Gastfreundschaft. Im nassen Zelt am Orteingang?
N 46°07'444'' E 019°19'696''Tag: 70
Sonnenaufgang:
06:40 Uhr
Sonnenuntergang:
18:24 Uhr
Luftlinie:
55,57 Km
Tageskilometer:
89,46 Km
Gesamtkilometer:
1875,90 Km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Temperatur – Tag (Maximum):
17 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
14,6 °C
Temperatur – Nacht:
11 °C
Breitengrad:
46°07’444“
Längengrad:
019°19’696“
Maximale Höhe:
140 m über dem Meer
Aufbruchzeit:
11.00 Uhr
Ankunftszeit:
19:15 Uhr
Durchschnittsgeschwindigkeit:
17,13 Km/h
Feuchtigkeit wabbert wie eine unsichtbare Dampfwolke durch unser Zelt. Alles ist ein wenig klamm. Müde schlage ich die Augen auf und lasse sie langsam an der Stoffbahn unserer, im frühen Dämmerlicht, noch dunklen Behausung herab gleiten. Der Itronix, die Kameras und einige Klamotten liegen neben mir. Tanjas gleichmäßiger Atem verrät, dass sie noch schläft. Leichter Nieselregen trippelt auf die Zeltbahn. Motorengeräusche dicht neben uns verraten den Aufbruch eines Urlaubers. Wahrscheinlich nutzt er die frühen Morgenstunden, um nach Hause zu fahren. Seit gestern ist der Campingplatz fast leer. Die herbstlichen Temperaturen und das baldige Schließen des Thermalbades hat bald alle veranlasst ihre mobilen Häuser zu packen. Unsere Stoffbehausung und noch drei Wohnwägen sind die Letzten Anwesenden. “Es regnet schon wieder”, flüstere ich im Halbschlaf, auf das leise Drieseln des vom Himmel fallenden Nass lauschend. “Vielleicht können wir unser Zelt heute Abend irgendwo trocknen?”, überlegt Tanja leise gähnend. “Vielleicht”, sage ich und beginne mit meiner Gymnastik die ich jetzt schon seit Wochen jeden Morgen durchführe, um meine Rückenmuskulatur zu stärken.
Nachdem wir uns in die feuchtkalte Realität des Tages begeben haben packen wir unsere Habseligkeiten zusammen. Während Tanja das Frühstück bereitet rolle ich unser klatschnasses Zelt zusammen und verstaue es mit den Isolationsmatten in der wasserdichten Ortliebtasche. Dann reinigen und ölen wir noch schnell die Ketten. Es dauert heute lange bis unsere Böcke komplett beladen sind und wir endlich wieder in die Pedale treten. Josef, der Bademeister, hat mir noch geraten an der Lampa, was soviel wie Ampel heißt, rechts abbiegen zu müssen. Nach seiner guten Beschreibung lassen wir Kiskörös in gewünschter Richtung hinter uns. Um die gefährliche Bundesstraße zu vermeiden nehmen wir einen Umweg in Kauf und fahren erstmal 24 Kilometer nach Westen. Vor der Stadt Kaloska treffen wir auf eine in der Karte angegebene kleine Straße die uns wieder nach Süden leitet. “In spätestens 30 Minuten tritt mein Magen und ich in den Hungerstreik”, ruft Tanja. “Ich habe aber noch gar keinen Hunger”, antworte ich. “Ich aber”, hallt es bestimmt durch den späten Vormittag. Da eine hungrige, noch dazu radelnde Tanja besser zu ihrer Nahrung kommt, suche ich nach einem geeigneten Rastplatz. Wir biegen gerade um eine enge Kurve einer schmalen Dorfstraße als ich die Haltestelle entdecke. Eine Frau wartet unter dem Glasvordach anscheinend auf den Bus. “Dort drüben können wir uns setzen und es ist sogar windgeschützt. Was hältst du davon?”, frage ich Tanja. “Sehr gut”, antwortet sie, worauf wir es uns in der Bushaltestelle bequem machen. Die Dame sieht unseren Vorbereitungen zum Mittagessen mit großem Interesse zu. Zu ihrem Bedauern kommt der Bus und sie steigt ein. Der Busfahrer hat anscheinend noch nie zwei wie Aliens aussehende Radler gesehen die seine Haltestelle zum Mittagessen nutzen. In reißt es regelrecht auf seinem Sitz herum. Als er begreift was wir tun, zieht sich ein Lächeln über sein Gesicht und er hält den Daumen nach oben.
