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Russland/Baikalsk Link zum Tagebuch TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 4

Nur zwei Minuten

N 51°31'20.3'' E 104°09'01.4''
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    Tag: 70

    Sonnenaufgang:
    07:03 Uhr

    Sonnenuntergang:
    21:08 Uhr

    Luftlinie:
    84.31 Km

    Tageskilometer:
    150 Km

    Gesamtkilometer:
    13304.85 Km

    Bodenbeschaffenheit:
    Asphalt – Schiene – Asphalt

    Temperatur – Tag (Maximum):
    19 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    15 °C

    Temperatur – Nacht:
    8 °C

    Breitengrad:
    51°31’20.3“

    Längengrad:
    104°09’01.4“

    Maximale Höhe:
    700 m über dem Meer

    Maximale Tiefe:
    460 m über dem Meer

    Aufbruchzeit:
    16.30 Uhr

    Ankunftszeit:
    22.30 Uhr

    Durchschnittsgeschwindigkeit:
    12.54 – 50 Km/h

Während Tanja die seltene Gelegenheit nutzt, um eines der Internetcafes aufzusuchen, sitze ich in der unbequemen Hotellobby und speise die 750 Bilder unseres Dampflokerlebnis in das Archivierungsprogramms meines Laptops ein. Welch ein aufwendiger Job. Stöhnend klebe ich in dem Kunststoffsessel unterdessen direkt neben mir eine Frau Geld aus dem Automaten zieht. Ein Gast fragt nach ihrer Bluse, die sie vor einem Tag in ihrem Zimmer vergessen hat. Der Manager bespricht sich vor mir mit einem Geschäftsmann. Gerne würde ich unsere Fotos in unserem Zimmer bearbeiten aber da wir um 12:00 Uhr auschecken mussten nutze ich eben diesen unbequemen Ort. Draußen gießt es in strömen. Die Temperatur ist kurzfristig um 15 Grad gefallen. “Und bist du fertig?”, fragt Tanja am späten Nachmittag tropfnass vor mir stehend. “Ach was. Da brauche ich noch mindestens zwei Tage”, antworte ich mürrisch den Itronix zuklappend. Wir holen unsere Räder, Anhänger und Ortliebtaschen aus dem kleinen Gepäckraum im Keller des Hotels und schlichten alles in die Hotelhalle. Dort machen wir uns unter den neugierigen und verwunderten Blicken der Gäste und des Personals reisefertig.

Als wir unsere Bikes nach draußen tragen hat der Regen aufgehört. Da wir heute vor drei Wochen unser Baikalabenteuer begonnen hatten und seitdem nicht mehr mit unseren schweren Anhängern unterwegs waren, fällt es uns nicht leicht den voll beladenen Roadtrain durch den Berufsverkehr der Stadt zu manövrieren. Schon nach den ersten Metern sehne ich mich wieder auf die ruhige Insel Olchon zurück. Der Wahnsinnsverkehr einer Großstadt, die Abgase, der Stress und die vielen Fahrspuren erfordern unsere gesamte Aufmerksamkeit. Erleichtert erreichen wir den Hauptbahnhof der Stadt. Hunderte von Augenpaaren beobachten die zwei Ausländer wie sie ihre seltsam aussehenden Gefährde durch die Bahnhofshallen schieben. “Moschna fotografirowat?”, (“Darf ich fotografieren?” fragt eine ältere Frau ganz aufgeregt. “Moschna”, (“Sie dürfen”), antwortet Tanja freundlich während ich mich aufmache uns zwei Zugtickets zu besorgen. Schnell finde ich den richtigen Schalter. Die Beamtin ist überraschender Weise sehr freundlich und spricht sogar ein paar Worte Englisch. Da wir diesmal mit dem ganz gewöhnlichen Zug fahren möchten, indem man auch unsere Räder akzeptiert, kosten die Billets anstatt 1.000 Rubel (22.72 Euro) nur 166,- Rubel (3.77 Euro). Weil der Hotelpage vor wenigen Tagen die falschen Tickets gekauft hatte und das Hotel dafür eine Gebühr von 500,- Rubel (11.36 Euro) verlangte, freue ich mich über den Erfolg so schnell an die richtigen Fahrscheine gekommen zu sein.

