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/Koktschetaw Link zum Tagebch: TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 3

Der Expolizeioffizier Marat

N 53°18'18.8'' E 069°23'36.4''
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    Tag: 67

    Sonnenaufgang:
    05:31 Uhr

    Sonnenuntergang:
    21:26 Uhr

    Luftlinie:
    85.75 Km

    Tageskilometer:
    93.80 Km

    Gesamtkilometer:
    8937.12 Km

    Bodenbeschaffenheit:
    Asphalt

    Temperatur – Tag (Maximum):
    44 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    22 °C

    Breitengrad:
    53°18’18.8“

    Längengrad:
    069°23’36.4“

    Maximale Höhe:
    354 m über dem Meer

    Maximale Tiefe:
    258 m über dem Meer

    Aufbruchzeit:
    06.45 Uhr

    Ankunftszeit:
    17.00 Uhr

    Durchschnittsgeschwindigkeit:
    17.41 Km/h

Auch in dieser Gastiniza waren die Nächte unerträglich heiß und das Fenster vor dem Bett zugenagelt. Wir sind froh das Gebäude hinter uns zu lassen. Der Meister hat entweder tatsächlich ein Einsehen mit uns oder er ist völlig verrückt geworden. Mit großer Kraft drückt er uns in den Rücken und lässt das Radfahren zum Hochvergnügen werden. Wir fliegen an einer wunderbaren Landschaft vorbei und haben um 11:00 Uhr schon 60 Kilometer zurückgelegt. Als wir ein australisches Kennzeichen an einer an uns vorbeibrausenden Geländemaschine erkennen, rufen wir laut aus. Es dauert nur Minuten und der Motorradfahrer kommt wieder von hinten angedonnert, überholt uns und hält am Straßenrand. Der Motorradfahrer Mike kommt tatsächlich aus Perth und möchte den gesamten Osten bis nach Europa mit seiner Maschine durchqueren. Er ist auf dem Weg nach Norwegen und wird dort im Winter als Skilehrer arbeiten. “Wo hast du denn deinen Skilehrer gemacht?”, interessiert es mich. “In Kanada”, lacht er. Wir unterhalten uns 1 ½ Stunden bis wir uns wieder verabschieden.

Nach 93 Kilometer erreichen wir die Stadt Koktschetaw. Wir freuen uns auf eine vernünftige Gastiniza in der wir nicht gekocht werden. Leider kostet sie knapp 60,- ? pro Nacht und ist noch dazu ausgebucht. Da wir mindestens zwei Nächte pausieren wollen verlasse ich den Luxusladen etwas deprimiert und sehe wie sich Tanja mit einem Kasachen unterhält. “Wie kann ich ihnen helfen?”, fragt er worauf wir ihm erklären einen Unterkunft für die Nacht zu suchen. “Hm, hm”, brummelt er, zückt sein Handy und spricht mit seiner Frau. “Okay, wenn sie möchten können sie gerne mit zu uns kommen. Wir haben ein Bett für sie frei”, lädt er uns offensichtlich erwartungsvoll ein. Da wir zögern und eigentlich unsere Ruhe brauchen, holt er seine Papiere heraus und sagt: “Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich bin Polizeioffizier. Erst vor kurzem in Rente gegangen. Hier sehen sie. Das ist mein Ausweis”, lacht er freundlich. Tatsächlich blickt mir auf dem Bild ein hoher Polizeioffizier entgegen. “Warum sind sie schon in Pension?”, frage ich. “In Kasachstan werden wir schon im Alter von 42 Jahren in den Ruhestand geschickt. Ich arbeite aber jetzt noch als Ingenieur in einer Lastwagenfabrik”, erklärt er. “Meine Wohnung ist nur einige Busstopps von hier. Sie müssen nicht weit fahren. Tanja und ich beraten einen Augenblick. Uns ist bewusst, diese Reise auch zu unternehmen, um zu sehen wie es bei den Kasachen Zuhause aussieht. Obwohl wir für eine tiefgehende und oft anstrengende Kommunikation zu müde sind, sagen wir zu. Marat freut sich anscheinend ungemein. “Ich war gerade unterwegs um frisches Trinkwasser zu holen als ich sie hier stehen habe sehen. Würden sie mir helfen?”, bittet er mich. “Gerne”, antworte ich und während Tanja auf die Räder achtet steige ich in seinen Audi. Marat spricht ein ganz passables Englisch, so können wir uns besser verständigen als wäre die Unterhaltung nur auf Russisch. An einem eisernen Wasser spuckenden Rohr, welches ca. zwei Meter weit aus der lehmigen Erde ragt, halten wir. Eine Gruppe von Menschen umringt den Wasserspender. Jeder Einzelne von ihnen füllt das kostbare Nass in Plastikflaschen. Marat hat 15 Zehnliterflaschen und drei 25 Liter Fässer dabei. Wir tragen alles die Stufen zu dem Rohr hinunter. Er ist der Einzige der einen eigenen Schlauch besitzt den er in die Öffnung steckt und sogleich daran saugt. Sofort sprudelt Wasser in ein Fass. Nachdem wir fertig sind schleppen wir die 225 Liter die Treppen hinauf und laden sie in den Kofferraum seines Autos. Nach den knapp 100 Kilometern und den Anstrengungen der letzten Tage torkle ich mehr als das ich gehe. Im Geiste verwünsche ich unsere Entscheidung seine Einladung angenommen zu haben und sehe mich in einer bequemen Gastiniza im Schatten eines Baumes sitzen. “Haben die Städter denn kein Wasser in ihrem Häusern?”, frage ich als wir zu Tanja zurückfahren. “Doch, doch, aber die Qualität ist nicht gut.” “Holt denn jeder Bewohner Koktschetaws sein Trinkwasser auf diese Weise?” “Nein, das ist für viele gar nicht möglich. Nur die ein Auto besitzen können sich diesen Luxus erlauben. Die anderen müssen das schlechte Wasser trinken”, erklärt er.

