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E-Bike-Expedition Teil 3 China - Online-Tagebuch 2015-2016

Chinesisches Neujahrsfest – Vertreiben der Dämonen

N 33°52’33.8’’ E 109°55’27.7’’
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    Datum:
    07.02.2016

    Tag: 223

    Land:
    China

    Provinz:
    Shaanxi

    Ort:
    Shangluo

    Breitengrad N:
    33°52’33.8’’

    Längengrad E:
    109°55’27.7’’

    Gesamtkilometer:
    11.835 km

    Maximale Höhe:
    542 m

    Gesamthöhenmeter:
    15.830 m

    Sonnenaufgang:
    07:33 Uhr

    Sonnenuntergang:
    18:14 Uhr

    Temperatur Tag max:
    6°C

    Temperatur Tag min:
    minus 10°C

(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)

LINK ZUR REISEROUTE

Am letzten Tag des chinesischen Jahres der Ziege sind die Vorbereitungen für das große Frühlingsfest oder chinesische Neujahrsfest im vollen Gange. Das Datum ist jedes Jahr anders, weil er nach dem traditionellen chinesischen Lunisolarkalnder, (Luna für Mond und Solar für Sonne) berechnet wird. Für die Chinesen gilt der Neujahrstag als der wichtigste Feiertag im Jahr. Er ist der Beginn einer endlos erscheinenden Feier, die erst am 15. Tag des neuen Jahres endet, und somit das riesige Land, zumindest für die ersten drei Tage, in einen Ausnahmezustand versetzt. Wir erfahren, dass aber nicht nur hier in China das Fest der Feste exzessiv zelebriert wird, sondern auch in Korea, Mongolei, Okinawa, Taiwan, Vietnam und weltweit in Regionen, in denen viele Auslandschinesen leben. Dazu gehören Singapur, Malaysia, Indonesien, die Philippinen und teile von Übersee.

Während die Chinesen damit beschäftigt sind noch einige Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zu tätigen, erleben wir den sogenannten Idealzustand. Denn, da wir mit diesem Fest nicht viel zu tun haben, dürfen wir das Treiben um uns herum als reine Beobachter genießen. Weil wir damit rechnen, dass auch, oder gerade wegen den Feiertagen, unser heiß ersehntes Paket nicht kommen wird, verlassen wir unsere Bleibe und besuchen das tolle Cafe, in dem es den leckeren Kuchen und Cappuccino gibt. Auf dem Weg dorthin haben schon die meisten Geschäfte geschlossen. Vor den Eingängen und neben den Fenstern der Häuser und Wohnungen hängen rote Lampions und rote Papierbänder, auf denen in schwarzer Schrift allerlei Segenswünsche für Glück, Freude und Wohlstand geschrieben stehen.

Schon seit Wochen sind die Menschen beschäftigt ihren Besitzt für das Fest herauszuputzen. Die Farbe Rot begleitet uns schon auf der gesamten Chinareise. In diesen Tagen spielt sie eine weitere besondere Rolle. Einer Legende zufolge hat ein Jahresdämon an jedem Neujahrstag eine Siedlung terrorisiert. Durch viel Lärm, roter Farbe und roten Lampions, haben die Dorfbewohner den Dämon, der offensichtlich auf Rot allergisch reagierte, vertrieben.

Obwohl erst früh am Vormittag, werden immer öfter Feuerwerkskörper gezündet. Es scheint so, als würden sich die Menschen schon mal warm feuern. Auch macht es den Eindruck, dass die Bevölkerung hier, wie bei uns zu Weihnachten, einem totalen Konsumwahn verfallen ist. Sie huschen hin und her, um in den wenig geöffneten Geschäften das zu kaufen was noch fehlt. Autos werden vollgestopft und Mopeds und Fahrräder derart beladen, dass unter dem Berg von oftmals roten Schachteln nur noch die Reifen zu erkennen sind. „Ein verrücktes Treiben“, sage ich schmunzelnd, froh darüber nicht ebenfalls wie ein gehetztes Huhn herumrennen zu müssen. „Ni hao! Ni hao!“, grüßen wir die Inhaber kleiner Läden, mit denen wir uns in den letzten zwei Wochen angefreundet haben. Uns kommt es so vor, als würden wir dazugehören, als wären wir ein Teil von dieser Gemeinde im nahen Umfeld unseres Hotels. „Happy New Year!“, begrüßen uns die Angestellten des Cafes freundlich rufend. „Happy New Year!“, antworten wir und geben zur Feier des Tages eine große Bestellung auf. Wie immer an diesem Ort unterhalten wir uns angeregt über unsere Reise, deren Sinn, Erfahrungen und der Herausforderung sie in Text, Bild und Film zu dokumentieren. „Ist schon eigenartig, dass wir in dieser Stadt schon wieder so lange aufgehalten werden und wir jeden Tag beschäftigt sind“, sinniere ich. „Ja, wir könnten unser Büro glatt in das Hotelzimmer verlegen“, antwortet Tanja. „Büro Katzer in Shangluo, Provinz Shaanxi. Klingt irgendwie interessant“, meine ich lachend. Klar, wir könnten uns tierisch über unser fehlendes Ersatzteil aufregen aber was bringt’s? Was nützt es uns wenn wir uns die Haare grau ärgern. Damit beschleunigen wir gar nichts. Ganz im Gegenteil würden wir uns dadurch die Lebenszeit hier in diesem Ort gründlich verderben. Also haben wir losgelassen. Das Paket kommt wann es kommt. Und wenn es nicht kommen sollte überlegen wir uns einen Plan B. „Für irgendetwas hat es sicherlich einen Grund“, wiederholt sich Tanja. Eine Philosophie mit der man sehr gut leben kann und die auf fast alles passt was nicht so läuft wie wir Menschen uns es vorstellen.

