Skip to content
Abbrechen
image description
E-Bike-Expedition Teil 3 China - Online-Tagebuch 2015-2016

Orientierungslos und wie Treibgut auf dem Ozean

N 40°46’18.4’’ E 113°08’57.1’’
image description

    Datum:
    20.10.2015

    Tag: 114

    Land:
    China

    Ort:
    Togrog Ul

    Breitengrad N:
    40°46’18.4’’

    Längengrad E:
    113°08’57.1’’

    Tageskilometer:
    79 km

    Gesamtkilometer:
    9.851 km

    Luftlinie:
    50,33

    Durchschnitts Geschwindigkeit:
    21,8 km

    Maximale Geschwindigkeit:
    50,5

    Fahrzeit:
    3:35 Std.

    Bodenbeschaffenheit:
    Asphalt

    Maximale Höhe:
    1.400 m

    Gesamthöhenmeter:
    5.550 m

    Höhenmeter für den Tag:
    405

    Seitenwind Windstärke: 7
    50 km/h

    Gegenwind Windstärke: 7
    50 km/h

    Sonnenaufgang:
    06:42 Uhr

    Sonnenuntergang:
    17:42 Uhr

    Temperatur Tag max:
    18 °C

    Temperatur Nacht:
    0 °C

    Aufbruch:
    09:40 Uhr

    Ankunftszeit:
    15:00 Uhr

    Platte Reifen gesamt:
    8

    Platte Vorderreifen:
    2

    Platte Hinterreifen:
    5

    Platte Anhängerreifen:
    1

(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)

LINK ZUR REISEROUTE

Es explodiert, kracht und pfeift als wir unsere Räder vor dem Hotel beladen. Wieder wird geheiratet, weswegen einige junge Männer der Brautgesellschaft mit einem heftigen Feuerwerk alle Vögel der Umgebung verscheuchen und schwerhörigen alten Leuten vor Schreck die Teetasse aus der Hand fällt. „Bring Ajaci ins Haus!“, rufe ich Tanja zu, der durch den Lärm verwirrt zu jaulen beginnt. Innerhalb weniger Minuten ist der Platz vor dem Hotel mit Papier- und Pulverresten völlig verdreckt. Die Managerin des Hauses stürmt über den roten Teppich, der den Gästen suggeriert etwas Besonderes zu sein, nach draußen, und unterbindet energisch das Abfackeln weiterer Kanonensalven. Seit wir in China sind erleben wir in jeder Stadt, egal ob Tag oder Nacht, Feuerwerke. Die Chinesen nutzen anscheinend jeden Anlass dafür. In der Kleinstadt Zhuozishan mit seinen ca. 240.000 Einwohnern kracht es besonders viel. Zugegeben war ich in meinem bisherigen Leben ein Fan von Feuerwerk, hier jedoch geht mir der Krach regelrecht auf die Nerven. Die zusätzliche Feinstaubbelastung der Luft, der zurückbleibende Schmutz und die Lärmbelästigung für alle Menschen und Tiere sind in manchen Städten enorm.

Wieder versammelt sich eine Gruppe interessierter Menschen um uns. Die E-Bikes werden bestaunt. „Was kostet so ein Rad?“, ist die häufig gestellte Frage. Da ich die Leute nicht schocken möchte antworte ich mit einem Schulterzucken. Die anfänglich griesgrämig dreinblickende Managerin des Hauses lächelt und berichtet den Fragenden mit hörbarem Stolz in der Stimme woher ihre exotischen Gäste kommen und wohin sie gehen. Sie antwortet auf viele Fragen und weiß über uns anscheinend mehr als wir ihr berichteten.