“Ich fahre ihnen voraus”, sagt Marat dann als wir wieder bei den Rädern sind. Langsam folgen wir ihm durch den Verkehr. Nach einer Bushaltestelle muss er links abbiegen. “Jetzt kannst du dich verdünnisieren und einfach rechts abbiegen”, geht es mir durch den Kopf als Marats Auto nicht mehr zu sehen ist. Ich widerstehe der Versuchung einfach abzuhauen. Das wäre weiß Gott nicht fair. Der arme Mann wüsste nie was er falsch gemacht hätte. Und falsch hat er ja nichts gemacht. Er ist sehr nett und freundlich. Hat uns zu sich Nachhause eingeladen. Wie sollte ich ihm erklären einfach nur hundemüde zu sein und keine Energie für jegliche Kommunikation zu besitzen? Meinen Gedanken nachhängend sehen wir ihn wieder vor uns. Er winkt und lacht. Wir folgen artig und meine Gedanken einfach abzuhauen verschwinden. Dann endlich, nach ungefähr fünf Kilometern, erreichen wir einen der üblichen heruntergekommenen Wohnblocks. Es geht über einen unbefestigten Weg zur Rückseite der neun stockigen Gebäude. “Hier ist mein Zuhause”, sagt Marat nicht ohne Stolz.

Ich helfe ihm das Wasser in das erste Stockwerk zu tragen. Am Eingang liegt einiges an Unrat. Keiner scheint sich darum zu kümmern. Wenn es eine Hausordnung gibt dann geht man ihr hier anscheinend nur sporadisch nach. Zumindest ist das für mich die einzige Erklärung warum Menschen in ihrem eigenen Treppenhaus Müll wegwerfen und ihn dort liegen lassen. Der Eingang des Häuserblocks ist mit einer Code gesicherten Tür versperrt. Die Briefkästen sind zum Großteil herausgerissen oder zerstört. Nur einer hat ein Schloss. Später erfahren wir, dass genau dieser Marat gehört. Das Treppenhaus ist völlig heruntergekommen. Die Fenster sind teilweise gebrochen. Oben angekommen sperrt Marat eine Stahltür auf und siehe da wir betreten ein bewohnbares Zuhause. Marats Frau Gauhar begrüßt mich sehr freundlich. “Deutschland ist sehr gut”, sagt die 43 jährige Tuberkuloseärztin. Als wir wenig später unsere gesamte Ausrüstung inklusive der Räder und Anhänger in die Wohnung getragen haben, gibt uns Marat einige englische Briefe. “Von meinen Freunden aus England. Ich habe sie ebenfalls getroffen als sie mit dem Rad unterwegs waren. Bitte lest sie bis ich wiederkomme. Ich muss noch mal zur Arbeit”, sagt er und geht.

