Über den Wolken und Puls des Lebens
N 22°21’42.1’’ E 103°14’40.1’’Datum:
16.07.2016
Tag: 385
Land:
Vietnam
Ort:
tt. Sin Ho
Breitengrad N:
22°21’42.1’’
Längengrad E:
103°14’40.1’’
Tageskilometer:
65 km
Gesamtkilometer:
17.582 km
Luftlinie:
23 km
Durchschnitts Geschwindigkeit:
13.0 km/h
Maximale Geschwindigkeit:
60.1 km/h
Fahrzeit:
05:50 Std.
Bodenbeschaffenheit:
Schotter / Asphalt
Maximale Höhe:
1.750 m
Gesamthöhenmeter:
48.088 m
Höhenmeter für den Tag:
1.882 m
Sonnenaufgang:
05:31 Uhr
Sonnenuntergang:
18:54 Uhr
Temperatur Tag max:
33°C
Temperatur Tag min:
19°C
Aufbruch:
09:45
Ankunftszeit:
18:00
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
Als ich die Anhängerkupplung mit dem Drehverschluss schließen möchte, bleibt der Arretierungsbolzen stecken. Ich schüttle und rüttle daran, erreiche jedoch nichts. „Was ist?“, fragt Tanja. „Die Deichsel rastet nicht mehr ein“, erkläre ich wortkarg. „Das heißt?“ „Wenn sie nicht mehr einrastet wirst du deinen Anhänger während der Fahrt verlieren.“ „Bekommst du es wieder hin?“ „Wenn ich das wüsste wäre ich jetzt nicht nervös“, sage ich und frage mich ob in der Deichsel irgendetwas gebrochen ist. Ich säubere den Drehverschluss vom getrockneten Matsch und Teeresten und gebe ein paar Tropfen Öl hinein, doch auch dies bleibt vorerst ohne Erfolg. Der Gedanke in diesem abgelegenen Teil Vietnams wegen einer defekten Deichsel hängen zu bleiben treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Während ich mir den Kopf zerbreche wie das Problem zu lösen ist, rasen vier Kleinkinder laut schreiend und entsetzlich quietschend um mich herum. Immer wieder wollen sie Ajaci aufschrecken, der brav neben mir liegt und dem wilden Treiben gelassen zusieht. Nachdem die Kinder keinen Erfolg haben Ajaci in ihr Spiel mit einzubinden, kommt die Mutter herangeschritten, stellt sich vor Ajaci und klatscht direkt vor seiner Schnauze lautstark in die Hände. „Bleib Ajaci“, befehle ich ihm seine Position nicht zu verlassen. „No“, ermahnt Tanja die Rezeptionistin der ihr seltsames Verhalten bewusst geworden ist und sich wieder hinter dem Tresen verzieht. Ihre Kinder allerdings dürfen weiter wie wild gewordene kleine Krieger um uns herumstürmen. Trotz des Lärms blitzt mir ein Gedanke durch die heißgelaufenen Gehirnwindungen. Ich baue die Deichsel aus, trage sie vor das einfache Hotel, um mehr Licht zu haben, und klopfe mit meiner Zange heftig gegen den Verschluss. Mit dieser Aktion verspreche ich mir den Arretierungsknopf eventuell zu lösen. Nach einigen Schlägen schnapp es leise und siehe da, der Verschluss funktioniert wieder. „Hätte das in den letzten Monaten ab und an ölen sollen“, werfe ich mir selbst vor, bin aber froh unsere Reise heute fortsetzen zu können.
Um zu unserer heutigen Destination, dem Dorf tt. Sin Ho zu gelangen, sind wir laut Karte gezwungen einen großen Bogen zu fahren, so dass wir am Ende mindestens 120 km unter die Räder bringen müssten. „Bei diesem massiven Gebirge ist so eine Strecke nie und nimmer zu schaffen“, grüble ich laut. „Haben wir eine Alternative?“, fragt Tanja. „Es gibt eine kleine Nebenstraße die sich quer über die Bergkette zieht. Wenn wir die nutzen sind es nur 65 km.“ „Und was überlegst du da noch?“ „Du weißt doch, dass man uns eindringlich vor Nebenstraßen gewarnt hat. Sie sind angeblich meist nicht asphaltiert und wenn wir Pech haben versinken wir während der Regenzeit im kniehohen Matsch“, antworte ich. Wir rollen unsere E-Bikes gerade auf die Straße als sich die Himmelspforten öffnen und uns mit einem Wolkenbruch begrüßen. Schnell retten wir uns unter ein kleines Vordach und warten bis das Schlimmste vorbeigezogen ist. Als wir dann die schmale Nebenstraße gefunden haben, fragen wir einen Taxifahrer, der da zufälligerweise auf Kunden wartet, nach ihrem Zustand. „Super Straße. Alles asphaltiert“, sagt er lachend seinen Daumen nach oben streckend. „Cảm ơn bạn“, (danke) sagen wir und radeln los.
