Ich blicke in das Auge und fühle die Pein
N 10°39’03.7’’ E 106°01’38.2’’Datum:
24.03.2017
Tag: 633
Land:
Vietnam
Provinz:
Long An
Ort:
Lodge
Breitengrad N:
10°39’03.7’’
Längengrad E:
106°01’38.2’’
Tageskilometer:
82 km
Gesamtkilometer:
23.084 km
Luftlinie:
49 km
Durchschnitts Geschwindigkeit:
23.0 km/h
Maximale Geschwindigkeit:
35.2 km/h
Fahrzeit:
3:33 Std.
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Maximale Höhe:
15 m
Gesamthöhenmeter:
70.154 m
Höhenmeter für den Tag:
100 m
Maximale Tiefe:
12 m
Sonnenaufgang:
05:58 Uhr
Sonnenuntergang:
18:06 Uhr
Temperatur Tag max:
35°C
Aufbruch:
7:00 Uhr
Ankunftszeit:
16:00 Uhr
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
Weil laut Karte die nächste Übernachtungsmöglichkeit in ca. 70 km kommt, erwarten wir heute einen kürzeren und nicht ganz so anstrengenden Tag. Seit wir die Hauptstraße gestern Mittag in Richtung Westen verlassen haben, befinden wir uns auf einer wenig befahrenen Nebenstraße. Wegen der aufkommenden Hitze suchen wir schon früh eines der Hängemattencafes am Straßenrand auf. Ich fühle mich miserabel, habe Durchfall und meine Schulter schmerzt von Tag zu Tag mehr. Vielleicht fordern die täglichen Strecken von ca. 100 km bei der üblen Hitze ihren Tribut? Oder schlägt mir der Schmutz und Müll aufs Gemüt in dem das Land in manchen Bereichen zu ersticken scheint? Wir haben das Mekongdelta erreicht. Ein Fluss, dem wir seit einigen Kilometern folgen, scheint wegen den eingeleiteten Abwässern regelrecht zu gären. Die Sonne heizt den Prozess noch weiter auf. Fischer holen ihre Netze ein. Ihr Fang wird aufs Deck geworfen und zappelt in der Hitze. Ich frage mich wie schädlich es ist den Fisch zu verspeisen? Sicherlich landet er auch in den Restaurants und wenn ich sehe in welcher Brühe er teils gefangen wird, möchte ich keinen Fisch mehr essen.
„Hast du die vielen Ratten in den Käfigen gesehen!?“, ruft Tanja. Obwohl ich zu müde bin um anzuhalten ziehe ich die Bremsen, stelle das Rad auf den Ständer und hole meine Kamera aus der wasserdichten Kameratasche. Unter Bauchweh und der Hitze leidend gehe ich vor dem Rattenkäfig in die Knie, um die traurige Situation im Bild festzuhalten. Eine der Ratten ist aus dem gesamten Knäuel ihrer Kollegen herausgeklettert, klammert sich mit ihren Vorderpfoten an das Drahtgeflecht und steckt ihre kleine, spitze Nase durch ein Gitterloch. Auch wenn ich Ratten seid habt ihr so eine Quälerei nicht verdient, geht es mir durch den Kopf. Vielleicht liegt es an meinem eigenen körperliche Befinden, aber ich verspüre ernsthaftes Mitleid mit diesen Kreaturen, die zu hunderten in einem kleinen, rostigen Käfig aufeinander, übereinander und durcheinander dahin vegetieren. Seltsam, warum werden wir unaufhörlich mit solchen schrecklichen Situationen konfrontiert? Ob das an unserem sensiblen Blickwinkel liegt? Ob es an unserer Verbindung zu Tieren, egal welche Rasse und Art, liegt? Ich weiß es nicht. Eigentlich wäre ich in dieser Sache gerne etwas mehr abgehärtet. Hinter den Rattenkäfigen sitzen eine Frau, ihre kleine Tochter und ihr Mann beim Mittagessen. Sie sind die Besitzer der Ratten, die, so wie es aussieht, an vorbeifahrenden Kunden verkauft werden. Wegen der mangelnden Sprachkenntnis kann ich leider nicht in Erfahrungen bringen was diese Menschen dann mit den Ratten tun. Ob die auch gegessen werden? Oder werden sie an Schlangen und Raubvögel verfüttert? Ich laufe um den primitiven Verkaufsstand zur anderen Straßenseite. Was ich dort entdecke verschlägt mir die Sprache. Wunderschöne Vögel, wie Eulen, Falken, Rebhühner, und andere Arten die ich nicht kenne, hocken in Käfigen. „Das musst du dir ansehen!“, rufe ich Tanja zu die auf der anderen Straßenseite bei den Bikes wartet. „Nein, ich will das nicht sehen!“ Ich fotografiere indes die Raubvögel hinter Gittern. Ob die auch gegessen werden? Ob die Ratten für sie bestimmt sind? Ob sie von reichen Menschen als Käfigvögel gekauft werden, um mit ihnen anzugeben? Wieder bekomme ich keine Antworten. Fakt ist allerdings, dass diese seltenen und wunderschönen Kreaturen der Lüfte hinter Gittern ihr Leben fristen und bei 35 °C im Schatten auf Käufer warten. Wo der Verkaufsstandinhaber solche Vögel noch fangen kann? Vielleicht gibt es im Mekongdelta noch viele davon?