Wir richten uns inzwischen im Zimmer des neun jährigen Sohns Didar ein, der sich gerade im Schullager befindet. Unsere Ausrüstung lässt uns kaum noch Platz für Bewegung. Die Räder stehen im Wohnzimmer und im Gang. Alles ist mit unserem Zeug voll. Schwitzend setzen wir uns auf das Bett von Didar und verschnaufen für eine Weile. Wie das Leben so spielt? Gerade eben waren wir noch auf der Straße einer größeren Stadt und auf einmal befinden wir uns in einer kasachischen Wohnung. Wir lesen die Briefe der englischen Radfahrer in denen von Gastfreundschaft und Dankbarkeit die Rede ist. Während ich die Bilder in den Laptop spiele und meine Kurzaufzeichnungen schreibe richtet Gauhar etwas zum Essen her. “Kommt doch bitte”, fordert sie uns dann in russischer Sprache auf die Küche zu betreten. Es gibt Tee, Plätzchen, sehr süßes Kompott und eine Kartoffelbrühe mit Kohl. Gauhar hat ihre 18 Monate junge Tochter Dinar auf dem Schoß. “Sie ist schwer krank. Leidet unter einer starken Form der Epilepsie. Sie kann nicht sprechen, nicht laufen und reagiert auf absolut gar nichts”, erzählt sie in traurigem Tonfall. Wir erfahren, dass es in Kasachstan für diese Krankheit keine Medikamente und auch keine Ärzte gibt. “Könntet ihr uns ein Medikament aus Deutschland besorgen?”, bittet sie uns. Wie sollen wir erklären das Medikamente Rezeptpflichtig sind? Wie sollen wir einem deutschen Arzt eine Ferndiagnose stellen von einer Krankheit die wir nicht kennen? Gauhar scheint zu verstehen und wiegt ihr Kind. Sie spricht unaufhörlich die gleichen Worte zu ihr, legt die Kleine in den Kinderwagen und beginnt einen sich unaufhörlichen Refrain zu singen. Zwischendurch versuchen wir uns etwas auf Russisch zu unterhalten. Die Stimmung ist auf einmal sehr traurig. Seit Gauhar ihr krankes Kind hat ist sie nicht mehr glücklich. “Seit Dinar geboren ist gehe ich nicht mehr arbeiten. Ich muss mich 24 Stunden am Tag um sie kümmern”, erklärt sie. “Habt ihr Kinder?”, fragt sie. Als wir verneinen kann sie es wie gewohnt nicht verstehen.

Um 19:00 Uhr kommt Marat von der Arbeit zurück. Er scheint ein immer gut gelaunter und gutmütiger Mann zu sein. “Ich habe für das Abendessen eine Flasche Rotwein gekauft. Ich hoffe ihr mögt Wein?”, fragt er. “Sehr gerne”, antworten wir. Wieder sitzen wir in der kleinen Küche auf schmalen Hockern. Es klingelt an der Tür. Alinberg, der Neffe von Marat, kommt herein. Alinberg ist 28 Jahre alt, Rechtsanwalt und spricht gut Deutsch. Ab sofort ist die Unterhaltung einfacher. Gauhar zeigt uns ein paar Fotoalben von Ausflügen und der Familie. Sie schwärmen von dem nahen Erholungsgebiet Bolugoi. “Das müsst ihr unbedingt sehen. Die Landschaft ist einfach einmalig. Es ist der schönste Ort in Kasachstan”, sagen sie mit sehnsüchtigem Lächeln. Marat lässt einfließen das wir, wenn wir möchten, noch ein paar Tage bleiben dürfen. “Wir würden gerne noch etwas bleiben. Denis muss schreiben und ich brauche wegen den Anstrengungen der letzten Tage etwas Erholung”, sagt Tanja und fordert mich mit einem Blick auf ihre Erklärung zu ergänzen. “Aber ich benötige ein Hotelzimmer mit absoluter Ruhe. Ansonsten kann ich mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Sollten wir morgen nichts finden fahren wir weiter”, erkläre ich. “Ich finde etwas für euch. Vielleicht eine Wohnung? Die ist billiger als ein Hotelzimmer und meist besser”, schlägt Alinberg vor. Als er sich um 23:30 Uhr verabschiedet verspricht er uns eine Bleibe zu finden. “Ich melde mich morgen früh um 9:00 Uhr bei euch”, sagt er und geht.

