wird mich zu Tanja zurückbringen, worauf wir unsere Sumobikes zusammen ins Hotel fahren. Dann wären wir schon mal untergebracht und alles Weitere klären wir danach. Ein guter Plan. “Wenn du die Gastiniza ansiehst, lass den Hänger nicht im Auto!”, warnt mich Tanja noch, als wir auch schon losbrausen. Am Hotel angekommen bin ich erleichtert. Der Brustdrücker verlässt sein Taxi und schreitet mit mir zur Rezeption. Eine der beiden Empfangsdamen spricht zu meiner Freude perfekt Englisch. “Das Zimmer kostet 11.000,- Tenge. (60,- Euro) Ist das zuviel?” fragt sie. “Eine Menge Geld”, antworte ich erschrocken worauf die beiden Damen ihren Belegungsplan nach einem günstigeren Zimmer für 8.000,- Tenge (43,- Euro) durchstöbern. “Der Herr hat ein Problem. Er besitzt zwei große Fahrräder mit Anhängern”, mischt sich der Taxifahrer plötzlich ein. Die beiden Damen sehen mich entsetzt an. “Ein Fahrrad? Das können sie nicht mit ins Zimmer nehmen!” “Aber warum nicht? Bisher durften wir nahezu ohne Ausnahme unsere Räder ins Zimmer oder einen Raum stellen”, entgegne ich mich über meinen Begleiter ärgernd der mir hier auf ganz dumme Weise die Tour vermasselt hat. “Nein, wir haben angst sie machen unser schönes Zimmer kaputt”, sagt die Dame, weshalb wir eine Minute später wieder im Taxi sitzen. “Ich wusste dass dieses Hotel zu teuer ist. Ich fahre dich in ein anderes”, meint der Fahrer. Ich blicke ihn skeptisch an. Auf der Fahrt zurück frage ich mich warum er mir die Suppe mit den Rädern versalzen hat und warum er mich zu einem Hotel gebracht hat welches als teuer bekannt ist? Nach wenigen Minuten brausen wir an Tanja vorbei. Ich winke ihr zu. Am Stadtrand finden wir ein einfacheres Ostblock-Hotel für 5.000,- Tenge (27,- Euro) die Nacht welches auch unsere Räder akzeptiert. Obwohl ich langsam die Nase voll habe von den ewigen heruntergekommenen Unterkünften und meine Moral gerade einbricht, zahle ich für die erste Nacht. Dann geht es wieder zu Tanja zurück. Als 20 Minuten später die Räder in der Gastiniza untergebracht sind schlägt der Taxifahrer vor mich noch heute zu seinem Mechanikerfreund zu bringen.

Obwohl ich nach den Gewitterfahrten, dem Bruch der Kupplung und dem ständigen Hin und Her hundemüde bin, entscheide ich mich dem Mann weiter zu vertrauen. Bisher haben uns alle Menschen in Kasachstan geholfen. Auch er macht eigentlich einen ehrlichen Eindruck. Auf der Fahrt durch die Stadt frage ich mich ob er die Fahrten als normale Taxikosten abrechnet? “Wir arbeiten jetzt zusammen. Nichtwahr? Ich habe Verwandte in Würzburg. Ich helfe euch euer Problem zu beheben”, sagt er plötzlich und beantwortet somit meine augenblicklichen Gedanken.

Zombies oder sind es doch menschliche Kreaturen?