Wir verabschieden uns von der Familie und radeln weiter. Unsere Stimmung ist wegen dem gerade erlebten nicht die beste. Vor uns taucht plötzlich ein Markt mit vielen Vogelverkaufsständen auf. Wieder mache ich mir die Mühe, um mir das genauer anzusehen. Hier hat man die Vögel in Massen an ihren Füßen aufgehängt. Ich bin fassungslos, gehe näher ran und sehe, dass die armen Tiere noch leben. Mein Thermometer zeigt 55 °C in der Sonne. Das ist die Temperatur die sie verkehrt herum an einem Pflock hängend aushalten müssen. Ein Vogel klappt sein Auge auf und sieht mich an. Ich erschrecke regelrecht. Der Blick ist gebrochen und leidvoll. Das hier leidende Wesen hat sich mit dem kommenden Tod abgefunden. Hat scheinbar aufgegeben. Was würdest du fühlen und denken wenn man dich am lebendigen Leib, bei enormer Hitze, an den Füßen fesselt und verkehrt herum aufhängt? Was würdest du denken wenn andere, zweibeinige Mitbewohner unseres Planeten ständig an dir vorbeilaufen, laut lachen und ab und an einen Kollegen von dir von diesem Pflock schneiden, um ihn mitzunehmen? Meist sogar Kopf nach unten am Gepäckträger eines Mopeds befestigt, nur um später in einem Kochtopf zu landen. Der anklagende Blick des Vogels geht mir durch Mark und Bein. Gerne würde ich hier alle Vögel kaufen, um ihnen die Freiheit zu schenken. Aber wie sollen wir hunderte von Vögeln kaufen? Das ergibt keinen Sinn. Auch nicht wenn wir das Geld dafür hätten. Die Verkäufer würden ausströmen um ihre gefiederte Beute umgehen wieder einzufangen. So eine Aktion würde das schmutzige Geschäft mit den Kreaturen sogar noch fördern. Die einzige Möglichkeit so eine Tierquälerei im großen Stil zu unterbinden wäre ein massives Verbot der Regierung. Durchgesetzt mit der Macht des Staates, mit ernsthafter Bestrafung bei Nichteinhaltung. Aber wir befinden uns in Vietnam. Das Land hat sicherlich viele Probleme und Umwelt- und Tierschutz ist bisher kein primäres Ziel.
Ich erhebe mich und gehe ein Stück an den Verkaufsständen vorbei. Es riecht an allen Ecken und Enden nach Vogelkot. Vor mir stehen zwei große Gitterkörbe in der Sonne. 30 bis 40 Schlangen wimmeln da durcheinander. Auch sie machen keinen glücklichen Eindruck. Wie auch? Wären sie frei, würden sie sich unter einem Felsen vor der Hitze verstecken und ausruhen, um nachts auf die Jagd gehen zu können. „Hello!“, ruft eine Verkäuferin lachend. „Hello!“, antworte ich. Zu gerne würde ich ihr erzählen welch Leid sie hier kreiert. Aber, habe ich das Recht dazu? Sie verdient sich hier ihren Lebensunterhalt. Ernährt vielleicht ihre Familie. Das der Preis dafür der Tod und das endlose Leid vieler Kreaturen ist, scheint ihr nicht bewusst zu sein. Natürlich habe ich hier als Beobachter, kommend aus einem reichen Land, leicht reden. Doch wo ist die Lösung? Wie können wir solche Missstände auf unserem Planeten beenden? Bildung, Aufklärung, Mitgefühl, Empathie sind dabei von großer Bedeutung. Wenn Kinder schon früh begreifen das Tiere keine Ware sind, das sie Freude und Schmerz empfinden können, das es für die Menschheit überlebensnotwendig ist mit ihnen im Einklang zu leben und sie nicht auszurotten, dann könnten wir tatsächlich etwas bewegen. Dafür müssten aber die Regierungen in die Verantwortung gezogen werden.