Kaum hat Alinberg die Wohnung verlassen zeigt uns Marat ganz stolz seine Spielzeugautos und Pistolen die er aus Draht bastelt. “Für so einen Kranwagen benötige ich eine ganze Woche. War mit meiner Kunst schon in der Zeitung. Vielleicht schaffe ich es mal bis ins Guinness Buch der Rekorde. Weiß nur nicht wie ich mich dafür bewerben soll. Ha, ha, ha”, lacht er wiederholt und ich bemerke einen Hoffnungsschimmer in seinen Augen. Tanja kann sich vor Müdigkeit kaum noch aufrecht halten und geht ins Zimmer. Da Marat das Bett für uns auszog und deswegen den Kühlschrank halb vor die Tür zerren musste, geht die Tür nicht zu. Marat erzählt mir in der Zwischenzeit von seiner Arbeit als Polizist. “Ich musste sieben Tage in der Woche arbeiten. Hatte nie Freizeit. Erst jetzt als Ingenieur ist mein Wochenende frei. Ich hatte Ingenieurwesen studiert, dann bekam ich aber keine Arbeit und wurde Polizist. Heute bekomme ich eine Rente von 250,- ? und als Ingenieur verdiene ich noch mal 450,- ? im Monat. Damit kommen wir ganz gut zu recht. Ha, ha, ha”, erzählt und lacht er. Auch mir fallen nach dem langen Tag die Augen zu und ich möchte mich hinlegen. Ich bin gerade im Begriff aufzustehen als mich Marat fragt ob ich seine Münzsammlung ansehen möchte. “Gerne”, sage ich höflich, worauf ich die nächste halbe Stunde rätseln soll woher das eine oder andere Geldstück kommt. Danach sehen wir uns Fotoalben an. Viele Bilder der Familie, Bilder von Ausflügen und von den englischen Radfahrern die mal hier zu Gast waren. Dann schaffe ich den Absprung und begebe mich ins Zimmer. Minuten später steht Marat an der offenen Zimmertür und fragt mich ob ich den berühmten deutschen Marineoffizier kenne der irgendeine Flotte im zweiten Weltkrieg kommandierte. “Kenne ich nicht”, sage ich kurz vor dem Zusammenbruch. “Was? Den kennst du nicht? Diesen berühmten Deutschen? Warte, ich glaube ich habe ein Foto von ihm. Ich sehe mal nach”, äußert er sich und verschwindet wieder im Wohnzimmer. Sofort nutze ich die Gelegenheit, um mich zu Tanja ins Bett zu legen. Marat kommt nicht mehr und lässt mich schlafen, doch schon nach wenigen Minuten bemerke ich wie uns Moskitos den Körper zerstechen.

Bei ca. 32 Grad Zimmertemperatur erhebe ich mich und schleiche mich auf leisen Sohlen ins Wohnzimmer, um aus der Anhängerbox das Brettschneider Moskitonetz zu holen. Weil Marat im Wohnzimmer auf der Couch schläft hört er mich und fragt mich lachend was ich suche. “Ach nichts Besonderes”, antworte ich und verschwinde wieder in unserem Zimmer. Dann hänge ich unser Netz an der Wäscheleine auf die da glücklicherweise quer durchgezogen ist. Seufzend lasse ich mich dann auf die Matratze nieder und bin froh nicht mehr von den Blutsaugern angezapft zu werden. Als ich gerade im Begriff bin trotz Hitze in das Land der Träume zu fallen brüllt die kleine Dina laut auf. Gauhar beruhigt sie und singt ihren sich unaufhörlichen wiederholenden Kehrreim. “Dinuschka, Dinuschka, Dinuschka, Mama, Mama, Mama, Dinuschka, Dinuschka, Dinuschka.”

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