Wir parken vor der Arbeitsstätte seines Freundes. “Die Firma wurde schon vor 10 Jahren geschlossen”, sagt der Pförtner. “Seltsam”, geht es mir durch meine müden Gehirnwindungen. “Wie kann es sein das er nicht weiß das sein Freund hier schon seit 10 Jahren nicht mehr arbeitet?” Wir fahren zu einer anderen kleinen Maschinenfabrik. Vier Menschen sitzen auf bröckeligen Backsteinen vor einem heruntergekommenen Gebäude. Der Taxifahrer, dessen Namen ich gleich nachdem er sich vorstellt wieder vergessen habe, geht zu den Männern. Er zeigt meine gebrochene Kupplung und erklärt woher ich komme und wohin wir radeln wollen. Keiner der vier Anwesenden sieht nach oben oder schenkt mir einen Blick. Einer von ihnen nimmt das Teil desinteressiert in die Hände und starrt darauf. Seine rechte Gesichtshälfte ist mit Warzen und einer roten Hautflechte entstellt. Gelangweilt gibt er die Kupplung seinem Nachbarn der unaufhörlich Sonnenblumenkerne aus einer Tüte holt, sie in den Mund steckt, darauf beißt und die Hüllen auf dem Boden vor unsere Füße spuckt. Erst jetzt bemerke ich, der Sonnenblumenspucker ist eine Frau. Unter ihrem völlig verschmutzten blauen Overall drücken sich eindeutig ihre Brüste durch. Ihre Haare sind genauso kurz wie die der Männer neben ihr. Ihre Mimik ist die eines Mannes. Noch nie in meinem Leben habe ich so eine Frau getroffen die sich der männlichen Welt so angepasst hat. Selbst ihre Stimme verrät kaum ihre Weiblichkeit. Auch sie starrt mit hohlen, glanzlosen Augen auf das Stück Aluminium und reicht es, genau wie der Mann neben ihr, weiter. Der Ruß verschmierte Nachbar, dessen Gesicht von Falten gezeichnet ist, macht sich nicht mal die Mühe es länger als zwei Sekunden in den Fingern zu halten oder dem Vierten Mann neben ihm, dessen graues Gesicht hinter einer dicken Hornbrille steckt, zu geben, sondern reicht es kopfschüttelnd dem Taxifahrer. Der wird wütend und schimpft. Auf dem Weg zu seinem Taxi kommt der Direktor. Wir tauschen ein paar Worte. Der Direktor gönnt mir auch keinen Blick, weshalb ich mich langsam so fühle als wäre ich gar nicht vorhanden. Er murmelt ein paar Russische Wörter, zuckt mit den Schultern und dreht sich einfach um.

“Bolschoi Problem”, (großes Problem) Ein wirkliches bolschoi Problem”, meint der Taxifahrer während der Weiterfahrt sich wiederholend. Ich denke an Heiko von riese und müller, an Nick von zwei plus zwei und an Bob von Used und hoffe innig, dass sie uns mehr helfen können. Diesmal halten wir in einem Werkstatthof. Hinter jeder Tür stampfen und stöhnen Metall verarbeitende Maschinen. In meiner kurzen Radhose und verschwitzten Radshirt gekleidet folge ich dem Taxifahrer in eine der fensterlosen Werkstätten. Dicke Luft und Lärm schlägt uns entgegen. Überall liegt Schrott, Metall, und Eisenteile herum. Diffuses Licht fällt aus den wenigen Lampen auf die Arbeitsplätze. Es kommt mir so vor als hätten wir eine Höhle betreten in der stumme Wesen der Unterwelt arbeiten. Die Stimmung ist traurig, freudlos, abgestumpft. Auch hier nimmt uns keiner wahr. Die Männer hinter ihren Dreh- und Bohrmaschinen heben für keinen Augenblick ihren Kopf als wir an ihnen vorbeigehen. Ein etwa dreißigjähriger Mann mit Kopftuch und Ohrring zeigt zur Tür und schickt uns über den Hof zu einer anderen Werkstatt. Dort hämmert uns Poppmusik entgegen. Pin up Girls verzieren die Wände und es wirkt etwas sauberer. Durch das Tor fällt Tageslicht und der anwesende Mechaniker wirft einen kurzen Blick auf mich. Meine Hoffnung steigt und wird sogleich wieder mit seinem Kopfschütteln zu Nichte gemacht.

“Bolschoi Problem (großes Problem) du hast wirklich ein bolschoi Problem”, sagt der Taxifahrer wieder auf der weiteren Fahrt durch die Stadt. “Ja”, antworte ich mittlerweile auch apathisch und hundemüde. “Ich rufe Tanja an um ihr zu erklären noch immer erfolglos unterwegs zu sein. “Keine Ahnung was er verlangt. Er sagt er hilft uns”, antworte ich auf Tanjas Frage was die Taxiaktion kosten wird.