Durch unser frühes Mittagessen gestärkt setzen wir bei knapp 16 Grad und leichtem Nieselregen unsere Fahrt fort. Heute liegen ca. 90 Kilometer vor uns wenn wir wie geplant die Grenzstadt Bacsalmas erreichen wollen. Wir überholen einen der wenigen Pferdewägen. Der Wagenlenker ruft uns freudig zu. Dann geht es leicht den Berg hoch. Links und rechts säumen eigenartige kleine Häuser die Straße. Bis auf wenige sind sie zu dieser Jahreszeit verlassen. Vor einem der Häuschen sitz eine Menschengruppe. “Hallo! Hallo! Kommt nehmt Platz. Esst etwas. Trinkt etwas mit uns”, lädt uns einer der Männer in gutem Deutsch ein. Wir bleiben stehen, werfen wegen der noch großen Tagesetappe einen Blick auf unsere Uhr, sehen uns an und entscheiden spontan eine kurze Pause einzulegen. “Ihr befindet euch in dem berühmten Weinort Hajos. Die Häuser hier sind alles kleine Privatkeltereien. Im Mai gibt es ein großes Fest und wir bieten alle unsere Weine zum probieren und kaufen an. Da solltet ihr wirklich noch mal kommen”, erzählt Ludwig unser Gastgeber. “Wenn ihr fotografieren möchtet könnt ihr das gerne tun. Komm ich zeig dir unseren Weinkeller. Da trüben steht übrigens die Weinpresse. Wir pressen unsere Trauben noch mit Muskelkraft aus. Magst du Fleisch? Nimm dir davon. Es hat kein Fett”, erklärt er und erzählt mit ansteckender Freundlichkeit. Am Tisch sitzen noch andere Männer. Einer von ihnen spricht uns auf Schwäbisch an. “Bin einer der Donaudeutschen die hier seit langem leben. Wir sprechen noch immer unsere Heimatsprache”, erklärt er uns in schwer verständlichem Dialekt. Ein anderer der Tischgäste sieht aus wie ein Szumuringer. “Ich bin ein Szumuringer. Habe für mein Land die Bronzemedaille geholt”, sagt er mit Stolz und zeigt einen Farbausschnitt aus einer Zeitung über sich im vollen Kampfgewicht. “Trainierst du viel?”, frage ich. “Nein, nicht mehr. Bin jetzt 50 Jahre alt und schon lange nicht mehr aktiv”, antwortet er und lässt seine Gabel in ein weiteres Steak fahren, um es sich auf den Teller zu holen. Wir werden von den Menschen verwöhnt als wären wir Familienmitglieder. Tanja als Nichtfleischesser bekommt im Grill gegarte Folienkartoffeln und Zwiebeln, Senf und Tomatensoße. Ich lasse mir das bisher beste Fleisch Ungarns munden. “Hmmm, lecker. Was ist denn das für ein Fleisch?”, frage ich. “Schweinefleisch”, antwortet Ludwig. Tanja sieht zu Boden und hat Schwierigkeiten keinen Lachanfall zu bekommen, denn Schweinfleisch ist das einzige Fleisch was ich im Regelfall nicht mehr esse. Doch die Gastfreundschaft und der gute Geschmack lässt mich meine Vorsätze vergessen. “Wirklich gut”, sage ich und nehme mir noch ein Stück davon. Dann bekommen wir selbst gebrannten Schnaps. “Aber nur einen ganz Kleinen”, lacht Tanja. Kaum haben wir das köstliche und aromatische Feuerwasser in unseren Rachen gekippt wollen sie unsere Gläser wieder füllen. “Nein danke, wir haben heute noch einen weiten Weg vor uns”, lehne ich ab. Es ist bereits 16:30 Uhr als wir uns schweren Herzens verabschieden und den interessanten Ort Hajos hinter uns lassen.
Im nassen Zelt am Orteingang?
Von nun an geht es stetig und leicht bergauf. Sofort spüre ich die 110 Kilogramm die meine Oberschenkel vorantreiben müssen. Kraftmäßig ist der heutige Tag nicht mein bester. Ich schnaufe wie ein Ross. Wir durchqueren dichte, dunkle Wälder. Obwohl der Regen schon vor Stunden aufgehört hat tropft es unaufhörlich von den grünen Ästen. Wir lassen die Stadt Janoshalma hinter uns und als wir Melykut erreichen suchen wir nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Im ganzen Ort gibt es keine Unterkunft weshalb wir unserem Planziel, der Stadt Bacsalmas, entgegen streben. Die Wolken und der wieder einsetzende Nieselregen sorgen für eine frühe Dämmerung. Zum ersten Mal befestigen wir an unseren Uvex Radhelmen die kleinen Blinklampen die auf uns aufmerksam machen sollen. Als wir Bacsalmas erreichen ist es schon seit geraumer Zeit dunkel. “Gibt es hier eine Pansion?”, frage ich eine Frau und ihre Tochter. Sie überlegen eine Weile. “Chicko”, sagen sie dann wie aus einem Munde und erklären uns den Weg. “Da ist es”, sage ich und stelle mein Rad an die Hauswand. Als ich auf den Eingang zugehe schwant mir übles. Ich drücke den Türgriff nach unten und tatsächlich lässt sie sich nicht öffnen. “Die haben heute zu”, berichte ich Tanja. “Ich frage mal in der Kneipe da”, meine ich, doch eine junge, sehr unfreundliche, Bedienung sieht mich nicht mal an und murmelt nur etwas von Chicko. “Chicko ist geschlossen”, antworte ich, worauf sie nur mit den Schultern zuckt. Wieder draußen laufe ich um den Gebäudekomplex herum, sehe durch die Fenster ob der Laden überhaupt noch in Betrieb ist. “Kann sein, dass wir unser nasses Zelt irgendwo am Ortsrand aufstellen müssen. Es gibt hier keine weitere Übernachtungsmöglichkeit und diese hier hat heute anscheinend Ruhetag”, erkläre ich Tanja.