Die Sonne brennt sich ein Loch zwischen die Gewitterwolken und lässt den Untergrund dampfen, so dass man meinen könnte, wir queren den Boden eines Kochtopfes, der auf dem Feuer steht. „Was für ein Traum!“, frohlocke ich trotz der tropischen Hitze, über den nagelneuen schmalen Asphaltstreifen, an den saftigen grünen Reisfeldern entlangfahrend. „Der Taxifahrer hatte also recht!“, freut sich Tanja ebenfalls dicht an meinen Hinterreifen klebend. Kaum sind die beschwingten Worte in die schwülheiße Luft gesprochen, hört der Bitumen schlagartig auf. „Ist sicherlich nur für ein paar hundert Meter“, bin ich zuversichtlich, nicht wissend was an diesem Tag noch auf uns wartet. Urplötzlich dreht eine fette Wolke dem feuerspeienden Stern über uns das Licht aus und es beginnt heftig zu regnen. Unsere Reifen rollen über Asphaltstücke, groben Schotter, durch massive Pfützen, vorbei an Felsbrocken die vor nicht langer Zeit aus großer Höhe auf der Fahrbahn eingeschlagen sind. Baumaschinen jeglicher Art parken auf frei gebaggerten Geröllfeldern und warten auf ihre Fahrer, um den Bau der Gebirgsstraße fortzusetzen. Umso höher es geht, desto angenehmer werden die Temperaturen. Wasserfälle rauschen links und rechts die mit Moos und mit anderen Dschungelpflanzen bewachsenen gelbbraunen Felswände hinab. „Lass uns eine Pause einlegen und uns ein wenig abkühlen!“, ruft Tanja. Wir stoppen und strecken unsere Köpfe unter das erfrischende Nass. Ajaci springt in einen Bach und möchte gar nicht mehr raus. Die Landschaft um uns herum ist vom malerisch, schönem Urwald geprägt. Bis auf wenige Mopeds haben wir schon lange kein Fahrzeug gesehen. „Ob uns der Taxifahrer veräppeln wollte?“, fragt Tanja. „Vielleicht besitzt er eine andere Sichtweise. Zumindest sind große Bereiche des Untergrunds der Passstraße mit Schotter und Splitt gefestigt. Wahrscheinlich wird man hier in naher Zukunft einen Bitumenstreifen drüber ziehen. Wir können von Glück sprechen nicht im Matsch zu versinken“, meine ich trotz der Anstrengung bestens gelaunt.
Alle paar hundert Meter halten wir inne, stellen die Bikes auf die Ständer und blicken in ein kaum zu beschreibendes, wundervolles Tal. Mutter Erde spielt in diesem Bereich Vietnams alle Karten der Schönheit aus. Sprachlos setzen wir uns auf einen der groben Felsen und genießen den Augenblick, genießen den Puls des Lebens, die frische Luft, die wie auf der Kinoleinwand vorbeischwebenden schwarzblauen Gewitterwolken, den unter uns dampfenden Urwald und die saftigen Reisterassen die man ihm abgerungen hat. Der immer wiederkehrende Tropenregen hat die Luft reingewaschen, so dass unsere Augen an diesem herrlichen Tag nirgends anstoßen, unsere Blicke in die Ferne schweifen, bis sie sich ganz weit weg, in den grünen Tropenwäldern eines vielleicht 2.000 Meter hohen Felsriesen, verlieren.
Stunden später steigen wir noch immer nach oben, dorthin wo die Wolkendecke über uns schwebt, um sie bald zu durchstoßen. Wie eine braune Schlange windet sich die schmale Gebirgsstraße durch den Bergdschungel. Oftmals besteht sie aus Schlamm und unzähligen Wasserlöchern. Wir schlittern dahin und manchmal übernehme ich Tanjas Rad, um ihr zu helfen es über besonders kritische Stellen zu lenken. Wir queren Bäche und Rinnsale, die uns der eine oder andere Wolkenbruch beschert. Einer der wenigen vorbeifahrenden freundlichen Mopedfahrer hält an und hilft mir beim Schieben über eine dieser Barrieren.
