Memory-Effekt und wie ein Bumerang
N 20°40’14.6’’ E 105°05’01.5’’Datum:
04.11.2016
Tag: 497
Land:
Vietnam
Provinz:
Hòa Bình
Ort:
Mai Chau
Breitengrad N:
20°40’14.6’’
Längengrad E:
105°05’01.5’’
Tageskilometer:
20 km
Gesamtkilometer:
20.332 km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt / Schotter
Gesamthöhenmeter:
54.861 m
Höhenmeter für den Tag:
200 m
Sonnenaufgang:
06:03
Sonnenuntergang:
17:23 Uhr
Temperatur Tag max:
20°C
Temperatur Tag min:
18°C
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
„Und, wie fühlst du dich?“, frage ich Tanja, als sie die Augen aufschlägt. „Sprechen wir nicht darüber“, antwortet sie gähnend. Es ist 6:00 Uhr. Massive Wolken ziehen durch das Tal. „Sieht nach Regen aus“, stelle ich fest. „Möchtest du noch bleiben und den Regen aussitzen?“ „Auf keinen Fall“, bin ich entschlossen Mai Chau heute das letzte Mal im Rückspiegel meines Rades zu sehen.
Weil wir unsere Räder vor über drei Monaten das letzte Mal beladen haben, benötigen wir länger als sonst. Uns fehlt einfach die Routine. Die Wolken schleichen indes bei nur 20 Grad dicht über die abgeernteten Reisfelder. Es kann nicht mehr lange dauern und sie werden ihre Nässe über das Land schütten. Weil die kommenden zwei Tage eine teils unbefestigte Straße vor uns liegt, die durch eine abgelegene Berglandschaft führt, bekomme ich jetzt doch Zweifel. „Was schaust du denn so nachdenklich?“, unterbricht Tanja meine Gedanken. „Hoffe nicht, dass der sicherlich kommende Regen wieder Erdrutsche auslöst. Als wir die Strecke mit Manh Do damals abgefahren sind, hat er uns davor gewarnt diese Strecke bei Schlechtwetter nicht zu nutzen.“ „Sollen wir doch noch einen Tag bleiben?“ „Ich weiß nicht. Jetzt sind die Räder schon beladen. Irgendwie kommt es mir so vor als wolle uns dieses Mai Chau gar nicht mehr gehen lassen. Das geht doch einfach nicht mit rechten Dingen zu.“ „Ach was. Jetzt mach dir doch nicht solche Gedanken. Du bist doch nicht abergläubig.“ „Natürlich nicht.“ „Also bleiben wir oder gehen wir?“ „Wir gehen“, beschließe ich ein unangenehmes Gefühl abschüttelnd.
„Können wir noch ein Gruppenfoto schießen bevor ihr aufbrecht?“, fragt Ka der Manager. „Klar“, antworte ich. Manh Do, der wieder von Hanoi gekommen ist, umarmt uns. Hoffe ich sehe dich nicht so bald wieder“, scherzt er, weil er weiß, dass wir schon mehrfach versucht hatten seine Lodge zu verlassen und unser Aufbruch im letzten Moment immer wieder vereitelt wurde. „Vielen Dank für euer Interesse an meinem Leben, für den Austausch der vielen Geschichten, eure Gesellschaft, eure Freundschaft. Ich wünsche euch eine sichere, erlebnisreiche Reise. Hoffe wir sehen uns wieder. Wenn es mit dem Elefantentrip klappt, bin ich dabei. Ich freue mich darauf“, sagt er und umarmt mich innig. Auch Ka verabschiedet sich mit herzlichen Worten. „Danke für deine Ratschläge. Ich habe viel gelernt. Seit eurer Anwesenheit kochen wir ohne MSG. Wir werden in Zukunft besseres Speiseöl verwenden. Danke für deine Ermunterungen, euer positives Denken und die vielen tiefgehenden Gespräche“, sagt er und drückt mich an sich. „Das ist für euch“, meint er und überreicht Tanja und mir je ein handgewebtes Tuch. „Es soll euch eine Erinnerung an die schöne Zeit in Mai Chau sein.“ Ich verspüre einen Kloß im Hals. Am liebsten würde ich die Räder wieder abladen, die Taschen in unser kleines Bungalow tragen, mich wie jeden Tag in einen der Baststühle setzen und für eine Weile den Blick auf das wunderschöne Tal der Reisfelder genießen, bevor ich mit meinen täglichen Aufzeichnungen beginne.
