Hochzeitstag!
N 55°42'46.8'' E 084°55'53.4''Tag: 113-114
Sonnenaufgang:
07:43 – 07:45 Uhr
Sonnenuntergang:
20:49 – 20:46 Uhr
Luftlinie:
91.48 Km
Tageskilometer:
120.04 Km
Gesamtkilometer:
10568.49 Km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Temperatur – Tag (Maximum):
11 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
8 °C
Temperatur – Nacht:
6 °C
Breitengrad:
55°42’46.8“
Längengrad:
084°55’53.4“
Maximale Höhe:
207 m über dem Meer
Maximale Tiefe:
70 m über dem Meer
Aufbruchzeit:
09.40 Uhr
Ankunftszeit:
21.00 Uhr
Durchschnittsgeschwindigkeit:
16.28 Km/h
HochzeitstagAls ich früh aufwache fällt mein Blick auf die Schleimspuren der glitschigen Schnecken die es sich auf unserem Innenzelt bequem gemacht haben. Die allumfassende Feuchtigkeit lässt nicht gerade die beste Stimmung aufkommen. Wir müssen uns zusammenreißen uns aus den warmen Schlafsäcken zu quälen, um in die, im Augenblick feindselige Natur, zu treten. Durch die Feuchte sind unsere Glieder wie gelähmt. Es dauert eine Ewigkeit bis wir dass Zelt verlassen. Meine Fliesjacke ist trotz der Körperwärme in meinem Schlafsack nicht richtig trocken geworden. Weil wir nichts mehr anderes haben ziehe ich sie trotzdem an. Ich reiche Tanja die Ortliebtaschen nach draußen, um das Vorzelt auszuräumen. Spinnen und alles Mögliche an undefinierbarem Kleingetier der sibirischen Wälder, kriecht über die Ortliebtaschen oder hat sich dort über Nacht ein bequemes Zuhause gebaut. Eine fette Spinne hat es in den wenigen Nachtstunde tatsächlich geschafft sich unter einem weißen selbst gewobenen Mantel eines Taschenfalzes einzunisten. Als ich meine Regenjacke aus einer verschlossenen Satteltasche hole bemerke ich gerade noch rechtzeitig eine Zecke. “Das hinterlistige Sauvieh hat sich glatt mit einsperren lassen, um mich heute in Selenruhe beißen zu können”, fluche ich.
Tanja hat bereits Wasser gekocht. Wir trinken heißen Sonnentor-Tee der uns wärmend die Kehle hinunter rinnt und uns Energie spendet. Wir essen ein paar Kekse, Kefir und Müsli. Dann laden wir unsere Intercontinental und verlassen das feuchte Lager, um einen weiteren Tag ins Ungewisse zu fahren.
Plötzlich tauchen Hügel vor uns auf die ich in der Landkarte in dieser Form nicht ausmachen konnte. Beim Hochtreten wird uns sehr warm. Oben muss ich auf Tanja warten weil wir an Bergen unterschiedliche Trittfrequenzen haben. Die Zeit reicht aus, um völlig auszukühlen und nicht mehr warm zu werden. Erste Gedanken, den Radtrip bei nächster Gelegenheit abzubrechen, spucken in meinem Gehirn herum. “Aber was ist dann? Das würde bedeuten nächstes Jahr über 1000 Kilometer mehr zurücklegen zu müssen als geplant. Ist das Sinnvoll? Eigentlich wollen wir im kommenden Jahr bei den Rentiermenschen überwintern. Das bedeutet aber auch erstmal hinzukommen. Da wären 1000 Extrakilometer ein echtes Zeitproblem, um die geplanten Strecken mit dem Fahrrad und Pferd zu bewältigen. Nun was ist schon Sinnvoll? Hier langsam an der Feuchtigkeit und kommenden Kälte einzugehen ist auch nicht sinnvoll”, geht es in meinen Gehirnwindungen hin und her. Tanja ist heute guter Stimmung. Das baut mich etwas auf. Ich beiße die Zähne zusammen und schaffe mein Gepäck auf Rädern einem Höhenzug nach dem anderen hinauf.