“Weißt du von welchem Gleis der Zug abfährt?”, fragt Tanja die elektronische Informationstafel prüfend. “Ach du Schreck. Schau dir das an. Der Zug kommt um 18:48 Uhr und fährt schon wieder um 18:50 Uhr”, bemerke ich. “Oh weh. Wie sollen wir in nur zwei Minuten das richtige Gleis finden, die Räder mit Anhänger dorthin bringen und in den Waggong laden? Das ist doch unmöglich”, meint Tanja sichtlich nervös. “Ist es. Ich denke sie geben mindestens 10 Minuten vor Abfahrt das Gleis bekannt. Das dürfte genügen”, beruhige ich uns. Gespannt beobachten wir unentwegt die Anzeigetafel. Züge aus und nach Wladiwostok und Moskau kommen und gehen. Im Schnitt wird tatsächlich zehn Minuten vor Abfahrt das Gleis bekannt gegeben. Wir überlegen wie wir es fertig bringen sollen in dieser Zeit die Räder und Anhänger die steile Treppe nach unten zu bringen, den unterirdischen Gang zu den einzelnen Gleisen zu durchqueren, um dann wieder alles eine Treppe nach oben zu schleppen. “Wir bringen noch vor Bekanntgabe der Plattform schon mal die Räder die Treppe runter. Ich warte dann dort unten neben den Roadtrains und bleibe mit dir über die Treppe im Blickkontakt, während du die Informationstafel im Auge behältst”, ist mein Vorschlag. “Gute Idee”, antwortet Tanja. Zehn Minuten vor der Ankunft unserer Bahn ist noch immer keine Gleisnummer erschienen. Nervös werfen Tanja und ich uns Blicke zu. Tanja hält es nicht mehr aus und fragt am Schalter nach. “Sie müssen warten”, ist die Antwort. Noch sieben Minuten bis zur Abfahrt. Plötzlich gerät Bewegung in die wartenden Menschen. “Gleis fünf!”, ruft Tanja die Treppe herunter springend. Wir schnappen uns die Sumobikes und rasen den Gang entlang. Eine korpulente, freundliche Frau heftet sich an unsere Fersen. “Ich helfe ihnen”, sagt sie hektisch und ruft in die Menge nach hilfsbereiten Händen. Sofort tragen zwei junge Männer meinen Anhänger die Treppe hoch, während die Frau sich bemüht mit mir mein riese und müller nach oben über die Stufen zu schieben. Noch fünf Minuten bis Abfahrt. Plötzlich stürzt die Frau. Ich lasse mein Rad los. Es kippt zur Seite. Blitzschnell greife ich die Frau unter die Schultern und fange ihren Sturz ab. Die Hilfsbereite kauert nun schwer atmend vor mir auf den Knien. “Gehen sie, gehen sie nur!”, fordert sie mich auf sie zu lassen wo sie ist. Trotzdem helfe ich ihr hoch. “Haben sie sich wehgetan?”, frage ich besorgt, währenddessen die jungen Männer mit Tanja ihr Rad nach oben hieven. “Nein, nein. Kommen sie. Sonst verpassen sie noch ihren Zug”, mahnt die Dame mich zur Eile. Drei Minuten vor Abfahrt stehen unsere Helfer und wir schwer atmend am Bahnsteig. Die Frau hat sich bei dem Sturz ihre Hosen ruiniert. Mit Spucke versucht sie die Flecken an den Knien zu reinigen. “Balit?”, (Haben sie Schmerzen?”) frage ich noch mal. “Njet, njet” (“Nein, nein”) antwortet sie schnaufend und lächelt mich an. “Die Eisenbahn kommt!”, ruft jemand. Pünktlich fährt der Nahverkehrszug ein. “Schnell, schnell!”, fordert unsere Helferin wieder alle auf unsere gesamte Habe in den Waggong zu laden. Ich schnappe mir die letzten zwei Satteltaschen als sich die Türen schon wieder schließen und der Zug sich in Bewegung setzt. Tanja und ich blicken aus dem Fenster, um unseren Engelchen noch mal zu winken. Wir sehen nur noch wie sie leicht humpelnd wieder die Treppen nach unten steigt.

