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Russland/Ordynskoje Link zum Tagebch: TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 3

Der betrogene Schäfer

N 54°22'25.6'' E 081°53'51.2''
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    Tag: 109

    Sonnenaufgang:
    06:51 Uhr

    Sonnenuntergang:
    20:09 Uhr

    Tageskilometer:
    10264,72 Km

    Temperatur – Tag (Maximum):
    25 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    10 °C

    Temperatur – Nacht:
    7 °C

    Breitengrad:
    54°22’25.6“

    Längengrad:
    081°53’51.2“

In dem kleinen, freundlichen, ehemaligen Kurhaus fühlen wir uns wohl. Weil Gäste uns vor der stinkenden, schmutzigen und teuren Großstadt Novosibirsk gewarnt haben, entscheiden wir unseren Aufenthalt hier länger zu gestalten als ursprünglich geplant. Wir nutzen wieder die Zeit, um zu schreiben, uns neu zu orientieren und Zeitpläne über die vor uns liegende Strecke zu schmieden. Im Restaurant der Bleibe werde ich von einem Mann auf Deutsch angesprochen. “Sie sprechen ja akzentfrei”, sage ich. “Klar, komme ja aus Deutschland. Ich arbeite hier nur für ein paar Wochen.” “Was arbeitet man hier wenn ich fragen darf?”, interessiert es mich. “Ich bin freier Trainer für Mähdrescher.” “Was?” “Ich schule die Mähdrescherfahrer wie sie in kürzerer Zeit mehr ernten können. Das heißt ich zeige ihnen wie sie ihre Maschine perfekt einstellen müssen damit sie am Ende des Tages qualitativen Weizen im Container haben. Viele der Mähdrescher sind falsch eingestellt, so dass die Arbeiter sehr lange benötigen, um den Weizen zu ernten. Noch dazu mähen sie auch Unkraut und sonstigen Mist. Wenn die Maschinen perfekt justiert sind, was weltweit nicht der Fall ist, und der Fahrer mit seinem Gerät perfekt umgehen kann, ist der Ertrag am Ende des Tages um ein Vielfaches höher. Das ist gut für den Fahrer da er am Abend nach Weizenmenge bezahlt wird und gut für den Inhaber der Weizenfelder weil die Gewinne sich auf diese Weise enorm erhöhen”, erklärt der vierzig Jahre alte sympathische Mann.

Im Laufe des Abends erfahre ich so einiges über Weizenanbau, verschiedene Ernte- und Anbausysteme und vieles mehr. “Wie wird man denn Mähdreschertrainer?”, frage ich. “Ach das ist eine lange Geschichte. Ich war früher Schäfer.” “Schäfer?” “Ja, Schäfer. Ich hatte mit 18 Jahren meine ersten drei eigenen Schafe obwohl meine Familie nie etwas mit Landwirtschaft oder Viehzucht zu tun hatte. Ich half als 16 jähriger Junge einmal einem Schäfer für ein paar Tage und ab diesem Zeitpunkt war ich von dem Gedanken regelrecht besessen selbst mal Schäfer zu werden. Wie gesagt, verwirklichte ich mir meinen Traum und besaß die ersten Tiere. Mein persönliches Ziel war es dann spätestens im Alter von 30 Jahren eine Herde mit 1.000 Schafen zu besitzen.” “Und, hast du es geschafft?” “Habe ich. Ich hatte sogar 1.400 Schafe. Ich besaß mittlerweile einen Hof in Mecklenburg-Vorpommern. Dort bin ich wegen den Schafen hingezogen. Leider hielt mein Glück nicht an. Eines Morgens beobachtete ich wie eine Gruppe Menschen meine Herde stahl. Ich rief sofort die Polizei, die auch gleich kam, aber zu unserer Verwunderung nichts unternahm.

Der Dieb behauptete die Tiere zu besitzen. Er hatte ein paar schräge Typen dabei. Es waren junge Schläger mit dicken Muskeln und breitem Kreuz. Als einer von ihnen meine Mutter mit einem Rohr erschlagen wollte bin ich eingeschritten.” “Und die Polizei hat nichts unternommen?” “Nein. Das ist ja das Unfassbare. Sie haben nur zugesehen. Wahrscheinlich waren die Polizisten der Situation nicht gewachsen und hatten Angst selbst eins auf die Mütze zu bekommen. Später stand im Polizeibericht nur: “Und sie haben sich mal wieder geschlagen.” So ein Schwachsinn. Als hätten wir uns ständig geschlagen.

Na ja. Mir blieb nichts anderes übrig als einen Anwalt zu nehmen und den Dieb zu verklagen. Es kam zur Verhandlung. Die Richterin sagte ich muss nachweisen der wirkliche Inhaber meiner Herde zu sein. Das konnte ich durch Zeugen und Freunde auch beweisen. Aber da meine Schafe nicht markiert waren, das war zu dieser zeit in Mecklenburg nicht üblich, reichten die Zeugen nicht aus. Selbst Fotos und Film wurden vor Gericht nicht anerkannt.” “Und was war mit dem Dieb? Konnte er beweisen das die Schafe seine waren?” “Muss er nicht. Er sagte die Herde schon immer zu besitzen. Obwohl bekannt war das der Mann nie eigene Schafe hatte. Die Rechtsprechung ist in diesem Bereich ein Alptraum. Auf diese Weise verlor ich am Ende 700 Jungtiere und ging Pleite. Ich verlor alles. Meinen Hof, meine Maschinen und musste am Ende einen Offenbarungseid ablegen. Die Sache hat mir fast das Herz gebrochen. Ich war nichts mehr wert und besaß nur noch Schulden. Selbst als wir Jahre später eine Waschmaschine bei einem Versandhaus bestellten bekam ich keine.” “Wie so das?” “Na die sehen nach ob du einen Schufaeintrag hast und wenn es so ist bekommst du nichts mehr. Selbst als ich sagte wir werden die Maschine bei Zustellung bar bezahlen, wollten sie nicht liefern. Daraufhin hat meine Mutter die Maschine bestellt und der Auftrag wurde sofort erledigt. Es waren sehr demütigende Jahre.

Später zogen wir von Mecklenburg Vorpommern weg. Ich arbeitete dann für viele Jahre als Lohnscherer für andere Schäfer. Ich arbeitete als Versicherungsverkäufer, half bei der Kartoffelernte, war Mähdrescherfahrer, LKW-Fahrer und zerstörte durch die jahrelange harte Arbeit meinen Rücken. Heute nach 10 Jahren und drei Bandscheibenvorfällen habe ich es geschafft. Wir sind Schuldenfrei. Durch meine bald lebenslange Erfahrung in der Landwirtschaft und dem Konkurrenzdruck beim Lohndreschen, kam ich auf die Idee mit dem Mähdreschertrainer. Das läuft irre gut. Ich bin heute ein gefragter Fachmann und in gesamt Europa unterwegs. Mittlerweile sogar hier in Sibirien. Dieser Job ist eine echte Marktlücke. Es gibt weltweit kaum jemanden wie mich”, erzählt er.

Ich höre Martin noch bis spät in die Nacht zu. Seine Geschichten sind in der Tat aufregend. Erst gegen 2:00 Uhr am Morgen verabschieden wir uns. Wieder einmal bin ich bestürzt wie Menschen ihren Mitbürger betrügen und wieder einmal bin ich fasziniert was reine Willenskraft ausmacht. Martin hat es mit eigener Kraft geschafft sich aus der Hölle zu befreien. Heute ist er glücklicher Familienvater von zwei Kindern und ein erfolgreicher Geschäftsmann mit einem ungeheuren Erfahrungswert.

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