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/Borovoye Link zum Tagebch: TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 3

Naturschutzgebiet Borovoye

N 53°18'18.8'' E 069°23'36.4''
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    Tag: 73

    Sonnenaufgang:
    05:40 Uhr

    Sonnenuntergang:
    21:16 Uhr

    Gesamtkilometer:
    8937.12 Km

    Temperatur – Tag (Maximum):
    20 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    15 °C

    Breitengrad:
    53°18’18.8“

    Längengrad:
    069°23’36.4“

Als die Journalistin Alia erfuhr das wir einen Tag länger bleiben, um das Naturschutzgebiet Borovoye zu besuchen, hat sie gefragt ob sie uns begleiten darf. Wie vereinbart holt sie uns um 11:00 Uhr ab. Auch Marat und Gauhar sind fertig und warten auf uns in ihrem voll bepackten Auto. Weil Marat jede Gelegenheit nutzen möchte sich mit uns zu unterhalten sollen wir natürlich bei ihm mitfahren. Unsere paar Sachen, die wir dabei haben, passen nicht mehr in den bis zum Rand voll gestopften Kofferraum. Uralte geflickte Plastiktüten quellen regelrecht heraus. Gasflasche, Kochutensilien jeglicher Art, große Thermosflasche, rohe Kartoffeln, eine dicke Wurst, Tomaten, Gurken, Kinderwagen und einiges Undefinierbare mehr, sind für die große Fahrt zum beliebtesten Ausflugsort Kasachstans etwas chaotisch gepackt.

Während ich neben Marat auf dem Beifahrersitz Platz nehmen darf, kauert sich Tanja neben Gauhar auf den voll beladenen Rücksitzen. Eine dicke Zudecke ist vor die Heckscheibe gestopft. Gauhar hat sich auf kasachische Art hübsch gemacht und trägt ein knallrotes Kopftuch. Während sie ihr Töchterlein Dinar auf dem Schoß hält und stillt, lacht sich mich offen an. Alle sind in Ausflugsstimmung als die Motoren der zwei Autos gestartet werden und wir die Stadt hinter uns lassen.

Seit langen ist heute mal wieder ein richtiger bewölkter Tag. Die Temperatur ist drastisch gefallen und es riecht nach Regen. Kein gutes Wetter für solch einen Event. Marat, beim Ausspruch des Wortes Borovoye schon glänzende Augen bekommend, ist etwas enttäuscht. “Schade, gerade heute ist das Wetter schlecht. Ich kann nicht verstehen warum dies immer an meinen freien Tagen geschieht?”, meint er laut lachend. Wieder ändert sich die Landschaft. Die Schweiz Kasachstans erreichend sehen wir seit Wochen die ersten richtigen Berge die ihre bis zu 900 Meter hohen Rücken aus der flachen Steppe in den Himmel recken. Umgeben von grandiosen Grünflächen lassen immer mehr Seen ihre glatten Oberflächen im Licht des Tages glänzen. Die Straße windet sich über leichte Hügel durch immer dichtere Fichten und Birkenwälder. “Das ist Borovoye”, schwärmt Marat und Gauhar lächelt zufrieden, während Dinar gesättigt mit Muttermilch glücklich in ihrem Armen schlummert.

An einem Parkplatz treffen wir Alia die ihre zwei Kinder und einen Fotografen mitgebracht hat. “Es macht euch doch nichts aus wenn wir euren Besuch hier für unsere Zeitung dokumentieren?”, fragt sie höflich. “Nein, nein, macht soviel Bilder wie ihr möchtet”, antworten wir. Im Gefolge unserer kasachischen Begleitung und im Gewimmel unzähliger Touristen besteigen wir einen kleinen Hügel. An den Bäumen hängen massenhaft kleine Fahnen und Stofffetzen. “Das ist für die Erfüllung der Wünsche. Müsst ihr auch machen. Habt ihr etwas Stoff?”, möchte Alia wissen. “Nein”, antworte ich mit den Schultern zuckend. Sofort holt sie ein feines Stofftaschentuch heraus, um es für uns in zwei Teile zu zerreißen. Wir können sie gerade noch rechtzeitig stoppen ihr schönes Tuch nicht zu zerstören. “Seht ihr die kantigen Bergrücken dort hinten? Das ist der schlafende Soldat. Über ihn gibt es eine Geschichte”, erklärt Marat und während er versucht uns diese zu erzählen versuche ich in den Bergzacken einen schlafenden Soldaten zu erkennen. Die Menschen um uns herum sind ausgelassen und fröhlich. Die Kameras haben hier Hochbetrieb. Die Auslöser werden unaufhörlich gedrückt, weshalb es blitzt und surrt. Kaum haben wir den schlafenden Soldaten bewundert, steigen wir wieder ins Auto und fahren zur nächsten Sehenswürdigkeit, dem Schiff. Wieder muss ich meiner Fantasie großen Freiraum lassen, um in den Felsen das Schiff im Nebel zu erkennen. An einem Parkplatz stehen Verkaufsbuden die alles Mögliche an Firlefanz, Figuren, Holzkämmen, bunten Bildern, Schlüsselanhänger und vieles mehr anbieten. Die Urlauber können sich hier in original kasachischen Kriegergewändern, mit Pfeil und Bogen, Messern und Schild fotografieren lassen. Lebendige große Adler sitzen auf Holzstangen. Ihre Köpfe sind mit Lederhauben verdeckt, so dass sie nichts sehen können. Ihre Besitzer setzen die traurig aussehenden Könige der Lüfte auf die Arme der Besucher, die sich dann stolz vor der Kamera stehend ablichten lassen.

