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Russland/Irkutsk Link zum Tagebuch TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 4

Helden der Schiene

N 52°16'26.0'' E 104°18'16.0''
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    Tag: 69

    Sonnenaufgang:
    07:00 Uhr

    Sonnenuntergang:
    21:12 Uhr

    Luftlinie:
    62.5 Km

    Tageskilometer:
    198 Km

    Gesamtkilometer:
    13154.86 Km

    Bodenbeschaffenheit:
    Schiene

    Temperatur – Tag (Maximum):
    23 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    18 °C

    Temperatur – Nacht:
    8 °C

    Breitengrad:
    52°16’26.0“

    Längengrad:
    104°18’16.0“

    Maximale Höhe:
    700 m über dem Meerr

Wie durch den Wolf gedreht wache ich auch an diesem Morgen schon um 7:00 Uhr früh auf. Gedämpftes Schnarchen dringt durch den Wattefilter. Ich ziehe mir das Zeugs aus den Ohren und verlasse fluchtartig das Schnarchabteil. Vor dem Zug empfangen mich das erholsame Gezwitscher der Vögel und das Wellenrauschen des Baikal. Die Morgenluft erfrischt meinen Geist und mein Gemüt. “Willst du mal bei uns auf dem Führerstand mitfahren?”, fragt mich der Lokführer. “Wirklich? Aber gerne”, antworte ich freudig überrascht und spüre wie der letzte Rest an Müdigkeit verfliegt. Über eine steile Eisenleiter klettern Tanja und ich wenig später in die betagte Lokomotive. Gefühlte 50 Grad Hitze brüllen uns entgegen. “Hier könnt ihr euch setzen”, bietet uns der Heizer Sergej zwei einfache, schrecklich unbequeme Plätze neben dem heißen Kessel an. Der Lokführer Alexander dreht an einem eisernen Rad und nickt uns freundlich zu. Es zischt und stöhnt, dass uns die Ohren klingeln. “Thhhüüüüüiiiiiiit! Thhhüüüüüiiiiiiit! Thhhüüüüüiiiiiiit!”, ertönt das laute Signal der Dampflok, welches von den Bergen widerhallt. Unter lautem Schnaufen, Knirschen und Rucken setzt sich die alte Dame in Bewegung. Sergej öffnet mit einem Großen Hebel das eiserne Maul des Heizkessels. Glaubten wir, dass es vorher heiß war, müssen wir jetzt um den Fortbestand unserer Kameras fürchten und darauf achten uns die Wimpern nicht zu versengen. Wie der Feuerspeiende Atem eines Drachen presst uns das Innere der Maschine ihre Hitze ins Gesicht. Mit einer Schaufel und Muskelkraft befördert Sergej aus dem Schlepptender 20 Kilogramm Kohle in den gefräßigen Schlund. Dann schließt er das schwere Metalltor und der extrem heiße Brodem reduziert sich schlagartig. “Tschsch, tschsch, tschsch”, bewegen sich die zehn großen Stahlräder unter lauten Dampfausstößen jetzt schneller und schneller. Der Kessel scheint nun unter vollem Druck zu stehen. “Thhhüüüüüiiiiiiit! Thhhüüüüüiiiiiiit! Thhhüüüüüiiiiiiit!” ,lässt der Lokomotivführer erneut das schrille Horn ertönen. Die eiserne Dame rumpelt und rattert mit einer Geschwindigkeit von ca. 40 Km/h über die Schienen. Mit seinem Kopf hängt Alexander halb aus dem Fenster, um die Gleise zu beobachten. Sie bleiben keine Sekunde unbeaufsichtigt. Die Geschwindigkeitsregelung des Ungetüms gelingt durch entsprechende Änderung der Zylinderfüllung. Vor jeder Kurve wird unter beachtlichen Kraftaufwand an massiven Rädern gedreht um Dampf abzulassen. Alexander und Sergej rufen sich bald unaufhörlich für uns unverständliche Kommandos zu. Hier weiß eine Hand was die andere tut. Lokführer und Heizer arbeiten im perfekten Teamwork. Schaut der eine nicht aus dem Fenster übernimmt der andere die Kontrolle. Ist Sergej beim Kohleschaufeln sorgt sein Lokführer für die Regelung des Kesseldrucks. “Achtung Kühe!”, brüllt plötzlich Sergej in ein Mikrofon. Die Warnung wird sofort von der zweiten Lok, die hinter unserer angehängt ist und ebenfalls volle Fahrt voraus macht, wiedergegeben. Beide Lokteams müssen, wie wir jetzt erkennen, zusammenarbeiten, um ihren Touristenzug unbeschadet an der Küste des Baikals entlang rollen zu lassen. “Thhhüüüüüiiiiiiit! Thhhüüüüüiiiiiiit! Thhhüüüüüiiiiiiit!” ,ertönt das schrille Pfeifen, um den Kühen Beine zu machen. Gleichzeit quietschen die Räder. Die hunderttausend Tonnen Stahl werden unter beängstigendem Ächzen abgebremst. Die Kühe erschrecken vor dem fauchenden und kreischenden Monster und springen von den Schienen. Sofort wird der Druck im Kessel wieder erhöht und das regelmäßige Zischen, Dampfen und Stöhnen wird schneller. “Tschsch, tschsch, tschsch!”, schnaubt es laut und der weiße Dampf und schwarze Rauch wird von den Bäumen der Taiga aufgefressen. Fasziniert beobachten wir die zwei Männer wie sie ihren eisernen Drachen unter Kontrolle halten. Mehr Dampf, weniger Dampf, warnendes Hupen, Kommandos in die Mikrofone, schaufeln der Kohle, prüfen der Messgeräte. Es stinkt nach beißendem Rauch. In den wenigen Augenblicken, in denen nicht an Rädern geschraubt auf Messuhren geschaut oder das gefräßige nimmersatte Maul mit Brennstoff gefüttert wird, zündet sich Sergej eine Zigarette an. Schnell und tief den Tabakrauch inhaliert, sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn gewischt, aus dem Fenster geschaut und schon geht es weiter. Man oh man, so habe ich mir das Dampflokfahren nicht vorgestellt. Reinste Schwerstarbeit. Aber die Männer sind stolz auf ihren Job. Sie betrachten sich als die wahren Helden der Schiene. “Elektrische Züge und Dieselloks kann jeder fahren aber dieses eiserne Wunderwerk aus längst vergangener Zeit beherrschen heute nur noch wenige”, brüllt Sergej und lacht. “Wer weiß wie lange so etwas die Gesundheit mitmacht? Der starke Kohlerauch, der Dampf, die Hitze und dann wieder nach draußen auf den kalten Tender, um neue Kohle hereinzuschaffen. Man oh man, was für ein harter Job”, denke ich. “95 Jahre sind unsere Loks alt. Sie arbeiten wie eh und je!”, lobt Alexander, mit sympathischen Selbstbewusstsein, seine schwarz angestrichenen, an manchen Stellen rostigen Urgroßmütter. Neben mir zischt Dampf aus einem Ventil. “Ob so etwas auch mal platzen kann? Oder eines der alten, rostigen Rohre? Was ist dann? Werden die Männer verbrüht?”, geht es mir durch den Kopf. Sie fahren diese Baikalbahn den gesamten Sommer über. jede Woche. Früher wurden Soldaten, Munition, Wirtschaftsgüter jeglicher Art transportiert und heute sind es russische Touristen aus dem ganzen Land. Außer der Ladung hat sich also nichts geändert.