Es ist 15:00 Uhr als wir die Treppen in den neunten Stock unseres Hotels nach oben steigen. Wir sind von der Hotelbesitzerfamilie zum Festessen eingeladen. „Kommt herein“, begrüßt uns Yang Xiao, die 23-jährige Tochter der Familie. „Das ist für euch“, sagt Tanja und reicht ihr eine Tüte mit Apfelsinen, Orangen, Melonen, eine Packung mit Hasenbonbons, die für Glück stehen, und einen goldenen Plastikaffen, der nach der chinesischen Astrologie das angehende Jahr des Feuer-Affen symbolisiert. „Aber ihr braucht doch nichts mitbringen“, sagt Yang Xiao die von ihrer Lehrerin Claudia genannt wird und seit drei Jahren Deutsch studiert. „Ist ja nur eine Kleinigkeit. Wir sind sehr dankbar für Eure Einladung mit Deiner Familie dieses besondere Fest feiern zu dürfen“, antwortet Tanja.

„Das ist mein Papa Yang Shitian, meine Mama Ren Fangzhen, mein großer Bruder Yang Hailong, mein kleiner Bruder Yang Liang und meine Oma“, stellt sie ihre kleine Familie vor. Kaum hat sie die fremd klingenden Namen aufgezählt habe ich sie wieder vergessen. Während Mama und Papa für die letzten Vorbereitungen des Festmahls wieder in der Küche verschwinden, erscheinen jetzt auch die beiden Frauen der Brüder und die zweijährige Tochter des Ältesten. Mittlerweile geht es wie auf allen Familienfesten zu. Es wird gelacht, sich unterhalten, die Kleine schreit, weint, will haben, bekommt und lacht ebenfalls, während die 88-jährige Oma indes mehr oder weniger reglos auf dem Sofa sitzt und das Neujahrsprogramm auf einem riesigen Flachbettbildschirm verfolgt. „Vielen Dank für die Einladung“, sagt Tanja erneut. „Das haben wir sehr gerne gemacht. An diesem Festtag darf man doch nicht alleine sein“, antwortet Claudia. „Ich denke, dass viele Chinesen, die in anderen Landesteilen arbeiten, alleine sind. Oder kommen sie während der Feiertage ihre Familien besuchen?“, frage ich. „Oh ja. Zu dieser Zeit findet jedes Jahr die größte Migrationsbewegung der Welt statt. Insgesamt werden dieses Jahr knapp drei Milliarden Heimatreisen stattfinden. Das heißt, dass hunderte von Millionen meiner Landsleute unterwegs sind um ihre Familien zu besuchen und dabei ist es egal wie weit sie reisen müssen. Viele der Arbeiter nehmen wegen diesem Fest ihren gesamten Jahresurlaub und bleiben manchmal für Wochen zu Hause. Du musst wissen, dass Familie für uns Chinesen das aller Höchste ist. Es geht sogar soweit, dass bis zu zwei Drittel von ihnen sich danach andere Jobs suchen, was für die Arbeitgeber jedes Jahre eine große Herausforderung ist.“