„Gute Reise! Eine sichere Fahrt! Wir sehen uns wieder!“, folgen uns die Rufe des Personals der Nature Lodge in der wir viel länger geblieben sind als ursprünglich geplant. Weil wir die Winterkleidung, einen Teil unserer Kochausrüstung und ein paar andere Kleinigkeiten, die wir nicht mehr benötigen, heimgeschickt haben, sind wir um knapp 10 Kilogramm leichter. Trotzdem sind unsere Bikes noch zwischen 140 und 145 Kilogramm schwer. Nach wenigen Kilometern aber kommt der Memory-Effekt unseres Körpers zum tragen und wir fühlen uns wieder sicher. „Wink noch mal!“, ruft Tanja, als die letzten Reisfelder von Mai Chau hinter uns verschwinden. Guter Dinge geht es mit ca. 27 km/h auf der Landstraße dahin. „Hooo, wie schön ist es wieder unterwegs zu sein!“, rufe ich, vor allem weil meine Schulter zumindest auf den ersten Kilometern gut mitspielt. Krrrraaaack!, lässt mich ein schrecklicher Laut, direkt hinter mir, erstarren. Blitzschnell drehe ich mich um und sehe wie Tanja strauchelt, ins Wanken kommt und zum Glück ohne Sturz unmittelbar neben dem einen Meter tiefen Entwässerungsgraben zum stehen kommt. Ich reiße die Bremsen. Stelle mein Bike auf den Ständer und sprinte zu ihr. „Was ist denn passiert!“, frage ich und spüre wie der Schreck im Zentrum meiner Knochen aufschlägt. „Ich weiß nicht. Es hat plötzlich dieses Geräusch gegeben und dann ging gar nichts mehr. Wäre fast gestürzt, konnte es aber irgendwie schaffen anzuhalten.“ „Oh nein! Das kann doch nicht wahr sein. Der Haltewinkel, an dem die Anhängerkupplung befestigt ist, und den wir in China wegen eines Haarrisses schweißen haben lassen, ist wegen der großen Zuladung und den dauerhaft schlechten Straßen abgerissen. Oh weh, das sieht gar nicht gut aus. Absoluter Mist!“ Fassungslos blicke ich auf die Anhängerkupplung, die durch das Schleifen über dem Asphalt, zerstört wurde. „Nein“, rufe ich, als ich den abgebrochenen Radständer entdecke. Erst jetzt bemerke ich mehrere gebrochene und verbogene Speichen. Völlig frustriert schieben wir das kaputte Rad und den Anhänger auf einen betonierten Platz vor einem Stelzenhaus. Sogleich eilen ein paar Kinder, Frauen und Männer heran. „Kannst du das reparieren?“, fragt Tanja. „Sieht übel aus“, antworte ich kleinlaut. „Irgendwie habe ich langsam die Schnauze voll“, höre ich ihre Worte. „Na frag mich mal. Aber das hilft uns jetzt auch nicht weiter“, antworte ich den Schaden genauer untersuchend. Zum Glück hat das Schaltmodul der Rohloff Nabe nichts abbekommen. Auch die Bremsscheibe und die Hinterradschwinge scheinen in Ordnung zu sein.“ „Wie kann denn das passiert sein?“, fragt Tanja neben mir kniend und fassungslos auf den Hinterreifen blickend. „Hm, so wie es aussieht ist nach dem Abbrechen des Winkels, an dem der Anhänger befestigt war, die Deichsel auf den Ständer gekracht und dann vom Sicherungsband des Hängers aus irgend einem verflixten Grund in das Rad gezogen worden.“ „Du meinst die Deichsel ist in den Hinterreifen gerauscht?“ „Ja. Du hattest total Glück. Ist ungefähr so als hätte jemand einen Stock in das Rad gesteckt. Wenn du schneller gewesen wärst, zum Beispiel beim Bergabfahren, wäre es das gewesen. Es hätte dich unweigerlich im hohen Bogen vom Rad katapultiert. In diesem Fall hätte es auch die Felge und die Schwinge total zerstört“, schlussfolgere ich und spüre wie meine Halsschlagader pulsiert und ich mich ärgere den offensichtlich schlecht geschweißten Haltewinkel nicht schon vor Monaten ersetzt zu haben.