Plötzlich endet die Hauptstraße in einer Sackgasse. Ein Lastwagenfahrer schickt uns in Richtung der Stadt Kemerowo, die östlich von uns liegt. “Warum sollten wir nicht nach Kemerowo fahren? Somit umgehen wir Tomsk. Ist sogar um einiges kürzer. Der einzige kleine Haken sind die paar Berge. Wie hoch sie sind kann ich der Karte nicht entnehmen”, erkläre ich Tanja unsere Karte studierend. “Wenn du meinst”, antwortet Tanja. “Gut, lass uns flexibel bleiben. Auf nach Kemerowo”, entscheide ich.
“Da vorne ist eine Raststätte! Sollen wir dort rein, um uns aufzuwärmen?”, frage ich 20 Kilometer weiter. “Unbedingt!” schnauft Tanja laut. Vor dem Fenster können wir unsere Räder parken und sie von drinnen aus im Blick behalten. Also geniale Voraussetzungen. Als wir die kleine Holhütte betreten ist es angenehm warm. Sofort fühlen wir uns wohl. Wir haben einen Bärenhunger. Leider wird auch hier in Sibirien jegliches Essen mit der Mikrowelle aufgewärmt. Auf Grund unserer Recherchen wissen wir nun wie gefährlich solch eine von der Welle aufgewärmte Nahrung ist. Wir haben sogar erfahren, dass sich das Blutbild nachweislich nach einmaliger Einnahme eines Mikrowellenessens erstmal kurzfristig verändert. Deshalb hat Tanja ihr Russisch soweit ausgearbeitet, um den Frauen in der Küche verständlich zu machen solche Mahlzeiten nicht zu vertragen. “Bitte auf dem Gas oder Elektroherd aufwärmen. Mein Mann und ich haben Allergie gegen Mikrowellen”, erklärt sie den Frauen und siehe da es funktioniert. Genüsslich vertilgen wir nun endlich mal wieder eine unzerstörte Bortsch und jeder zwei Portionen unzerstörte Blinys (Pfannkuchen). “Otschin wkusna”, (Sehr schmackhaft)”, loben wir die Frauen, die sich darüber aufrichtig freuen. Wir sind gerade im Begriff aufzubrechen als ein Gast der gerade nach draußen ging wieder den Raum betritt. “Wohin fahren sie?”, fragt er unvermittelt. “Nach Irkutsk.” “Über Kemerowo?” “Ja.” “Das ist nicht gut. Auf dieser Strecke liegen sehr viele hohe Berge. Ich rate ihnen die Stracke über Tomsk zu wählen. Das ist zwar etwas weiter aber viel leichter. Ich weiß wovon ich spreche. Ich bin Lastwagenfahrer”, erklärt er. Tanja und ich sehen uns überrascht an. Ob dieser Mann vom Himmel geschickt wurde? “Vielen Dank”, sage ich und schüttle dem Mann die Hand. “Keine Ursache. Ich wünsche ihnen eine gute und sichere Reise”, antwortet er, geht nach draußen und besteigt die Fahrerkabine seines großen Lastzuges.
Wir erreichen den Ort Bolotnoje, die Ortschaft in der uns gestern die Staatsdienerin die Gastiniza empfohlen hat. Obwohl wir heute erst 65 Kilometer zurückgelegt haben entscheiden wir uns für eine frühe Rast. Es ist unser Hochzeitstag den wir mit einem guten Essen und etwas Ruhe feiern wollen. Zuversichtlich betrete ich die einfache Hütte. “Nein, ein Zimmer haben wir nicht frei”, höre ich und glaube nicht richtig zu verstehen. “Ich benötige keine zwei Zimmer. Eines ist vollkommen ausreichend”, antworte ich. “Es tut mir leid. Wir haben kein Zimmer frei”, sagt die Frau erneut. “Wo gibt es denn die nächste Unterkunft?” “In der Stadt Jurga, etwa 40 Minuten mit dem Auto von hier”, erklärt sie. “40 Autominuten? Wie viel Kilometer sind denn das?” “Weiß ich nicht”, sagt sie. Ich stehe etwas belämmert da und frage mich was wir nun tun sollen. Auch wenn ich ihr erklären würde heute Hochzeitstag zu haben würde kein Zimmer frei werden. “Dankeschön”, antworte ich und trete wieder nach draußen. Mein genauer Blick in die Karte verrät mir nur noch 41 Kilometer bis zur angekündigten Stadt zurücklegen zu müssen. “Wollen wir das heute noch machen?”, frage ich Tanja. “Das schaffen wir”, meint sie zuversichtlich.