Es vergeht nicht viel Zeit als Eltern und die erwachsenen Kinder aufspringen und 12 kalte Speisen auf dem Tisch stellen. In große Rotweinschwenker wird Sekt serviert. Der Papa und junger Bruder schenken mir chinesischen Schnaps ein. „Gambei!“, prosten sie mir zu. „Gambei!“, erhebe ich mein Glas, stoße mit ihnen an und kippe mir die klare Flüssigkeit hinter die Binde. Dann beginnen wir unsere Stäbchen über der großen Auswahl kreisen zu lassen. Da ich außer Huhn, und das nur selten, in China kein Fleisch esse, wähle ich von dem reichhaltigen vegetarischen Angebot. „Und was ist das?“, frage ich Claudia auf etwas beißend, was sich beim Kauen recht widerspenstig zeigt „Das sind geschnittene Schweineohren.“ „Schweineohren?“ „Ja.“ Tanja grinst mich von der Seite an. „Willst du auch mal von dem Schweineohrensalat?“, frage ich. „Nein danke“, lacht sie. Ich bin schon fast satt als Mama und Papa die heißen Speisen servieren. Es gibt Esel, Schwein, Rind, Fisch und auch Vegetarisches. Kaum sind alle mit dem Essen fertig, wird nahezu abrupt aufgestanden. Die Oma hat gerade noch Zeit ihre Hongbao (Geldgeschenke im roten Umschlag) zu verteilen. Ohne für mich ersichtlichen Dank werden die Geldgeschenke angenommen. Dann sind, bis auf Claudia, Oma und Mutter, alle verschwunden. Es dauert einige Minuten bis wir begriffen haben, dass keiner mehr zurück, um unserer Ahnen Weihrauch und Feuerwerk zu opfern. Mein älterer Bruder und seine Frau besuchen jetzt die Familie meiner Schwägerin“, erklärt Claudia ohne dass wir fragen mussten. „Äh, wir gehen dann mal uns ein wenig ausruhen“, sage ich daraufhin zu Claudia, um nichts falsch zu machen. „Meine Eltern haben euch morgen früh zum traditionellen Jiǎozi-Essen (gefüllte Teigtaschen) eingeladen. Habt ihr Lust?“, fragt sie indes. „Aber gerne“, antworten wir und freuen uns auf das nächste gemeinsame Treffen.

Am Abend wird es immer lauter. Auf den Straßen wird überall Papiergeld verbrannt. Soweit wir verstanden haben geht es um den eigenen Geldsegen fürs kommende Jahr und um die Ahnen, mächtigen Geister und Dämonen bei Laune zu halten. Es ist schon dämmrig als wir einen nahen Hügel besteigen. Während unten in der kleinen Stadt Shangluo immer mehr Raketen in den dunklen Himmel geschossen werden, sehen wir oben im Berg viele Feuer flackern. Nach 20 Minuten erreichen wir die ersten Gräber. Angehörige verbrennen vor den Grabsteinen Geld, zünden Kerzen an, und, wir können es kaum glauben, lassen Feuerwerkskörper hoch gehen. Es kracht und funkt derart ohrenbetäubend, dass sich der Tote im Grab umdrehen muss. Dabei geht es aber laut Claudias Erklärung darum die bösen Geister zu vertreiben. Nach einer alten Legend soll jedes Jahr ein Monster aus den Bergen kommen, um nach dem Tiefschlaf seinen Hunger mit Menschenfleisch zu stillen. Um sich vor dem gefräßigen Ungeheuer zu schützen veranstalten die Menschen Lärm, zünden Feuer an und färben alles rot. Auch hier hilft wieder die Farbe Rot, auf welche das furchtbare Wesen in Verbindung mit dem Feuer und dem Lärm schreckhaft reagiert. Somit wird diese böse Kreatur vertrieben, womit man auch das alte Jahr vertreibt und das neue Jahr begrüßt.

Obwohl es kein Erdbeben oder Vulkanausbruch ist, sondern ein von teils abergläubigen Menschen verursachtes Abfackeln unzähliger Knallkörper, deren Explosionen eher mit Handgranaten zu vergleichen sind, und dem Zünden ganzer Raketenbatterien, scheint die Erde um Mitternacht unterzugehen. Innerhalb weniger Minuten ist die gesamte Stadt in schweren Rauch gehüllt. In Städten wie Peking und Xia’an steigt die Smogbelastung für Stunden auf Rekordwerte des gesundheitsgefährdenden PM 2,5 Feinstaub von knapp 600 Mikrogramm pro Kubikmeter. Ich blicke staunend aus dem Fenster und frage mich, ob die einstigen Dämonen und Geister im Lauf der Jahre schwerhörig und in Form von tödlicher Luft wieder zurück gekommen sind. Ob sie heute vielleicht realer sind als sie jemals in der Vorstellung der Menschen waren? …

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