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Russland/Irkutsk Link zum Tagebuch TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 4

Fahrräder über Bord?

N 52°16'26.0'' E 104°18'16.0''
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    Tag: 64-66

    Sonnenaufgang:
    06:34 Uhr

    Sonnenuntergang:
    21:14 Uhr

    Luftlinie:
    299,17 Km

    Tageskilometer:
    320 Km

    Gesamtkilometer:
    12758.86 Km

    Bodenbeschaffenheit:
    Schotter / Sand

    Temperatur – Tag (Maximum):
    26 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    18 °C

    Temperatur – Nacht:
    7 °C

    Breitengrad:
    52°16’26.0“

    Längengrad:
    104°18’16.0“

    Maximale Höhe:
    531 m über dem Meer

    Maximale Tiefe:
    450 m über dem Meer

    Aufbruchzeit:
    09.00 Uhr

    Ankunftszeit:
    22:00 Uhr

    Durchschnittsgeschwindigkeit:
    10,7 Km/h

Gähnend liege ich auf meiner Isomatte und blicke aus dem Fenster in den dunklen Himmel. Tief hängen die Wolken über dem Baikal. Die letzten Tage hat es immer wieder anhaltend geregnet. “Es hat aufgehört. Wenn wir Glück haben wird es ein angenehmer Reisetag”, meine ich. “Ja, wäre schön wenn wir die 300 Kilometer auf dem Schiff nach Irkutsk ohne Sturm und Wellen verbringen könnten”, entgegnet Tanja. “Grummelt es in deinem Bauch?”, frage ich, weil von den fünf Gästen bei Simone und Leonid vier an Brechdurchfall erkrankt sind. “Nein, mir geht es Gott sei Dank gut. Und dir?” “Ich fühle mich auch Gesund. Wäre ja nicht schön gerade an einem Reisetag, noch dazu auf dem Boot, von diesem eigenartigen Virus oder was es auch immer sein mag, angefallen zu werden”, sage ich müde. Es ist 6:00 Uhr. Da die Sonne 1 ½ Stunden später aufgeht als vor zwei Monaten, ist es noch dämmrig. Trotzdem stehen wir auf und packen unsere restlichen Sachen zusammen.

“Dobre utra” (Guten Morgen) Leonid. Was macht dein Magen? Geht es dir heute besser?”, begrüße und frage ich ihn, weil auch er den gestrigen gesamten Tag im Bett verbracht hat. “Charoscho”, (Gut) aber Simone hat es heute Morgen erwischt”, antwortet er mit besorgtem Gesichtsausdruck. “Scheint ja vor niemanden Halt zu machen”, entgegne ich. “Hm, so wie es aussieht. Hoffe ihr kommt gut durch”, sagt er. “Wir geben uns Mühe. Vielleicht sind unsere Abwehrkräfte durch das viele Reisen gestärkt? Wer weiß?”, entgegne ich die Kette noch mal richtig zu ölend. Weil die Zahnkränze und die Ketten nach unserer Inseldurchquerung in einem katastrophalen Zustand waren, hat sie Tanja gestern mit Pinsel und Kerosin gereinigt. Ein schmutziger aber wichtiger Job. “Auf Wiedersehen und gute Reise!”, ruft uns Simone zu, die kurz aus dem Haus gekommen ist, um sich von uns zu verabschieden. “Auf Wiedersehen, gute Besserung und vielen Dank für die schöne Zeit”, antworten wir. Dann umarmen wir Leonid und den Motorradfahrer Stefan, der auf ein paar Ersatzteile aus Deutschland wartet, um seine Reise fortsetzen zu können. “Hier nimm. Die habe ich extra für euch heute Morgen gepflückt”, sagt Leonid mir ein Glas voller Johannesbeeren gebend. “Vielen Dank, aber wo soll ich die hinpacken?” “Du findest schon einen Platz”, meint er mit den Augen zwinkernd.