Mittlerweile haben wir Akku Nummer vier eingesetzt. Noch besitzen wir je zwei Akkus und die wieder funktionierenden Backupbatterien, mit denen wir im Notfall je einen Stromsammler laden könnten. Auch wenn wir heute erst eine Strecke von knapp 50 km hinter und gebracht haben und unser GPS mittlerweile 1.600 überwundene Höhenmeter anzeigt, sind wir zuversichtlich mit unserem Energievorrat das Dorf tt. Sin Ho noch zu erreichen. Auf 1.750 m Höhe beginnt wieder Asphalt. Ab hier glauben wir alle Steigungen des Tages geschafft zu haben, jedoch führt die Passstraße nur für kurze Zeit in ein Hochtal nur um sich danach wieder nach oben zu schlängeln. Unsere Kraftreserven sind trotz der fantastischen Unterstützung der Elektroantriebe erschöpft. Die schlechte Piste, die tropische Hitze und der ständige wiederkehrende Regen fordern ihren Tribut. „Wir schaffen das!“, ruft Tanja, um uns zu motivieren. Die Sonne, welche sich auch am Abend immer wieder durch Wolkenschlitze kämpft, wirft ihre goldenen Strahlen auf die nasse Fahrbahn. „Nur noch fünf Kilometer, dann sind wir da“, gebe ich Tanja die Entfernung durch. Plötzlich geht es steil nach unten. Der Asphalt ist vom Dauerregen weggespült. Eine grobe Geröllpiste hat ihren Platz eingenommen. Vorsichtig lassen wir unsere Roadtrains über faustgroße Kieselsteine rollen. Wegen unseren zitternden kraftlosen Oberschenkeln ist es am Ende leicht möglich zu rutschen und zu fallen. Es geht vorbei an einfachen Hütten. Die Menschen sehen uns an als wären wir Geister. Dann, nachdem sie wissen, dass wir nicht vom Himmel gefallen, sondern nur Menschen sind, winken sie uns zu. Hello! Hello! Hello!“, vernehmen wir aus allen Ecken und Enden den freundliche Begrüßungsruf, an den wir uns mittlerweile gewöhnt haben. Jungs und Mädchen, auf ihren Wasserbüffeln sitzend, winken uns aufgeregt zu. Ein paar einfache Verkaufsstände der hiesigen Bergbewohner kauern am Pistenrand. Frauen sitzen im spärlichen Schatten bunter Plastikfolien. Ein etwa 30 Zentimeter langer Monsterwurm grabbelt über die heiße Straße und versucht sich in das feuchte Gras am Wegrand in Sicherheit zu bringen. Eine primitive Bretterhütte streckt ihr, mit Stroh gedecktes Dach, aus dem grünen Dschungel. Wir sind völlig ausgepumpt und halten an, um ein paar Minuten zu verschnaufen. Ajaci und ich erkunden das Wohnhaus der Bergmenschen. „Hallo! Hallo!?“, rufe ich. Keine Antwort. „Wahrscheinlich keiner Zuhause“, sage ich zu meinem Hund. Wir landen in der offenen Küche. Ein mit Asche gefülltes Loch im Boden ist die Feuerstelle. Fünf längliche Holzscheite sind aus dem erloschenen Feuer gezogen und liegen wie ein Fächer davor. Über zwei groben Steinen spannen sich drei dünne eiserne Stangen, auf denen ein verbeulter alter Kochtopf kauert. Ich knie mich ab und halte meine Hand über die Asche. „Sie ist noch warm“, sage ich zu Ajaci. Der primitiv geschnitzte Holzhocker steht daneben auf dem Lehmboden. Das aus Holz gearbeitete Gestell, durch welches sein Besitzer zwei Schulteriemen gezogen hat, zeigt die frühste Form eines Rucksacks. Alles was ich hier sehe erinnert mich an jenes einfache Leben der Indianerstämme in Südamerika, mit denen ich vor vielen Jahren mehrere Wochen gelebt hatte. Kaum etwas unterscheidet sich von der urtümlichen frühen Lebensform der ersten Siedler auf dieser Erde.
Auf einer weiteren Passhöhe angelangt zieht sich eine massive, dunkle, geschlossene Wolkenwand wie eine Zimmerdecke über die Berggipfel. Das Schauspiel ist einmalig und spektakulär. Vielleicht nur 50 Meter über uns scheint die Welt aufzuhören. Alles, aber absolut alles ist von der bedrohlich wirkenden Nebelschicht verschluckt, während die Sicht darunter klar und weit ist. Wir radeln weiter, werden im wabernden Geistermeer glitsch nass, durchstoßen es wie eine Speerspitze und schauen plötzlich aus der Adlerperspektive von oben auf den dahin ziehenden Brodem. Ungefähr vergleichbar als wären wir mit dem Flugzeug bei klarer sicht gestartet, hätten die Wolkenschicht durchflogen, um nur wenige Minuten aus großer Höhe von oben auf das weißgraue Meer zu blicken. Nicht zum ersten Mal an diesem ereignisreichen Tag sind wir vom Schauspiel unserer Mutter Erde fasziniert und würden ihr vor Begeisterung am liebsten einen anhaltenden Applaus spenden.
Wir gleiten nun durch eine Traumwelt von runden, mit saftig grünem Gras und Buschwerk bewachsenen Hügeln. Die letzten Sonnenstrahlen blinzeln durch eine noch höher gelegene Wolkenschicht. Dann geht es bis zum Dorf tt. Sin Ho für ein paar hundert Meter steil nach unten. Schnell finden wir das Gästehaus. Die Räder dürfen in einem großen Veranstaltungsraum nächtigen, während wir unser überhitztes Zimmer im zweiten Stock beziehen. Weil der Ventilator nicht funktioniert, tragen wir wieder alles in den ersten Stock. Dort beziehen wir ein anderes Zimmer und fallen um 21:00 Uhr halb bewusstlos vor Müdigkeit, aber glücklich über diesen unvergesslichen Tag, in einen tiefen Erschöpfungsschlaf…
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