“Geschafft”, bläst Tanja erleichtert sich auf eine der Bänke niederlassend. “Wohin müssen sie?”, fragt mich ein Fahrgast. “Nach Baikalsk.” “Ah, bringen sie ihre Räder über die vielen hohen Berge?” “Ja. Das hat man uns geraten.” “War ein guter Ratschlag. Die Serpentinen sind schmal und stark befahren. Für Radler gefährlich. Wo wollen sie eigentlich hin?” “In drei Wochen läuft unser Visum für Russland aus. Dann müssen wir in der Mongolei sein.” “Malazee. (Fantastisch) Ich bin auch Radfahrer. Wenn sie eine helfende Hand beim Aussteigen benötigen unterstütze ich sie gerne”, bietet er an und setzt sich wieder ein paar Bänke hinter uns.

Wir genießen die wunderschöne Bahnfahrt über die bewaldeten Berge. Als wir wieder den Baikal erreichen geht gerade die Sonne unter. Um 22:30 Uhr hält der Zug für nur zwei Minuten an einem verlassenen Bahndamm mitten in der Pampa. “Schnell, schnell!”, ermahnt uns der Radler erneut zur Eile. Mehr werfend als tragend holen wir die Ortliebtaschen, Räder und Anhänger aus dem Waggong. Kaum haben wir alles auf die Wiese neben den Bahndamm geschlichtet, als der Nahverkehrzug Signal gibt und in der Finsternis verschwindet. “Und jetzt? Wo meinst du liegt Baikalsk?”, wundert sich Tanja. “Lass uns erstmal die Räder beladen”, antworte ich als ein ewig langer Güterzug bedrohlich dröhnend und dicht an uns vorbeidonnert. In der Schwärze der Nacht ist es an den Gleisen ein wenig unheimlich. Auf der anderen Seite der Schienen sind zwei Männer die uns Zigarette rauchend beobachten. Nachts unterwegs zu sein ist wegen dem enormen Alkoholgenuss der Russen nicht unbedingt ratsam. Aber jetzt haben wir keine andere Chance. “Wo liegt Baikalsk?”, frage ich eine dunkle Gestalt die sich aus der Finsternis löst und an uns vorbei geht. “Auf dem Schotterweg bis zur Straße, dann durchs Tunnel und immer rechts halten”, erklärt er. Wir besteigen unsere Rösser und treten sie in die Nacht. Es sind keine Menschen zu entdecken die wir nach dem weiteren Weg fragen können. Ich folge meinem Instinkt. Tatsächlich erreichen wir ein paar Wohnbunker. Jugendliche erklären uns die Richtung zur Gastiniza. Es dauert eine Weile bis wir die Unterkunft finden. Betrunkene Gäste stehen davor. “Wo kommt ihr denn her? Was aus Deutschland? Ha, ha, ha”, lachen sie. “Ich heiße Sergej”, sagt einer in gebrochenem Deutsch. “Wie sonst”, denke ich mir. Da Tanja wegen der Hauptsaison noch von Irkutsk ein Zimmer für uns reserviert hat wartet man schon auf uns. “Komm ich helfe dir. Hi, hi, hi”, meint Sergej völlig betrunken und möchte sich Tanjas Rad schnappen. “Neeiiin!”, ruft sie und rettet ihr edles Gefährt. Sergej lässt sich nicht abbringen und versucht nun den Anhänger die Kellertreppe hinunter zu wuchten. Es kostet uns viel Mühe und Kraft ihn davor zu bewahren beim Transport unsere Ausrüstung nicht zu ruinieren. “Ich helfe euch die Taschen ins Zimmer zu tragen”, kichert er immerfort sich geradezu tierisch amüsierend. “Vielen dank nicht nötig”, meint Tanja. “Hi, hi, hi. Aber unbedingt”, antwortet er. “Jetzt lass endlich die Gäste zufrieden!”, rettet uns die Frau von der Rezeption, woraufhin sich Sergej beleidigt trollt.

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