Schon auf den ersten Metern knirschen unsere Ketten geradezu schrecklich und bereits nach 100 Metern springen sie von den Zahnkränzen. “Seltsam, sie haben doch bis hierher durchgehalten. Hoffe nicht, dass die Inseldurchquerung unseren Antrieb ruiniert hat. Woran das nur liegen kann?”, frage ich mich nervös auf die Uhr sehend. “Noch haben wir genug Zeit. Das Schiff geht erst um 12:00 Uhr. Notfalls müssen wir die sechs Kilometer bis nach Chushir schieben”, beruhigt mich Tanja. Eine Viertelstunde später bleiben die Ketten in den Ritzeln und wir kommen trotz der grauslich knirschenden Geräusche gut voran. “Hätte die Ketten nicht so stark ölen sollen. Der ganze Sand bleibt einfach daran kleben”, überlege ich auf der Fahrt durch den schönen Wald bis zur Ortschaft.

Im Örtchen Chushir kaufen wir Lebensmittel für die Schiffsfahrt. Dann fragen wir uns durch wo die Bargusin anlegt. “Da vorne rechts und dann Richtung Schamanenfelsen”, hören wir die Beschreibung. Der Weg ist durch den Regen der vergangenen Tage völlig aufgeweicht und wir versinken regelrecht im Schlamm. Unsere Ketten danken es mit ständigem Herausspringen, bis wir gar nicht mehr weiterkommen. Wieder bin ich gezwungen den Matsch und Sand vom Antrieb zu kratzen. “Sie haben Zeit die Bargusin kommt erst um 1:00 Uhr”, beruhigt uns eine Frau. “Wir sollten trotzdem schon zum Strand fahren. Sicher ist sicher”, rät Tanja, weswegen wir die Bikes über einen zum See abfallenden Wiesenrücken schieben. Traveller, die ihre Rucksäcke geschultert haben, pilgern in Gruppen ebenfalls in die gleiche Richtung. Plötzlich ist der steil abschüssige Pfad zu Ende. Der Regen hat ihn einfach weggewaschen. Die Reisenden nutzen ein etwa 30 Zentimeter breites, von einem Bächen, unterhöhltes Erdbrückchen. “Ob das hält?”, frage ich. Weil wir keine andere Chance besitzen, um den unter uns liegenden Strand zu erreichen, wage ich es und schiebe vorsichtig mein Rad über den Erdsteg. Es klappt. Auch Tanja bringt den akrobatischen Akt fertig ohne abzustürzen. Bedacht und beide Bremsen ziehend, lassen wir nun auf einen schmalen Erdpfad unsere Böcke nach unten rollen und legen sie neben den Rucksackreisenden in den Sand. Alle warten auf die Bargusin. Weil man die Tickets erst an Board buchen kann ist nicht gewiss ob jeder mitfahren darf. Das nächste Schiff kommt erst übermorgen. Aber nur wenn es nicht stürmt. “Ich geh mir mal den Schamanenfelsen ansehen”, beschließe ich, um die Wartezeit zu überbrücken. “Aber bleib nicht zu lange. Vielleicht kommt das Schiff ja früher!”, warnt mich Tanja.

In der Tat wirkt der große Kalksandsteinfelsen, der auch als Symbol des Baikals bezeichnet wird, sehr beeindruckend. Die Stämme der vereinzelnden Bäume sind mit bunten Tüchern umwickelt. Majestätisch strecken sie ihre Kronen in den bewölkten Himmel. Ich klettere in die kreisförmige, malerische Bucht hinunter und habe von dort einen fantastischen Blick auf das Heiligtum, welches schon seit Jahrhunderten der Sitz der Götter ist. Wegen der bald kommenden Fähre muss ich mich sputen die Wohnstätte des berüchtigten Gottes Khan Choto-Babai weiter zu erkunden. So schnell ich kann kraxle ich den Felsen hoch so weit es nur geht. Ich suche die Höhle, die es hier geben soll. Dort im Inneren des Felsen fand man die Spuren einer steinzeitlichen Besiedelung. Auch entdeckte man eine Grabstätte und Reste von Opferritualen und Beschwörungszeremonien die aus längst vergangener Zeit stammen. Gebannt von der Ausstrahlung des Ortes und der faszinierenden Aussicht halte ich kurz inne. Ich blicke auf die Uhr. Keine Zeit um weiter nach der Höhle, dem Wohnzimmer des Gottes, zu suchen. Wegen den glitschig nassen Felsen steige ich wieder vorsichtige nach unten.