„Zaijian! Zaijian! Zaijian!“, (Auf Wiedersehen) rufen sie als wir unsere Rösser bei bestem Wetter in Bewegung setzen. Obwohl wir heute wieder nach Ulanqab zurückradeln ist unsere Laune bestens. Der Südwestwind bläst uns in den Rücken. Man könnte meinen, dass die Steigungen, die uns auf dem Hinweg so viel abverlangten, sich regelrecht vor uns verneigen, so dass wir sie mit Leichtigkeit überwinden. Nach knapp 2 ½ Stunden streifen wir über die breite Umgehungsstraße die Zweimillionenstadt Ulanqab. Plötzlich teilt sie sich in mehrere Richtungen auf. Die auf Chinesisch geschriebenen Hinweisschilder sind für uns nutzlos. Da zu meiner Verzweiflung plötzlich unser GPS Gerät ausgefallen ist und das Kartenprogramm MAPS.ME oftmals andere Städtenamen verwendet als Google Maps, wird die Navigation für mich zusehend zur Herausforderung. „Stopp!“, rufe ich, und damit Tanja nicht in meinen Hänger braust, hebe ich zusätzlich immer die rechte Hand. „Was ist denn?“ „Keine Ahnung welche der Straßen wir folgen sollen“, antworte ich über meine Landkarte gebeugt auf der man wegen dem Maßstab von 1,27 Millionen keine Details erkennen kann. Nervös schalte ich mein Smartphone aus und wieder an, in der Hoffnung das MAPS.ME wieder zum Leben zu erwecken. Ich habe plötzlich das Gefühl als würden wir ziellos auf dem Ozean treiben. Zum ersten Mal in meinem Expeditions- und Reiseleben ist die Orientierung ein Problem geworden, und das auf einem Radtrip. Auf allen bisherigen Expeditionsreisen, vor allem Wüstendurchquerungen, hatten wir aus Gründen der Sicherheit immer zwei GPS-Systeme im Gepäck. Auf unserer Rad-Expedition von Deutschland bis hierher sahen wir keinen Anlass sich mit einem Zweitgerät zu belasten. Wegen der Berichterstattung und Dokumentation unserer Reise besteht ein Großteil der Ausrüstung aus technischen Geräten. Eigentlich viel zu viel Gewicht für eine Radreise. Um die Kontinuität der Veröffentlichungen abzusichern ist vieles doppelt im Reisegepäck aber ein GPS nicht. In diesem Fall beißen uns die Hunde und ich ärgere mich am falschen Platz gespart zu haben. Aber was ist der falsche Platz? In Erenhot mussten wir wegen den Reifen und der Deichsel warten. Hätten wir auch diese Teile mitnehmen sollen? Irgendwann bricht auch das beste Rad zusammen, irgendwann kann auch ein E-Bikeantrieb das nicht mehr kompensieren und irgendwann sind auch gut trainierte Körper nicht mehr in der Lage alles mitzuschleppen. Also fallen Geräte aus und wenn dem so ist müssen wir sie uns im Notfall nachschicken lassen. Im Augenblick aber stehe ich da wie der Ochs vorm Berg und überlege welche Abzweigung die Richtige ist. Eine falsche Entscheidung kann uns schnell 20, 30 oder 50 Kilometer kosten, und da wir zusätzlich Strom für unsere Akkus benötigen ein Grund dafür sein auf der Strecke liegenzubleiben. Da uns zu dieser Stunde die Sonne vom Firmament entgegenstrahlt weiß ich zumindest die grobe Himmelsrichtung. Aber ob es einen Sinn ergibt sich nach ihr zu richten? Was ist wenn die Straße plötzlich in einen Bogen führt und ihre Befahrer in eine völlig andere Richtung bringt? „Man oh man. So ein Mist“, schimpfe ich als MAPS.ME sich urplötzlich fängt und mir unsere augenblickliche Position anzeigt. „Bingo! Wir sind wieder on track!“, rufe ich freudig. „Hier dürfen wir nicht abbiegen. In ein paar Kilometer kommt eine Brücke, dort müssen wir über die Eisenbahnschienen und dann nach rechts. Danach sollte es immer geradeaus gehen.“ Erleichtert lassen wir wieder den Gummi unter uns rollen und folgen ab jetzt der G208 in Richtung Süden. Kaum haben wir unsere Richtung verändert, bläst uns der Südwestwind mit Stärke 7 (55 km/h) entgegen und der Traum vom Dahingleiten ist schlagartig vorbei. An manchen der Steigungen sind wir gezwungen in den fünften Gang herunterzuschalten. Die Maximale Geschwindigkeit, die wir trotzt den vollen Einsatz unserer Oberschenkelmuskulatur zustande bringen, liegt bei 8 oder 9 km/h. Schnaufend und durch das schwer beladene Rad kurz vor dem Umfallen hecheln wir die Steigungen hoch. „Denis!!!“, brüllt es hinter mir gegen den bösen Wind. „Ja?!“ „Lass doch Ajaci aussteigen!“ Sofort ziehe ich die Bremse. „Das ich daran nicht schon früher gedacht habe?“, sage ich. Um Energie zu sparen lassen wir ab sofort Ajaci bei jeder Steigung neben mir laufen. Zumindest wenn der Verkehr nicht all zu schlimm und der Asphalt nicht scharfkantig ist. Auf diese Weise arbeiten wir uns gegen die Böen und auf und über die Erhebungen ohne das Ajacis Pfoten Schaden nehmen.

