Fehlende Rentiere, die Pranke des Bären und Erdbeben
N 51°33'336'' E 099°15'341''Tag: 156
Sonnenaufgang:
09:28
Sonnenuntergang:
17:19
Gesamtkilometer:
1281
Temperatur – Tag (Maximum):
minus 17°C
Temperatur – Tag (Minimum):
minus 25°C
Temperatur – Nacht:
minus 30°C
Breitengrad:
51°33’336“
Längengrad:
099°15’341“
Maximale Höhe:
1981 m über dem Meer
„Was wackelst du denn so herum?“, fragt Tanja. „Wie? Ich wackle doch nicht“, antworte ich. „Willst du mich ärgern? Du wackelst doch schon wieder. Und noch stärker als zuvor.“ „Man, ich wackle nicht! Wahrscheinlich wackelst du so herum! Ich habe eher das Gefühl, dass du derjenige bist der ärgern möchte.“ „Na ich doch nicht. Spürst du nicht wie unser ganzer Wandan sich bewegt hat? Und jetzt schon wieder. Spürst du das nicht?“ „Klar spüre ich das. Ich bin doch nicht gefühllos.“ „Vielleicht ist es ein Erdbeben?“ überlegt Tanja. „Klar ein Erdbeben. Das ich nicht lache. Denke eher das ein Rentier an unserer Jurte herumfrisst?“, vermute ich, stehe auf, schlüpfe in meine großen Filzschuhe und verlasse die Jurte. „Nichts zu sehen. Kein Tier an der Jurte“, sage ich. „Auch kein Braunbär?“, scherzt Tanja. „Nein auch kein Braunbär“, antworte ich lachend, hänge den Haken der Jurtentür wieder ein, ziehe meine Filzis aus und krabble aufs Wanda. „Komisch. Ich habe es eindeutig gespürt wie sich unser gesamtes Bett mehrfach bewegt hat“, überlegt Tanja. „Ich auch. Das haben wir uns also nicht eingebildet“, antworte ich schläfrig.
Am kommenden Morgen verlasse ich die Jurte um Feuerholz zu holen. Ich treffe Tsaya beim gleichen Job. „Habt ihr auch das Erdbeben gespürt?“, fragt sie. „Ein Erdbeben? Ja, unser Wandan hat mehrfach gewackelt. Tanja dachte erst ich war es. Dann dachten wir ein Rentier hat an unserer Jurte geknabbert. Woher weißt du das es ein Erdbeben war?“, frage ich sie. „Ich habe meine Mutter in U. B. angerufen. Die hat im Internet nachgesehen. Dort wurde berichtet das in Sibirien ein Erdbeben war.“ „Hm, hoffe es hat keinen schlimmen Schaden angerichtet?“ „Das weiß ich nicht. Bei uns auf jeden Fall nicht. Unser Blockhaus steht noch“, antwortet sie schmunzelnd vor der Kälte in ihre Holzhütte flüchtend.
Für die Eingewöhnung bei den Tuwa lassen wir uns viel Zeit. Wir möchten sie nicht gleich zu Beginn unseres Aufenthaltes in ihren Tipis aufsuchen. Sozusagen mit der Tür ins Zelt fallen und sagen; „Hier sind wir. Dürfen wir euch fotografieren und filmen? Oder vielleicht erzählt ihr etwas über eure Riten? Oder können wir mal bei einer Zeremonie eurer Schamanen teilhaben?“ Auch wenn dieses Volk ständig Kontakt mit der Außenwelt hat, ja sogar ein großer Teil von ihnen draußen in Tsagaan Nuur lebt und einige junge Leute sogar in Ulan Bator studieren, ist es unserer Ansicht nach wichtig behutsam vorzugehen und ein Miteinander wachsen zu lassen.
Im Sommer besuchen die Tuwa häufig Touristen aus aller Welt. Sie werden unaufhörlich abfotografiert und gefilmt. Menschen setzen sich in ihre Zelte und lassen sich mit Tee und Brot bedienen. Oftmals ohne sich Gedanken darüber zu machen wie schwer es hier draußen ist an Nahrung zu gelangen. Dass kann sicherlich belastend sein. Und genau das wollen wir nicht. Jedes Foto, welches wir in unseren Apparaten festhalten, soll auch mit dem Willen des Abgelichteten entstehen. Also benötigen wir Zeit und Geduld.
Verhalten beginnen sie uns zu besuchen und freuen sich über Kaffee und Gebäck. Wie schon erwähnt, eine seltene Kostbarkeit in der Taiga. Wir hatten nicht damit gerechnet das Kaffee auf solch große Liebe trifft und hoffen, dass die Vorräte ausreichen. Aber selbst wenn sie zu Ende gehen finden wir etwas womit wir den Gaumen dieser Menschen eine Abwechslung und Freude bereiten können.