“Wir haben noch eine Chance. Es gibt hier eine große Fabrik die Tracktoren bauen. Zur Zeiten der Sowjetunion waren da mal 25.000 Menschen beschäftigt. Jetzt ist viel kaputt aber die Firma existiert noch. Die können uns bestimmt helfen”, erklärt der Taxifahrer, weswegen wir vor riesigen Hallen halten, die so aussehen als wären sie schon vor vielen Jahren einem Bombenangriff zum Opfer gefallen. Der alte Pförtner füllt für uns einen Passierschein aus mit dem wir die Anlage betreten dürfen. Erstmal laufen wir einen halben Kilometer an Gebäuden vorbei deren glaslose Fenster wie leere Augenhöhlen wirken. Dann treten wir durch ein etwa 15 Meter hohes, verrostetes und verbogenes Tor in eine riesige Halle in der es keine Menschen gibt. Wir schreiten ein paar hundert Meter voran, biegen um eine Ecke und befinden uns urplötzlich in der Maschinenfabrik. Menschen stehen an Meterhohen Bohr-, Fräs-, Hobel- und Drehmaschinen. Wieder das gleiche Bild der reaktionslosen menschlichen und armseligen Gestalten. Nur ist hier alles um Dimensionen größer. “So muss es in der Hölle aussehen”, denke ich mir, denn viel schlimmer kann es am Ort der Verdammnis nicht sein. Wie in einem gut produzierten Thriller fliegen Funken und glühende Metallsplitter durch die Luft. Wir laufen direkt daran vorbei. Um meine Augen zu schützen halte ich meine Hand vors Gesicht.

“Ääähhh!”, brüllt uns plötzlich ein etwa siebzig Jahre alter Mann nach. Der Taxifahrer ist schon zu weit voraus, um den Ruf des Krummbeinigen zu hören. Um in keine der Maschinen zu laufen, von keinem der glühenden Splitter verletzt zu werden, konzentriere ich mich auf meinen Weg durch die wenig beleuchtete Unterwelt. “Äääähhh!”, brüllt uns der kleine alte Mann hinterher. Als er bemerkt, dass wir nicht reagieren, humpelt er uns nach. Der Taxifahrer hält plötzlich inne, dreht sich um und bemerkt den wild gestikulierenden Alten hinter uns. “Dort müsst ihr hin!”, ruft der Arbeiter aus einer vergangenen Zeit und weist uns den Weg zum Ende dieser Konstruktionshalle. Es geht vorbei an schweren, groben Eisenteilen, an halbfertigen Achsen, Rädern und sonstigem verrostetem Zeug welches ich in der Schnelle nicht definieren kann.

Am Ende der Fabrikhöhle wartet ein Mann, in weißem Hemd, guter Hose und geputzten Schuhen, auf uns. Es ist der Manager dieser Abteilung. Er trägt ein Kreuz um den Hals, besitzt einen gepflegten Haarschnitt und sieht absolut wie ein Chef aus. Während der Taxifahrer unser Problem erklärt, dabei immer wieder auf mich deutet, lasse ich meine Augen durch die Welt des Untergangs schweifen. Ein etwa 15 Meter langes und 5 Meter hohes vergilbtes Plakat baumelt über uns in der baufälligen Deckenkonstruktion des Gebäudes. Es zeigt die heile Welt des Arbeiters und die heile Welt des verheißungsvollen Kommunismus. Mir stellen sich die Haare zu Berge und ich kann kaum glauben was ich hier sehe. Klar ist der Kommunismus zusammengebrochen. Kaum noch jemand scheint an die Funktionsfähigkeit dieses Systems mehr zu glauben. Klar bin ich hier per Zufall in eine der alten Produktionsstätten geraten die mit der heutigen Zeit nichts mehr zu tun haben. Und doch schuften die Menschen hier anscheinend noch unter den gleichen menschenunwürdigen Bedingungen wie eh und je. Es schüttelt mich regelrecht und ich bin froh nicht in solch ein Schicksal hineingeboren worden zu sein. Ich bin heilfroh und glücklich ein freies Leben als Reisender und Abenteurer leben zu dürfen. Welche Chancen haben diese Menschen hier schon, jemals in ihrem Leben, ihr elendiges, armseliges Dasein zu verlassen? Nur der Tod kann viele der schmutzigen, leblos aussehenden Gestalten von dem Grauen hier befreien.