Ich bin noch nicht lange zurück als die Bargusin pünktlich um 12:00 Uhr um den Schamanenfelsen schippert und auf den Strand Kurs nimmt. Jetzt kommt Bewegung in die Reisegruppen. Jeder schultert sich seinen Rucksack, hebt die Koffer und stapft durch den weichen Strand in Richtung Bargusin, deren Bug gerade in den Sand knirscht. Erst als alle an Board sind haben wir die Chance unsere Räder über die steile Boardleiter nach oben zu schleppen. Zu unserem Glück ist die Bargusin gerade mal halbvoll. “Die Räder müssen auf das Dach”, bestimmt der Maschinist. Gemeinsam zerren wir die Intercontinental nach oben. “Hast du ein Seil?”, fragt er. “Ein Seil? Nein, habe ich nicht”, antworte ich. Abrupt lässt er mich vor unseren Rädern stehen, kommt aber wenig später mit einem dünnen Draht wieder, um sie damit an ein Eisengländer zu befestigen. “Um Gottes Willen! Das halte sie nie aus!”, rufe ich entsetzt. “Normalna”, (Aussage für viele Situationen z. B. okay, in Ordnung, oder normal), sagt er lächelnd. “Njet normalna. Eta bolschoi Problem”, (“Nicht in Ordnung. Dies ist ein großes Problem”) sage ich und kann nicht glauben als er den einschneidenden Draht über die Bremsschläuche biegt. Durch die Wellen rüttelt und Schaukelt es auf dem Schiff mit Sicherheit erheblich. Würde ich das Rad so befestigt lassen, wären garantiert die Magurabremsschläuche hinüber und die Rahmen der Räder aufgescheuert. Der Mechaniker lässt mich einfach alleine und hilft seinem Kollegen beim einziehen der Bordleiter. Bald verzweifelt überlege ich was jetzt zu tun ist. Der Fahrwind weht mir bereits um die Ohren als ich vm Dach klettere und Tanja bitte mir irgendetwas zu suchen womit ich unsere Sumobikes sicher befestigen kann. Da es auf dem Dach kein Geländer gibt, bin ich gezwungen sie festzubinden. Ansonsten würden sie schon bei leichtem Seegang einfach ins Wasser fallen und für immer in den Tiefen des Sees verschwinden. “Hier, nimm unsere Campsitze!”, ruft sie um den Wind zu übertönen. (Campsitze sind zwei leichte Schaumstoffflächen die mit einem Riemen verbunden sind) Wieder klettere ich auf das glatte Dach der Bargusin und lege die Campsitze als Schutz zwischen die Räder und das Eisengeländer. Den Draht ersetze ich mit unserer Wäscheleine. Hoffend das die Verschnürung hält. Als ich vom Dach klettere, hat die Bargusin volle Fahrt aufgenommen. Erschöpft lasse ich mich neben Tanja in einen Sitz fallen. “Alles klar?”, fragt sie. “Denke schon”, antworte ich.

Schon nach einer Stunde lassen wir die Insel Olchon hinter uns und die Bargusin braust in den großen Baikal. “Hoffe, dass hier die Wellen nicht größer werden”, meine ich. Kaum habe ich meinen Mund geschlossen knallt der Rumpf des Schiffes hart auf die immer höher werdenden kurzen Wellenkämme. Der Baikal ist für schnelle und oftmals extreme Wetterumstürze bekannt. Vor allem entwickeln sich hier keine langen Wogen, sondern kurze und harte Brecher. Nervös blicke ich nach draußen auf die Wellen. “Jetzt geschieht genau das wovon ich gesprochen habe”, sage ich. “Sind die Räder fest?”, fragt Tanja besorgt. “Wie soll ich das wissen. Wenn die Wäscheleine reißt verschwinden sie auf nimmer wieder sehen im See.” “Du kannst bei dem Wind unmöglich aufs Dach.” “Nein, ansonsten verschwinde ich auf nimmer wieder sehen im See”, sage ich als es plötzlich laut und metallisch über unseren Köpfen kracht. Sofort springe ich auf und renne zur Kabinentür. Ein Russe hinter uns denkt offensichtlich genau das Gleiche. Er springt hoch und hilft mir dabei die Bordtür gegen den Wind aufzudrücken. Ich schlüpfe hindurch und habe die Chance einen Blick auf das Dach zu werfen. “Puhh, Glück gehabt”, denke ich, als ich unsere Bikes unversehrt dort stehen sehe wo ich sie festgeschnürt habe. “Und, wie sieht’s aus?”, fragt Tanja als ich zurückkomme. “Gut. Sie stehen zwar schräger als vorher aber die Schnurr scheint zu halten”, erkläre ich. Kaum habe ich mich niedergelassen kracht es wieder über uns. Eilig laufe ich schwankend Nach vorne zur Kabinentür. Durch den Seegang ist es unmöglich geradeaus zu gehen. Der Rumpf der Bargusin teilt mit Gewalt die Wellen die erbarmungslos und brutal gegen ihn donnern als wäre sie nicht aus Wasser sondern aus Beton. Obwohl mir bewusst ist, dass ich bei dem Seegang selbst im Notfall nicht aufs Dach kann, um unsere Räder zu retten, öffne ich erneut die Boardtür und blicke hinaus. Alles beim Alten. Die Intercontinental halten durch. Beruhigt setze ich mich wieder. “Na, die Fahrt habe ich mir etwas gemütlicher und stressfreier vorgestellt”, meine ich. An Schlaf ist kaum zu denken, da es beim Aufschlagen des Schiffskörpers mir unentwegt im Nacken reißt. Die ersten Passagiere werden Seekrank, während andere Gäste den Ritt über den See fantastisch finden und ausgelassen lachen.