„Und kannst du das reparieren?“ wiederholt Tanja ihre Frage. Erst jetzt entdecke ich das vier Speichen aus der Felge herausgerissen wurden. „Sieht nicht gut aus. Gar nicht gut. Oh weh. Schau dir das an. Die Speichenschrauben sind regelrecht abgerissen. Na die habe ich nicht als Ersatzteile dabei.“ „Das heißt?“ „Wir müssen umkehren und da wir eine besonders breite Felge haben, glaube ich nicht, dass es solche Schrauben in Vietnam gibt.“ „Mach mich nicht schwach. Wir müssen wieder nach Mai Chau?“, prustet Tanja, während ich aus dem Anhänger die Ersatzteile hole. „Da sind sie. Ich kann es nicht fassen. Wir haben genügend Speichenschrauben dabei“, freue ich mich. Wir entladen das Rad. Dann baue ich den Hinterreifen aus, ziehe den Mantel ab und betrachte mir die Felge von innen. „Könnte klappen. Die Felge sieht zwar an den Speichenlöchern ausgebeult aus, die Speichen jedoch sind nicht wirklich ausgerissen. Das heißt, die Schrauben sind genau über der Felgenwand abgebrochen. Ein Glück.
Drei Stunden später habe ich vier neue Speichen mit neuen Speichenschrauben eingezogen, den Hinterreifen zentriert, einen neuen Haltewinkel für den Hänger eingebaut und ein neues Kupplungsstück auf die Deichsel gesetzt. „Dein Superbike fährt wie neu“, sage ich nach einer Probefahrt. „Super, du bist mein bester Mechaniker“, lacht Tanja erleichtert. „Jetzt gibt es nur noch ein Problem mit dem Ständer. Der ist durch den Aufprall der Deichsel unrettbar kaputt gegangen.“ „Und wie soll ich ohne Ständer das Rad be- und entladen?“ „Tja, keine Ahnung. Selbst wenn wir für ein Foto, oder warum auch immer anhalten, gibt es keine Möglichkeit das Rad mal schnell abzustellen. Einfach in den Dreck legen ist wegen seinem Gewicht und dem der dadurch entstehenden Verwindung der Anhängerkupplung nicht möglich“, überlege ich. „Was schlägst du vor?“, Wir sollten umkehren und versuchen den Ständer in Mai Chau reparieren zu lassen. Vielleicht fällt Vingh was ein. Der hat immer geniale Ideen.“ „Du willst wirklich zurück? Wir könnten den Radständer doch auch irgendwo auf der kommenden Strecke fixen lassen.“ „In einer Stunde wird es dunkel. Vor uns liegt die unbefestigte, schmale Gebirgsstraße. Wer weiß ob es wegen dem Dauerregen der letzten Tage Erdrutsche gegeben hat. Denke es ist keine gute Idee weiterzufahren. Ich empfinde ebenfalls nicht die geringste Lust umzukehren aber ich glaube das ist trotz allem der vernünftigere Weg“, antworte ich.
Manh Do und Ka können es nicht glauben als wir wieder in der Nature Lodge auftauchen. „Ihr seid ja wie ein Bumerang“, sagt Manh Do und ist über dem glimpflichen Ausgang der schweren Panne froh. Ka und Vingh besehen sich augenblicklich den abgebrochenen Ständer. „Bis morgen fällt mir bestimmt was ein“, grübelt Vingh. Vielleicht können wir einen neuen Ständer umbauen und an die Hinterradschwinge anpassen.“ „Hm, er müsste halt viel tragen. Ein normaler Fahrradständer ist nicht geeignet“, entgegne ich. Dann entladen wir unsere Räder wieder und tragen alles in unser altes Zimmer. In der Küche bestelle ich unser Abendessen. Wir setzen uns auf unsere Terrasse, lauschen dem leichten Regen und überlegen unsere nächsten Schritte. „Ich ärgere mich darüber den geschweißten Haltewinkel nicht ausgetauscht zu haben als wir die neuen Ersatzteile erhielten“, sage ich leise. „Na du bist doch kein Hellseher. Keiner hätte den erneuten Bruch erahnen können. Da darfst du dir sicherlich keine Vorwürfe machen.“ „Sicherlich kommt es auf die Qualität der Schweißnaht an. Genau deswegen werde ich in Zukunft solche geflickten Teileprophylaktisch erneuern.“…
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