Das unaufhörliche Geplapper des Taxifahrers dringt wieder an meine Ohren. Der Manager oder Direktor würdigt mich keines Blickes. Ich sehe ihn konzentriert an, jedoch nicht ein einziges Mal schweift sein Auge oder nur ein Zucken der Pupille zu mir herüber. Eine völlig neue Situation für mich hier in Kasachstan. Bisher wollte man ständig den Kontakt zu uns. Man hat uns beschenkt, beklatscht, gratuliert und wir waren sogar zu Gast bei einem Bürgermeister. Und jetzt bin ich für die Anwesenden unsichtbar. Ohne Zweifel bin ich hier nur ein armer Ausländer der sein Statussymbol nicht dabei hat. Ja, unsere Räder schaffen oftmals den Kontakt zu den Menschen, nicht unser Aussehen und nicht unsere Erscheinung. In diesem Moment ist diese Tatsache eine bald dramatische Ernüchterung. Meinen Gedanken weiter nachhängend folge ich dem Manager und Taxifahrer in eine große Werkstatt eines Seitentrakts. Auch hier stehen mächtige Maschinen. Sie scheinen noch in Betrieb zu sein, jedoch treffen wir nur auf einen einzigen Menschen dessen Rücken sich gerade über seine Werkbank krümmt. Als er uns bemerkt blickt er uns mit leblosen Augen entgegen. Er sagt kein Wort und reagiert mit keiner Silbe auf meinen Gruß. “Klar, ich bin hier ein wertloses unsichtbares Nichts”, geht es mir durch den Kopf. Der Manager spricht ein paar Worte mit dem etwa 1,90 Meter großen Menschen auf dessen Nase eine dicke, kaputte Brille sitzt. Noch während der Manager mit seinem Arbeiter spricht steht er kommentarlos auf und verlässt den Raum.

“Du musst dem Direktor Geld geben”, flüstert mir der Taxifahrer ins Ohr. Nun bin ich völlig überfordert. “Geld? Warum? Und wenn ja, wie viel?”, frage ich mich. “Ich muss jetzt zum Essen”, meint der Mann in seinem weißen Hemd. Der Taxifahrer reagiert nicht und quatscht weiter. “Ich muss jetzt essen”, wiederholt sich der Mann in seinen Lackschuhen mit Nachdruck, dreht sich um die Achse und verlässt die alte nach Rauch, Öl und Schmiere stinkende Werkstatt. Mein Blick kreuzt sich mit dem des Taxifahrers. Er zuckt nur mit den Schultern. “Ich habe dir gesagt du sollst ihm Geld geben”, meint er lapidar. “Für was denn?”, möchte ich wissen. “Damit wir hier weiterkommen”, erklärt er. “Okay, verstehe. Und wie viel Geld gibt man in so einem Fall?”, interessiert es mich. “Keine Ahnung.” “Keine Ahnung? Na wenn du es nicht weißt, woher soll ich es denn wissen?”, sage ich womit das Thema gestorben ist. Der Taxifahrer wühlt  nun in dem Werkzeug herum. “Was machst du da?”, frage ich. “Na wir müssen deine Kupplung zerlegen. Wir müssen wissen wie sie aufgebaut ist. Dann kommt das Teil zum Konstrukteur in den zweiten Stock. Der sieht sie sich an und entwirft eine Neue. Die wird dann, wenn wir Glück haben hier gebaut”, höre ich und mir bleibt der Mund offen stehen. “Das hört sich ja so an als dauert es eine Weile. Wir müssen in ein paar Tagen weiter, außerdem kann so etwas doch irre teuer werden”, stammle ich auf Russisch so gut es nur geht. Der Brustdrücker reagiert nicht. Ich gehe davon aus nicht verstanden worden zu sein. Er spannt jetzt die Kupplung in einen Schraubstock, nimmt einen Eisenbolzen und schlägt diesen mit einem Hammer auf eine kleine daran befindliche Schraube. “Da geht sie dahin”, denke ich und hoffe inständig auf Hilfe unserer Sponsoren.