Am Abend herrscht Aufregung im Tuwacamp. „Was ist los?“, fragen wir Tsaya. „Zwei Rentiere fehlen. Wir müssen sie suchen gehen. Es könnte sein, dass sie von Wölfen angefallen werden“, erklärt sie. Ultsan hebt einen Sattel auf den Rücken eines der Reittiere, schultert sein großkalibriges Gewehr und trabt in verblüffender Geschwindigkeit davon.
Um Mogi mal ein wenig Auslauf zu gönnen leine ich ihn an und spaziere mit ihm durch den verschneiten Wald. Plötzlich nehme ich eine Bewegung vor mir war. Wie erstarrt verharre ich. „Es sind zwei Rentiere“, flüstere ich zu Mogi. Sie kommen langsam in meine Richtung. Schnell binde ich Mogi an. „Bloß nicht bellen“, ermahne ich ihn und laufe den weißen Tieren entgegen. Ihr linker Hinterlauf ist mit einer Schnur am Hals verbunden. So ist es ihnen unmöglich große Strecken zurückzulegen oder schnell zu flüchten. Im Falle eines Wolfangriffs nicht von Vorteil aber um sie zu hüten hilfreich. Aufgeregt, eines von ihnen zu fangen und den Tuwa zu bringen, überlege ich wie ich es fertig bringen soll es zu erwischen. Dann kommt mir eine Idee in den Sinn. Etwa 20 Meter vor dem ersten Rentier bleibe ich stehen, öffne den Reißverschluss meiner Hose und pinkle. Kaum trifft der Strahl den Schnee, hebt das Rentier interessiert den Kopf und kommt zu meiner Freude angerannt. Sofort beginnt es den gelben Schnee zu fressen. Ich konzentriere mich und fasse beherzt und schnell das Seil. „Hab ich dich“, sage ich freudig und binde es an einen der vielen Bäume an, um mein Glück auch beim zweiten Tier zu versuchen. Leider ist nun kaum noch Vorrat in meiner Blase. Es reicht aber für einen kurzen Sprutz. Sofort kommt auch dieses an, um die Leckerei zu fressen. Rentiere fahren wegen dem Salzgehalt im Urin richtig darauf ab.
Ohne meinen Stolz zu zeigen kehre ich zum Camp zurück. In der linken Hand zwei Rentiere am Seil und in der Rechten Mogi. Hinter mir laufen nun plötzlich viele Rentiere. Getrieben von Ovogdorj, einem der Älteren der Gemeinschaft. Auf einmal komme ich mir gar nicht mehr so stolz vor, denn wahrscheinlich gehören die beiden von mir gefangenen Rentiere zu seiner kleinen Herde die er gerade ins Lager treibt. Als ich sie ihm wenig später übergebe, bedankt sich Ovogdorj überschwänglich und lacht mich warmherzig an. Sein Lachen kommt spürbar aus offenem Herzen. Wenn ich es richtig deute verstand er meine Aktion als gut gemeinte Handlung die bei den Menschen hier wohlwollend aufgenommen wird.
Abends besuchen uns wieder Tsaya und Ultsan. „Wie geht es dir?“, frage ich Tsaya weil ich den Eindruck habe etwas Gequältes in ihrem Gesichtsausdruck zu entdecken. „Ach ich habe Zahnweh“, antwortet sie. „Zahnweh? Oh das ist aber gar nicht gut. Vor allem wenn man in der Taiga lebt“, antworte ich mir Gedanken machend. „Ja, ist nicht gut. Ultsan hat versucht mir den Zahn zu ziehen aber es hat nicht geklappt.“ „Ziehen? Wie denn das?“, wundere ich mich. „Wir haben eine Zange. Aber sie ist ständig abgerutscht. Hat ganz schön wehgetan. Ich stach dann die Geschwulst mit einer Nadel an. Hoffe das hilft“, schockt sie uns. „Du hast mit einer Nadel in dein Zahnfleisch gestochen?“ „Ja.“ „Na hoffentlich war sie sterilisiert?“ „Es war eine neue Nadel“, antwortet sie sich über die Backe streichend.
Bei Kaffee und Süßgebäck unterhalten wir uns über das einsame Leben in der Taiga und die Jagd die für das Volk der Tuwa zum Leben gehört wie der Sonnenauf- und Untergang. Ultsan setzt seine Geschichte da fort wo er sie gestern Abend beendet hat.