Auch Tanja und ich arbeiten im Team. Während ich das Spektakel filme hält sie es mit der Leica fest. Dann verschwindet der Zug in einem der über hundert Jahre alten Tunnels. Ich strecke meinen Kopf aus dem Fenster des Heizers, um in die Schwärze zu filmen. Die speienden Geräusche, das Zischen, Dampfen und Quietschen werden von den Wänden zurückgeworfen. Der Schornstein der Lok stößt Rauch nach oben, der als Russ auf mich und die Kamera rieselt. Danach sind ich und die Kamera mit Russ verschmiert. “Willst du Handschuhe?”, fragt Alexander weil er sieht wie auch wir langsam verschmutzen und wie echte Lokführer aussehen. “Nein danke. Ich fasse nichts an”, antworte ich lachend. 20 Kilometer vor dem Bahnhof Kultuk begegnen wir immer mehr Wanderen der alten Baikalbahnstrecke. “Thhhüüüüüiiiiiiit! Thhhüüüüüiiiiiiit! Thhhüüüüüiiiiiiit!” ,werden sie rechtzeitig vor jeder Kurve und Tunnel vor der eisernen Schlange gewarnt. Sie springen von ihrem Wanderweg, den Schienen. Viele von ihnen haben direkt neben den Gleisen ihre Zelte errichtet. Es wird am Campfeuer frischer Fisch gegrillt, Wodka getrunken und Gitarre gespielt. “Hurra! Hurra! Lasst euer Horn ertönen!”, rufen die Camper freudig und winken der Lok begeistert entgegen. Ich winke aus der Fahrerkanzel. Welch ein fantastisches Erlebnis. Ohne Ausnahme ist jeder von dem Anblick des Altertums fasziniert. Jeder liebt die alte Dampflok, die Heldin aller Lokomotiven.

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