Erst bläst uns der Meister gut voran, dann biegt die Straße nach Norden, in Richtung Tomsk ab. Das Thermometer an unserem Radlenker steht auf acht Grad. Eiskalt bläst uns der Nordwind entgegen. Kalter Niesel, der sich schon wie Schnee anfühlt, weht uns ins Gesicht. Mein Knie macht sich wieder einmal bemerkbar und das Steißbein jammert unaufhörlich. Tanja hat Nackenschmerzen. Trotzdem trotzen wir dem kalten Wind und dem abscheulichen Wetter Kilometer für Kilometer ab. Der Gedanke heute noch eine heiße Dusche und gutes Essen zu bekommen gibt uns Energie.
Unser Tacho zeigt 102 Tageskilometer als das Ortschild nach Jurga mit nur zwei Kilometer lockt. Mit einem Tachostand von 105 Kilometern erreichen wir eine Tankstelle am Stadtrand. “Wo gibt es hier denn eine Gastiniza?”, frage ich die Frau am Schalter der Tanke. “Oh das ist weit. Sie müssen ins Zentrum.” “Wie weit?” “Noch fünf Kilometer”, vernehme ich. Bei einem Tachostand von 112 Kilometer frage ich einen jungen Mann. Diese Strecke ist vom Regen überflutet. Da kommen sie nicht durch. Sie müssen umkehren und außen herumfahren”, schockt mich seine ernüchternde Aussage. Wären wir hier in der Wildnis würden wir spätestens jetzt unser nasses Zelt aufbauen, jedoch ist hier in der Stadt nicht daran zu denken. Es geht wieder vorbei an schrecklichen Industrieanlagen. Unter einem unscheinbaren, kleinen Tunnel verschwinden überraschend viele Fahrzeuge. “Ob das der Weg zum Zentrum ist?”, frage ich Tanja. “Sieht nicht so aus. Besser du fragst nach bevor wir noch mal einen Umweg fahren müssen.” “Ja, da geht’s zum Zentrum. Immer der Straße nach, den Berg rauf, wieder runter, dann Zickzack. Am besten sie fragen dort noch mal”, meint ein Mann in seinem dicken Allradfahrzeug. Wir folgen seiner Erklärung. Die Sonne steht bereits tief und erleuchtet die gespenstisch aussehen Fabrikanlagen die wir passieren. Die Luft beißt in der Nase und brennt in den Lungen. Monströse alte Rohre sind mit Isolierstoff umwickelt. An vielen Stellen hängt die Isolierung herunter oder ist aufgeplatzt. Um manche Leitungen hat sich eine ekelhaft dunkelgelbe Schicht gelegt. Sie wirft blasen und sieht schon von weitem sehr giftig aus. Einige der Rohre wenige Meter neben uns sind leck. Heißer Dampf zischt heraus und wir könnten wieder einmal glauben Hauptdarsteller eines Umweltthrillers zu sein. Wir halten die Luft an so lange es geht. Dann jedoch müssen wir unseren Körper mit der überlebensnotwendigen Atemluft versorgen. Wir hecheln vorbei, fragen die hier immer lebenden Menschen nach dem weiteren Weg und landen nach 120.04 Tageskilometern vor einem Ostblockbunker der Güteklasse “Extrahässlich”.
“Ja wir haben ein Zimmer sagt die Dame um 21:00 Uhr abends da die Uhren hier um eine weitere Stunde vorgestellt wurden. Während ich die Zimmer und die Unterstellmöglichkeit für unsere Räder checke friert Tanja draußen in der Dunkelheit. Ich beeile mich so gut es geht. Dann tragen wir unser gesamtes Hab und Gut in das warme Innere des Hotels. Gott sei Dank funktioniert der Aufzug. Im fünften Stock beziehen wir für 1.200 Rubel (35,- Euro) unser Zimmer. Obwohl heute unser Hochzeitstag ist und wir uns den ganzen Tag auf die heiße Dusche gefreut haben wird uns dieser Wunsch nicht erfüllt. Das Wasser verlässt die Leitung eiskalt. Zu viele Gäste wollten heute anscheinend heiß duschen und die alte Anlage ist dieser Belastung nicht gewachsen.