Um 15:00 Uhr entdecke ich am Straßenrand ein hässliches, gelbes Haus vor dem Lastwägen parken. „Ich glaube da gibt es was zum Essen“, vermute ich und lenke meinen Bock auf den sandigen Vorplatz. „Ob das ein Restaurant ist?“, wundert sich Tanja. „Ich frage mal nach“, antworte ich und betrete das Gebäude. Sofort empfängt mich angenehme Wärme. Tatsächlich befinde ich mich in einem einfachen Straßenrestaurant. Die Tische brechen vor Essenresten fast zusammen. Alles was nicht mehr draufpasst ist in Bergen auf dem Boden verstreut. Bei diesem Anblick verschlägt es mir fast den Atem. Ein Mann liegt mitten im Raum auf einer Art Bettstatt. Durch mein „Ni hao“, (Guten Tag) erwacht er mit verknittertem Gesicht. Als ich frage ob es etwas zum Essen gibt sieht er mich so böse an als hätte ich ihm gerade eine tracht Prügel für diesen Saustall angeboten. Er nickt, zumindest habe ich seine behäbige Kopfbewegung so verstanden. „Wir bleiben! Es gibt was zum Beißen und wir können unsere Akkus laden!“, rufe ich nach draußen, worauf Tanja ebenfalls ihren Roadtrain neben meinen stellt.