„Am liebsten jage ich Gämsen. Sie sind nicht leicht zu erwischen und du brauchst gute Hunde die in der Lage sind den Fluchtweg des Tieres zu berechnen. Aber die gefährlichsten Tiere sind und bleiben Wildschweine und Bären. „Sind gute Jagdhunde wichtig für euch?“, frage ich. „Aber ja. Ohne Hunde wäre der Erfolg einer Jagd sehr gering. Wir besitzen hier im Camp sehr gute Jagdhunde. Allerdings sind sie nur für die Taiga zu gebrauchen. Außerhalb fallen sie über Schafe, Ziegen und junge Rinder her.“ „Was? eure Hunde jagen auch Schafe?“ fragt Tanja. „Aber ja. Sie reißen eigentlich alles außer Rentiere. Dafür sind sie erzogen. Wenn wir nach Tsagaan Nuur reiten müssen wir sie hier im Camp gut festbinden. Einmal allerdings hat sich einer unserer Hunde losgerissen und ist uns gefolgt. Auf dem Weg nach Tsagaan Nuur tötete er gleich vier Schafe. Wir mussten alle bezahlen“, hören wir und müssen lachen. „Sorry, aber das ist zu komisch. Unser Mogi liebt es ebenfalls Schafe in den Hintern zu beißen. Er hat uns auf dem Weg hierher viel Ärger bereitet. Einmal mussten wir auch bezahlen, haben aber das Schaf nicht bekommen. Ich hoffe euch erging es besser und ihr konntet das getötete Schaf mitnehmen?“, frage ich. „Ja konnten wir.“ „Das ist gut. Mogi wäre eigentlich ein guter Hund für euch. Allerdings wissen wir nicht ob er eure Rentiere ebenfalls verfolgen würde. Vor allem die Jungen. Er ist in der Stadt aufgewachsen und hat nie mit anderen Tieren zu tun gehabt“, erklärt Tanja. „Euer Hund ist ein starker und mutiger Hund. Ich habe bemerkt, dass er vor nichts Angst hat. Wäre ein guter Hund für die Bärenjagd“, entgegnet Ultsa. „Hm, ich weiß nicht. Ich denke seine Überlebenschancen wären äußerst gering. Der Bär würde ihn sofort töten“, sage ich nachdenklich. „Kann sein. Die meisten Hunde werden allerdings bei der Jagd auf Wildscheine verletzt oder getötet. Aber wenn ein Hund genügend Erfahrung gesammelt hat lässt er sich auch nicht so schnell umbringen.
Ich erinnere mich als ich mit meinen Bruder auf der Jagd war. Einer unserer Hunde blieb plötzlich stehen und legte seinen Kopf zur Seite. Wir beobachteten ihn wie er neugierig in die Erde lugte. „Könnte der Bau eines Bären sein?“, meinte mein Bruder. Ich hielt es für unmöglich da die Erhebung einer Höhle oder Grube nicht auszumachen war. Allerdings sind Bäre sehr intelligent. Sie schaffen die Erde für ihren Bau von vielen Kilometern Entfernung heran. Dabei laufen sie auf den Hinterbeinen und tragen den Aushub in den Vorderläufen“, erklärt Ultsan. „Warum machen sie das?“, wundere ich mich. „Um Spuren zu verwischen. Sie graben meist nie dort wo ihre Höhle ist sondern bringen das Baumaterial von weit her. So ist ihr Winterlager nicht auszumachen. Darauf zu stoßen wäre reiner Zufall. „Und? Was hat euer Hund in der Erde gesehen? War es eine Bärenhöhle?“, frage ich, um den Fortgang der Geschichte zu hören. „Na ja. Das wussten wir eben nicht. Wir standen hinter den Bäumen auf der Lauer und beobachteten die Situation. Obwohl ich nicht daran glaubte eine Bärenhöhle entdeckt zu haben konnte es trotzdem eine sein. Hunde können das Schnaufen des Bären hören. Und es stand außer Frage, dass unser Hund etwas entdeckt hatte. Wir standen vielleicht 30 Minuten in unserem Versteckt als ich vor Schreck fast mein Gewehr fallen ließ. Urplötzlich schoss eine Pranke aus der Erde, nur knapp an unserem Hund vorbei. Der quiekte vor Schreck und sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite. Nur Sekundenbruchteile brach ein großer Braunbär durch die Erde nach oben um den Hund zu reißen. Er hatte nicht geahnt das Menschen in der Nähe sind. Ansonsten wäre er nie herausgekommen. Es dauerte nur ein Augenzwinkern bis wir uns von dem Schreck erholt hatten und schossen. Der Bär war sofort tot“, erzählt Ultsan. „War er auch so dünn wie der der euch fast alle getötet hatte?“, frage ich. „Nein, es war ein gut genährtes Tier. Wir konnten alles verwerten und unseren Stamm damit einige Zeit ernähren.“
„Wir müssen gehen“, fordert Tsaya ihren Mann auf. „Das koreanische Drama?“, frage ich. „Ja, eine neue Episode“, antwortet sie. „Na dann bis morgen“, antworte ich. „Ihr seid jederzeit willkommen“, verabschiedet sich Tanja noch die beiden wieder zu uns einladend.
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