Der Arbeiter mit der Hornbrille hatscht wieder in seine Werkstatt. In juckt es anscheinend wenig das sich der Taxifahrer hier selbst bedient. Die beiden tauschen ein paar Worte. Ich stehe daneben und werde nach wie vor übersehen. Selbst als ich etwas sage sieht es so aus als sei der Arbeiter auch noch taub. Er nimmt jetzt die angehämmerte Kupplung, schlurft zu einer der großen Bohrmaschinen und bearbeitet sie mit dem Bohrer der gerade eingespannt ist. “Das ist es. Jetzt stirbt gerade der Rest der Kupplung”, geht es mir durch den Kopf. Tatsächlich fällt ein Metallstift heraus und das Plastikgehäuse kann von der Metallhülle gezogen werden. Der Manager taucht mittlerweile wieder auf. Er spricht mit dem Arbeiter. Der greift sich eine Schachtel mit Zigaretten, öffnet sie und stülpt, zu meiner Verwunderung, seinen Mund darüber. Gekonnt fingert er mit seinen Lippen und der Zunge einen der Klimmstängel heraus und zündet ihn an. Der Taxifahrer stochert währenddessen mit einem Schraubenzieher im inneren der Kupplung herum und nachdem das Schloss und alle anderen Kleinteile herausklimpern, lacht er befreit und zeigt mir den Siegesdaumen. “Jetzt ist sie gestorben”, weiß ich. Nur eine Minute danach verlässt der Chef den Raum. Der Taxifahrer zuckt erneut mit der Schulter, schnappt sich die Einzelteile der Kupplung und verlässt im schnellen Schritt die Werkstatt. “Das wäre zu Zeiten der Sowjetunion nicht geschehen. Da hätten sie alles repariert. Aber jetzt funktioniert schon gleich gar nichts mehr”, schimpft er auf dem Weg zum Auto.

Noch eine Möglichkeit

“Ahhh, da fällt mir noch etwas ein. Eine Möglichkeit gibt es noch”, sagt er worauf wir wieder irgendwohin fahren. “Warte hier”, befiehlt er mir und verschwindet 10 Minuten nach dem Fabrikdesaster in einer anderen Werkstatt. Als er wiederkommt erklärt er: “Hier arbeitet der beste Mechaniker der Stadt. Ist mein Freund. Hätte gleich an ihn denken sollen. Er ist zwar Alkoholiker aber wenn er nicht trinkt ist er geradezu ein Genie. Sein Chef sagt er kommt in 30 Minuten zur Spätschicht. Wir sollten hier warten.” Eigentlich schon lange am Ende meiner Kräfte und kaum noch in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen stimme ich zu und warte mit dem Mann in seinem alten Audi. Er spricht mittlerweile von den russischen Präsidenten. Welcher gut und welcher schlecht war. “Putin ist ein guter Mann. Unser Präsident auch. Euer Kohl war nicht schlecht und eure Angela Merkel ist nicht einzuschätzen. Sie bewegt sich in der Politik mal dahin und mal dorthin”, plaudert er ohne Punkt und Komma.