„Hier müsste es sein“, sage ich auf mein GPS blickend. „Aber hier ist kein Gästehaus“, stellt Tanja fest. „Richtig, deswegen meinte ich ja auch es müsste hier sein. Ich frage mal den Mann da drüben“, sage ich. Er deutet die Straße runter und gibt mir zu verstehen in etwa vier Kilometer auf ein Hotel zu stoßen. „Verstehe ich nicht. Hier muss doch auch eine Lodge sein“, sage ich zum wiederholten Mal zu Tanja. „Vielleicht ist es das Haus da?“, antwortet sie auf einen Neubau deutend der rein optisch nichts mit einer Lodge oder einem Hotel gemein hat. „Hm, aber warum schickt uns dann der Mann hier weiter? Ich gehe am besten mal hin und überzeuge mich sicherheitshalber selbst.“ Es stellt sich heraus, dass wir genau vor der Lodge stehen deren Koordinaten ich im GPS gespeichert habe. Wir schieben unsere Räder in den Garten und wundern uns noch immer warum der Nachbar uns weiterschicken wollte. „Was kostet ein Zimmer?“, frage ich die gelangweilte dreinschauende Frau. Sie tut sich mit einer Antwort offensichtlich schwer. „Verstehe ich nicht. Du vielleicht?“, frage ich Tanja. „Weiß nicht warum sie uns keinen Preis nennt“, grübelt sie und hält ihr unseren Sprachführer hin. „Bao nhiêu là một căn phòng?“ (Wie viel kostet ein Zimmer) steht da. Die Frau malt etwas auf eine Zeitung. Wie viele Stunden wollen sie bleiben?“, verstehen wir. „He? Stunden? Wir wollen eine Nacht bleiben“, antworte ich. Nach längerem Hin und Her begreifen wir wieder in einem Stundenhotel gelandet zu sein. Es dauert bis wir der Frau klar gemacht haben eine ganz normale Übernachtung zu wollen um morgen früh um 7:00 Uhr weiterzufahren. Weil sie noch immer recht unkooperativ ist verabschieden wir uns und radeln bei 35 °C im Schatten weiter. „Wann soll das Hotel kommen?“, fragt Tanja. „In vier Kilometern.“ Als wir die vier Kilometer auf unsere Tachos gepult haben halten wir neben einem Straßencafe an und setzen uns erschöpft in einen der niedrigen Kinderplastikstühle. Wir bestellen eine eiskalte Cola die es nicht gibt weil das Restaurant keinen Kühlschrank besitzt. Ein Mädchen möchte uns Eiswürfel in einen Bescher geben. Eigentlich keine schlechte Idee, jedoch sehen wir täglich wie das Eis produziert, transportiert, malträtiert und am Ende aufbewahrt wird. Die hygienischen Verhältnisse sind bei diesem gesamten Prozess zum Haare raufen und sicherlich für die Verteilung von Krankheiten mitverantwortlich. „Ich kann nicht mehr“, sage ich apathisch. „Bin auch recht platt“, gähnt Tanja. Wir fragen einen Mann am Nachbartisch nach dem Hotel und erfahren noch mindestens weitere zehn Kilometer strampeln zu müssen, um es zu erreichen. „Und wenn wir dort sind wissen wir nicht ob sie unseren Ajaci akzeptieren und die Räder rein dürfen“, gebe ich zu bedenken. „Sollen wir umkehren?“ „Du meinst wieder zu dem 24-Stundenladen?“ „Ja.“ „Vielleicht keine schlechte Idee“, überlege ich. Eine viertel Stunde später quälen wir uns aus den kleinen Stühlen. Wir besteigen unsere Räder und fahren die vier Kilometer zurück. Wieder sind die Verhandlungen mit der Frau äußerst schwierig und nervenaufreibend. Am Ende treffen wir dann doch noch eine faire Vereinbarung. Wir dürfen von 16:00 Uhr bis 7:00 Uhr morgens bleiben und zahlen dafür 110.000 Dong. (4,51 €) Für die neuen sauberen fensterlosen Zimmer mit AC ein sehr günstiger Preis. Am Abend laufen wir bei einer rabenschwarzen Nacht am Ufer des Flusses entlang, um so etwas wie ein Restaurant zu finden. Nach 20 Minuten geben wir auf und kehren zu unserer Bleibe zurück. Tanja packt eines der letzten Travellunch (gefriergetrocknete Nahrung) aus. Für den Notfall haben wir davon immer ein paar Packungen dabei. Wir schütten heißes Wasser darüber, welches wir von unserer Lodge-Besitzerin bekommen, und freuen uns über das leckere Essen…
Wer mehr über unsere Abenteuer erfahren möchte, findet unsere Bücher unter diesem Link.
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