Auf der weiteren fahrt durch den von Menschen wimmelnden Naturschutzpark erreichen wir einen See an dessen Ufer sich ein etwa hundert Meter hoher felsiger Berg befindet. Oben thront wieder ein Fantasiebild. Diesmal ist es ein Slong (Elefant) “Erkennst du ihn?”, möchte Marat wissen. “Klar”, sage ich denn der Fels zeigt in der Tat verblüffende Ähnlichkeit mit dem Rüsseltier. Am Ufer des Bergsees werden Tretboote für 2.000 Tenge die Stunde vermietet. Eine kleine steinerne Insel ist das Ziel der Freizeitkapitäne die ihr Dasein verewigen in dem sie die Felsen von oben bis unten mit Farbe beschriften.

Für den Rest des Lebens hinter eisernen Gittern gefangen!

Der Pressefotograf nutzt jede Möglichkeit, um die zwei deutschen Radler abzulichten. Mittlerweile fühlen wir uns wie Stars die auf Schritt und Tritt begleitet werden. “Möchtet ihr den Tiergarten besuchen?”, fragt Alia. Da wir mittlerweile müde sind würden wir uns eigentlich gerne in eines der Cafes setzen, jedoch können wir unsere Begleiter nicht in Verlegenheit bringen. Sie würden sich gezwungen fühlen uns einzuladen. Da sie alle nicht viel verdienen und es hier teuer ist sehen wir davon ab und gehen in den Zoo. Obwohl Tanja und ich schon viele Tiergärten der Welt besucht haben, verschlägt es uns hier regelrecht den Atem. Die Käfige sind klein, alt und total verdreckt. Zwei Stachelschweine leben auf einem rostigen Blechboden, eingezäunt von rostigen Maschendraht. Sie blicken uns aus traurigen Augen an. Ein Vogel hüpft alleine und verloren in einem großen dreckigen Vogelhaus herum. Sein Gefieder ist verfilzt und seine kleinen Äuglein sprechen Bände. Aus einem weiteren Pferch schlägt uns beißender Kotgestank entgegen. Auch hier ist ein kleines Felltier ohne Partner eingesperrt dessen Namen ich nicht kenne. Meine Laune sinkt von Zwinger zu Zwinger. Eigentlich war es bisher ein schöner Tag aber solch ein schreckliches Tiergefängnis schlägt mir gewaltig auf den Magen. Adler sitzen in zu kleinen Vogelhäusern. Einer von ihnen hält seinen gebrochenen Flügel in grotesker Weise. Das Rudeltier Wolf wird ebenfalls in Einzelhaft gehalten. Er hat gerade Mal drei Meter zur Verfügung die er nutzt, um unaufhörlich hin und her zu laufen. Dann kommen wir zu den Bären. Zur Belustigung der Zuschauer füttert ein Tierpfleger die armen Raubtiere gerade mit Chips. Die Braunbären recken und strecken sich, um an die Leckerbissen heranzukommen. Ungeduldig stecken sie ihre großen Tatzen durch die Metallstäbe ihres viel zu kleinen Gefängnisses, dessen Blechboden mit ihren Ausscheidungen verschmiert ist. Als ihr Betreuer sich einen Bonbon zwischen die Lippen steckt und ein Bär diesen mit seiner Zunge weglutscht, lachen die Menschen begeistert. Zur Krönung wird den beiden Allesfressern dann auch noch ein Kaugummi gereicht. Wie gebannt stehe ich da und kann es nicht fassen was hier geschieht. Die Tiergartenbesucher werfen Chips, Schokolade und was sie sonst gerade mit sich führen in die Gittergefängnisse. Die Raubtiere greifen mit ihren großen Krallen danach und stopfen sich alles ins Maul. “Ha! Ha! Ha! Hi! Hi! Hi! Schau mal was er für ein Gesicht zieht. Oh, dem scheint es zu schmecken! Komm gib ihm noch mehr!”, rufen sie. Ich wende mich angewidert ab. Es fehlt an tiefgehendem Grundwissen. Viele der Besucher sehen nicht wie sie mit ihren Gaben dazu beitragen das Tier noch mehr zu quälen. Viele scheinen nicht darüber nachzudenken das nicht nur Menschen sondern auch Tiere ein Recht auf artgerechtes Leben haben. Viele scheinen sich keine Gedanken darüber zu machen das Tiere unsere nächsten Verwanden sind. Das auch sie leiden, Schmerzen haben und traurig sein können. Ich frage mich was diese bedauernswerten Kreaturen verbrochen haben, um solch eine lebenslange Strafe zu bekommen? Ich frage mich warum wir Menschen oftmals so unsensibel sind? Was ist nur los mit uns? Warum sehen wir nur unseren eigenen Vorteil und nicht das Leid des anderen? Das Leid direkt neben an? Warum nur nehmen wir uns das Recht heraus Tiere so zu quälen?