Dann entdecke ich ein älteres Ehepaar auf dem Gehweg. Sofort gehe ich auf sie zu um zu fragen. Sie sprechen kein Wort meiner Sprache und ich keines ihrer. Trotzdem sind sie sehr freundlich und wissen was ich möchte. “Kommen sie mit”, scheinen sie zu sagen. Während Tanja auf die Räder aufpasst folge ich den beiden Ungarn in eine Nebenstraße. Der Mann klingelt an einer Tür eines Hauses. Es tut sich nichts. Wieder klingelt er doch auch diesmal regt sich nichts. “Klingelt kaputt”, meine ich, worauf der Mann lacht und mit dem Kopf nickt. Ratlos stehen wir nun da und entdecken im ersten Stock des Wohnhauses das Flimmern eines Fernsehers. “Hier Besitzer”, geben mir meine beiden Helfer mit Zeichensprache zu verstehen. Während wir dastehen und die nächsten Schritte überlegen erkläre ich mit den Worten China und Deutschland und dem Umeinanderkreisen meiner Hände unseren Fahrradtrip. “China!?”, ruft der Mann und schüttelt ungläubig seinen Kopf. Jetzt scheine ich das Mitleid der Beiden wirklich geregt zu haben denn sie beginnen intensiv miteinander zu reden. Anscheinend wollen sie alles versuchen uns nicht in der regennassen Nacht, draußen im unbekannten Dunkeln einer Stadt zu sehen. Plötzlich geht die Tür des Nachbarn auf. Ich höre die Wörter China und so etwa Ähnliches wie Bezikle, was wohl Fahrrad heißen soll. Die Nachbarin ist auch gleich sofort Feuer und Flamme, sieht mich mitleidig an und verschwindet wieder im Haus. “Telefon”, erklärt mein Helfer. Es dauert nicht lange und die Nachbarin kommt mit enttäuschtem Gesichtsausdruck wieder. Soweit ich verstehe haben sie nicht die Telefonnummer des Hotelbesitzers. Wir stehen nun zu viert vor dem Haus und sehen zum Fenster hoch aus dem das Flimmern des Fernsehers dringt. Da oben muss der Besitzer wohnen, denke ich mir und frage wie wir auf uns aufmerksam machen können. Neben mir wird diskutiert. Ein weiterer Passant trifft auf uns und ist nun ebenfalls ein Mitglied unseres Besprechungsteams, welches auf dem unbeleuchteten Gehweg die verschiedensten Überlegungen anstellt. Wie es wohl Tanja ergeht? Sie steht dort Mutterseelen alleine vor einer Kneipe mitten in der Nacht und bewacht unsere Räder. Langsam habe ich das Gefühl zurückgehen zu müssen, doch die Diskussion über die Chinaradler ist im vollen Gange. Plötzlich erscheint der Ehemann der Nachbarin. Er hat die Telefonnummer der Besitzerin ausfindig gemacht und hält mit der Pose eines Siegers sein Mobiltelefon in die Höhe. Tatsächlich tut sich was im Haus des Hotelbesitzers. Ein Licht geht an, das Fenster öffnet sich und eine Frau streckt den Kopf heraus. Ich verstehe nur “China”, und “Bezikle”, worauf sich die Frau vom Fenster entfernt. Es dauert nur wenige Minuten bis eine edel gekleidete Dame aus dem Haus mit der defekten Klingel kommt und wir ihr folgen. Sie eilt kommentarlos im Stechschritt voraus. Am Chicko angekommen sperrt sie die Tür auf, sagt uns wo wir unsere Räder parken sollen, gibt uns den Schlüssel zu einem schönen Zimmer, wünscht uns eine angenehme Nacht und verschwindet wieder. Mittlerweile sind unsere Helfer in der Dunkelheit verschwunden ohne uns die Gelegenheit zu geben sich bei ihnen zu bedanken. “Schade, hätte sie gerne fotografiert”, sagt Tanja. Wir schlichten unsere Ausrüstung in die kleine, hübsch eingerichtete Wohnung und suchen dann ein Restaurant, um unseren Bärenhunger zu befriedigen.