Mittlerweile sind 40 Minuten vergangen. Wir haben das Taxi verlassen und er möchte mich überzeugen im oberen Rückenbereich und im Lenden Wirbelbereich völlig verspannt zu sein. Durch die vielen Gespräche weiß ich, dass er einen Teil seines Lebensunterhaltes als Masseur verdient. Jetzt ist mir zumindest klar warum er vor knapp fünf Stunden an der Bushaltestelle seinen Daumen auf meinen Brustkasten gedrückt hat. “Zwei Massagen mache ich am Tag. Nicht mehr. Das ist zu anstrengend. Ich bin ein Topmasseur. Fünf bis Zehn Behandlungen und die Menschen haben ihre Probleme für mindestens drei Jahre verloren. Ich zeige ihnen nämlich auch wie sie sich nach dem Sitzen verhalten müssen. Schau etwa so”, meint er, zieht seinen Kopf bis zu den Schultern ein, streckt seinen Brustkorb heraus und läuft vor seinem Taxi auf und ab. Als ich es ihm nachmache sagt er: “Nein nicht so. Du musst gleichzeitig deine Bauchmuskeln anspannen. Etwa so. Sieh her”, meint er und läuft wie ein Stock herum. Dann hört er auf mir etwas über Massage und Körperhaltung zu erzählen. Abrupt wendet er sich, öffnet seinen Kofferraum, holt einen Schwamm und ein paar Wasserflaschen heraus und beginnt vor meinen Augen seine alte Kiste zu putzen. “In welchen Film bin ich da nur hineingerutscht”, geht es mir durch den Kopf. Mittlerweile ist es 19:00 Uhr. Das Wodka trinkende Genie ist noch immer nicht erschienen. Wahrscheinlich hängt er gerade an der Flasche oder es gibt ihn überhaupt nicht. “Denis? Was machst du hier nur?”, flüstert eine immer lauter werdende Stimme in mir. “Das macht keinen Sinn mehr. Lass uns zurückfahren. Wir können es ja morgen noch mal versuchen”, sage ich nachdem das Auto fast fertig gewaschen ist. “Morgen hat er keine Schicht”, höre ich. “Und heute ist er besoffen”, erwidere ich, worauf er ohne jeglichen weiteren Einwand in sein Auto springt und mich zur Gastiniza fährt die zu meiner Verblüffung nur drei Minuten entfernt ist.

“Was bekommst du für deine Dienste?”, stelle ich nun die Frage die ich schon vor Stunden hätte stellen sollen. “Normalerweise bekomme ich 1.500,- Tenge in der Stunde. Aber da du mein Freund bist brauchst du nur 1.000,- Tenge die Stunde zu bezahlen. Das heißt also 5.000,- Tenge.” Da er nach seiner eigenen Erzählung als gut bezahlter Masseur 300,- Tenge pro Massage bekommt und diese 1 ½ Stunden dauert, bin ich über seinen hohen Preis überrascht. Jedoch bin ich zu müde, um mit ihm jetzt auch noch zu verhandeln und drücke ihm einen 5.000,- Tengeschein in die Hand. “Selber Schuld wenn du nicht nachfragst. Bist du nun Reiseprofi oder nicht?”, höre ich die innere Stimme. “Ich fahre später noch mal zur Werkstatt. Wenn er nicht da ist bringe ich dir die Teile heute Abend noch vorbei”, bietet er mir an. “Was kostet das?”, will ich wissen meine Lektion gelernt zu haben. “Nichts”, antwortet er. Ich frage mich ob ich ihm die beiden Kupplungen lassen kann. Wenn er nicht wieder kommt haben wir ein Problem. Leider benötigt er das noch intakte Verbindungsstück als Vergleich, meint er. Wieder vertraue ich und gebe ihm die beiden Teile mit.

Eine Stunde später ist er wieder da. “Er ist anscheinend tatsächlich betrunken”, sagt er wie so oft an diesem Tag mit der Schulter zuckend. “Deine Teile habe ich an der Rezeption abgegeben. Ich komme morgen wieder vorbei. Mir sind noch ein paar Ideen gekommen”, lacht er. “Was kostet das?”, interessiert es mich jetzt gleich. “Wie, was kostet das?” “Na, was kostet es wenn du mich hin- und herfährst?” “Verstehe ich nicht?”, meint er mit schuldloser Mine. Nun wird mir endgültig klar, dass er sich jetzt dumm stellt und ein weiteres äußerst lukratives Geschäft in mir wittert. “Was kostet es wenn du mich herumfährst?”, frage ich erneut in ganz klarem Russisch. “Ach so! Na du weißt doch. 1.000.- Tenge die Stunde. Aber nur für dich.” “Nein danke. Das ist zu teuer.” “Das ist doch nicht teuer! Eine Stunde mit dem Taxi in Deutschland, das ist teuer.” “In Deutschland nutze ich kein Taxi um herumzufahren.” “Aber was willst du machen? Deine Kupplung ist kaputt. Du weißt doch, du hast ein otschin bolschoi Problem (sehr großes Problem) ein otschin bolschoi Problem.” “Ich weiß. Wir werden es schon in den Griff bekommen”, antworte ich nicht mehr auf seine Angstmache einsteigend und verabschiede mich.

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