Qualzucht und Massentierhaltung!

Meine Gedanken überschlagen sich und finden einen plötzlichen Zusammenhang zur Massentierhaltung. Wie gelähmt stehe ich an dem kaputten Drahtzaun und betrachte die Szene als wäre sie aus einem Sciencefictionfilm. Unerwartet frage ich mich warum wir Menschen uns nicht mehr dafür einsetzen Hühner, Truthähne, Rinder, Schweine und andere Zuchttieren, die wir täglich in uns hineinschlichten, während ihres kurzen Lebens ein besseres Dasein zu geben? Wer gibt uns das Recht dazu Zuchttiere auch bei uns in Deutschland noch immer in tierquälerischer Massenhaltung hochzuziehen? Warum wissen wir nicht das zum Beispiel Truthühnern durch angezüchtetes überschnelles Wachstum auf groteske Weise missgestaltet und behindert werden? Warum wissen wir nicht, dass in Deutschland die weltweit schwersten Puten überhaupt gemästet werden? Warum wissen wir nicht dass ein Mast-Truthahn vor 25 Jahren noch ein Endgewicht von rund elf Kilogramm erreichte und heute fast das Doppelte auf die Waage bringt?

Fluchtartig verlassen Tanja und ich diesen Ort des Schreckens. Meine Gedanken überschlagen sich weiterhin, sind angestoßen, überholen sich, bilden weitere Brücken zu meiner Heimat und wollen nicht die Menschen hier in Kasachstan verurteilen. Ich denke an die Qualzucht der Truthähne über die ich kürzlich einen Bericht gelesen habe. Ich denke daran wie sich diese eingepferchten Vögel, immer mit den gleichen Kraftpellets gepäppelt, wegen Platzmangel gegenseitig attackieren und manchmal auch zu tote hacken. Alles nur dafür wunderbares Fleisch auf den Teller zu bekommen. Ich denke daran wie ihnen deswegen die Schnäbel gekappt werden, eine Verstümmelung bei der Nervenfasern, Bindegewebe und Blutgefäße durchtrennt werden und Schmerzen und ständige Irritationen zur Folge haben. Ich denke daran wie solche Tatsachen verschwiegen werden damit wir alle glauben feinstes Fleisch von glücklichen Vögeln in der Röhre zu braten. Keiner von uns Menschen möchte es anscheinend für Wahr haben das Zuchttiere in ihrem kurzen Leben mit Impfungen und Arzneimittel voll gestopft werden. Das man dem Verdervieh mit Aspirin und Tranquilizer zu Leibe rückt, um ihre Schmerzen und Angriffslust zu unterdrücken. “Hat es dir gefallen?”, fragt mich Marat gutmütig lächelnd. “Nein”, antworte ich aus den negativen Gedanken gerissen.

Bevor wir wieder nach Koktschetaw  zurückfahren möchte Marat am Seeufer unbedingt sein Picknick halten. Wir schleppen die gesamte Küchenausrüstung zum See. Dicke, dunkle Wolken ziehen auf. Die frisch geschnittenen rohen Kartoffeln schwimmen gerade in Sonnenblumenöl, um auf diese Weise gebraten zu werden, als sich die Pforten des Himmels öffnen. Schnell packen wir wieder alles zusammen und werfen es in den schmutzigen Kofferraum. “Lass uns im Auto essen”, schlägt Marat vor. Eingepfercht, zwischen zu viel Gepäck, sitzen wir  nun im Fahrgastraum. Durch die Feuchtigkeit beschlagen die Scheiben sofort. Große Regentropfen trommeln auf das Blechdach. Marat schneidet Weißbrot. Er bestreicht eine Scheibe ganz dick mit Majonäse, belegt sie mit etwa zwei Zentimeter starken Schweinewurstscheiben und reicht es Gauhar, die das Angebotene hungrig verschlingt. “Warum nimmst du keine Wurst und Majonäse auf dein Brot?”, wundert sich Marat. “Ich mag es am liebsten mit Tomaten und Gurken”, antworte ich und bin froh seine geballte Fettladung nicht essen zu müssen.

Kaum sind wir mit unserer Vesper am See fertig hört es zu regnen auf. Wir stopfen das restliche Essen in den Kofferraum und verlassen Borovoye. Marat verfährt sich auf dem Nachhauseweg ein paar Mal, weshalb die Fahrt länger dauert als geplant. Trotzdem sind wir froh diesen interessanten und zu gleich eigenwilligen Ausflug unternommen zu haben.

Wir freuen uns über Kommentare!

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