Kaum haben wir uns auf die wackeligen Hockern nieder gelassen erwacht das kleine Restaurant zum Leben. Ein Mann beginnt die Tische abzuräumen und den Boden zu kehren. Als Ajaci uns draußen vermisst und zu jammern beginnt erhebt der Mann seinen Besen gegen ihn. „Nicht!“, schimpft Tanja worauf er sofort davon ablässt. Schnell stecke ich meine Vierersteckerleiste in die Dose und hänge vier Stromsammler dran. „Wenn wir sie eine Stunde laden erreichen wir vielleicht heute noch die Stadt Fengzhen“, überlege ich. „Wie weit ist es bis dorthin noch?“ „Vielleicht 30 km.“ „Dann kommen wir in der Dunkelheit an.“ „So wie es aussieht ja. Ehrlich gesagt bin ich kaputt. Wenn wir vorher etwas zum Übernachten finden bleiben wir“, schlage ich vor. Tanja fragt zwei Lastwagenfahrer, die neben uns am Tisch sitzen und ebenfalls auf ihr Mahl warten, ob es hier in der Gegend eine Unterkunft gibt. „Zher“, (hier) ist seine unerwartete Antwort. „Und wie sehen die Zimmer aus?“, frage ich wenig später nachdem Tanja die Räume angesehen hat. „Sehr einfach, aber für eine Nacht okay.“ Wir sind uns einig bei den herrschenden Sturmböen und auf 5 °C gefallenen Temperaturen nicht mehr weiterzufahren. Wie immer klären wir ob wir Räder und Hund mit ins Haus bringen dürfen. Diesmal ist es Ajaci der nicht akzeptiert wird. Nach dem essen unternehme ich einen letzten Versuch um die Wirtin umzustimmen. Sie sieht mich freundlich an. „Shide“, (Ja) verlässt das Zauberwort ihren Mund. Warum auch immer sie ihre Meinung geändert hat wissen wir nicht. Ist auch egal, wir dürfen mit allem was wir haben rein. Schnell ist Ajaci und die Ausrüstung im aus reinem Beton gebauten Zimmer und die Räder unter der Treppe. Umgehend schließe ich die Akkus am Netz an. Auch die Pufferbatterien, die tagsüber durch unsere Solarpanels gespeist werden und unsere Joker sind, stöpsle ich in die Steckdose. „Ich glaube es nicht“, sage ich erschrocken. „Was denn?“ „Die Pufferbatterien sind beide tot.“ „Wie tot?“ „Sie gehen nicht mehr. Die Ladeanzeige ist schwarz und wenn ich sie an der Steckdose anschließe machen sie keinen Zucker.“ „Soll das heißen wir haben keinen Joker mehr?“ „Genau. Bis zum Akkunachschub von Bosch besitzen wir ab sofort nur noch 3 Akkus pro Person. Wir können nicht mehr wie bisher einen leeren Akku während der Fahrt laden“, erkläre ich und kann nicht glauben wie uns die Technik auf dieser Reise ständig Streiche spielt. „Woran kann denn das liegen, dass gleich beide ausfallen?“ „Vielleicht wurden sie tiefentladen? Was weiß ich. Könnte sein dass wir sie wieder in Gang bringen wenn wir sie mit einem externen Ladegerät powern. Aber wir besitzen keines und ich weiß auch nicht wo wir so etwas herbekommen sollen. Für uns bedeutet das auf den kommenden 150 km, bis zu dem Hotel in dem unsere 500 Wattakkus auf uns warten, ein noch besseres Energiemanagement an den Tag zu legen.“

Am Abend trinken wir noch ein Bier und essen ein paar gesalzene Erdnüsse, die sie in jedem Restaurant anbieten und auf einem kleinen Tellerchen serviert werden. Mittlerweile ist die Kneipe voll. Ich halte die Situation mit der Kamera fest. Sofort rückt sich jeder der Anwesenden in Position und möchte ebenfalls auf dem Bild erscheinen. Fotoscheu ist in China kaum jemand. Ein Traum für einen Fotografen. Da man als Fotograf oftmals sehr sensibel vorgehen muss, um die Würde des Menschen nicht zu verletzen und gute Szenen festhalten zu können, ist das hier im Land der Handys und Smartphones, wo alles was nicht niet und nagefest ist abgelichtet wird, nicht die erste Priorität. Auch der anfänglich böse dreinblickende Koch, den ich während seines Nachmittagsschlafes gestört hatte, lächelt mit seiner Frau freundlich in die Kamera. Die Wirtin frisiert daraufhin umgehend ihre Haare und will ein Porträt von Tanja und sich. Wir werden in ihre Wohnung eingeladen, um das Shooting zu durchzuführen. Kaum ist in das Smartphone gelächelt wird das Bild an Freunde und Verwandte geschickt. Spätestens ab diesem Moment ist das Eis vollends gebrochen und wir fühlen uns in der einfachen Unterkunft, in dem eine Ausländerlizenz keine Rolle spielt, sehr wohl…

Die Live-Berichterstattung wird unterstützt durch die Firmen Gesat GmbH: www.gesat.com und roda computer GmbH www.roda-computer.com Das Sattelitentelefon Explorer 300 von Gesat und das rugged Notebook Pegasus RP9 von Roda sind die Stützsäulen der Übertragung.

This site is registered on wpml.org as a development site.