Nach vier Stunden Fahrt beruhigt sich der Baikal ein wenig. Viele der Gäste nutzen die Zeit, um sich dem Fahrtwind auf dem Vorderschiff auszusetzen. Die Räder stehen noch immer wie ein Fels in der Brandung am Eisengeländer. Der Kapitän schippert einige einsame Strände an, um Gäste von Board zu lassen und neue aufzunehmen. Wie auch schon bei der Herfahrt genießen wir jetzt die schroffen, abfallenden Felswände des Ufers. Nahezu lückenlos zieht sich die Taiga bis zum bergigen Horizont. An manchen Stellen brennt sie. Der Wind facht das Feuer weiter an, weshalb es sich über die Hügel fressen kann. In manchen Jahren hat das Feuer fatale Folgen. Im Jahre 2003 zum Beispiel war die Situation erschreckend. Nach einem sehr niederschlagsarmen Sommer wurden alleine in der Region Irkutsk über 2.000 Feuerherde entdeckt. Sie wüteten mehr als zwei Monate und zerstörten unbeschreiblich große Waldgebiete. Die Rauchschwaden zogen sogar über Irkutsk, so dass die Sonne kaum zu sehen war. Viele der Feuer werden durch unachtsames Verbrennen von Gras und Müll verursacht. Profitgierige Geschäftsleute lassen auch absichtlich Feuer legen, um den biologischen Wert von Wäldern zu mindern. Auf diese Weise kommen sie leichter an Abholzgenehmigungen heran. Auf der anderen Seite entstehen Waldbrände auch auf natürliche Weise. Es sind hingegen vereinzelnde Unterholzbrände die im Frühjahr entstehen wenn der Boden trocken wird und das erste Grün noch nicht zum Vorschein gekommen ist. Sie helfen, um die Nährstoffe aus der Biomasse freizusetzen, die sonst nur sehr langsam verrotten würden.

Um 18:00 Uhr befinden sich kaum noch Menschen auf der Bargusin. Anscheinend wollte keiner der Touristen nach Irkutsk zurück. Es ist 20:00 Uhr als wir den kleinen Hafen von Irkutsk anlaufen. Schnell sind unsere Bikes an Land getragen. “Und wie sehen sie aus?”, fragt Tanja. “Gut, sie haben den Transport heile überstanden”, antworte ich nach einer kurzen Überprüfung erleichtert. Bevor wir losfahren reinige ich noch mal sehr gründlich den kompletten Antrieb. Diesmal mit Erfolg. Da wir nun seit über zwei Wochen wieder Asphalt unter uns haben, bleibt die Kette sauber und die Räder schnurren wie eh und je dahin. Bald haben wir das Hotel erreicht, in dem unsere Anhänger lagern. Nur weil wir telefonisch reserviert haben bekommen wir das letzte Zimmer. In Irkutsk ist es zu dieser Jahreszeit nicht leicht eine Unterkunft zu bekommen. Vor allem gibt es kaum eine Möglichkeit unsere Räder einzulagern.

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