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Mongolei/Mörön Camp MONGOLEI EXPEDITION - Die Online-Tagebücher Jahr 2011

Bilgee ist im Delirium

N 49°38'671'' E 100°11'496''
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    Tag: 87

    Sonnenaufgang:
    07:46

    Sonnenuntergang:
    18:22

    Gesamtkilometer:
    777

    Bodenbeschaffenheit:
    Staub/Schotter

    Temperatur – Tag (Maximum):
    0°C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    minus 2°C

    Temperatur – Nacht:
    minus 5°

    Breitengrad:
    49°38’671“

    Längengrad:
    100°11’496“

    Maximale Höhe:
    1220 m über dem Meer

Am Morgen ist die Landschaft mit einer dünnen Schneedecke überzogen. Der Anblick lässt uns erschaudern. „Eigenartige Ironie. Jetzt hatten wir drei Wochen schönes Wetter. Es war relativ angenehm und die Strahlen der Sonne verwöhnten uns mit ihrem warmen Licht. Und jetzt? Einen Tag vor der endgültigen Weiterreise, schüttelt Frau Holle ihre Betten aus“, sage ich etwas fröstelnd wieder in die Jurte tretend. „Hoffe wir haben uns nicht zu lange auf die kommende Reise vorbereitet und damit den richtigen Absprung verpasst“, entgegnet Tanja. „Ach was. Wir mussten doch alles gut vorbereiten. Wir gönnten uns keinen einzigen Tag der Ruhe und Muße. Haben immer nur gearbeitet. Die Zeit war einfach nötig. Da dürfen wir uns keine Vorwürfe machen. Der Erfolg einer Expedition liegt meist in der Vorbereitung. Das was und am meisten aufgehalten hat sind die Menschen um uns herum. Ihre Genehmigungen, Vorschriften, Papiere, Gespräche und… nicht zu vergessen, ihre abrupten Meinungsänderungen. Das ist es was so eine Reise oftmals zu einer echten Herausforderung werden lässt“, sage ich auf Bilgee deutend, der um 10:00 Uhr morgens noch immer wie ein Toter unter seinem Deel liegt und schnarcht. „Ich erkenne ihn einfach nicht wieder. Er hat doch unaufgefordert Feuer gemacht, Holz gehackt, Wasser geholt. Immer wenn es was zu tun gab hat er geholfen. Aus eigenen Stücken und jetzt, seit unserem Gespräch der leidigen Pferdeüberwinterung, hat er sich so drastisch geändert“, sagt Tanja. „Das Jojospiel der Emotionen und Unsicherheiten geht weiter. Morgen wollen wir nun endlich aufbrechen und nun spielt er verrückt“, antworte ich.

Kurze Zeit später schlägt unser Mann die Augen auf, gähnt ein paar Mal laut und hebt seine Beine über das verrostet Bettgestell. „Oglooniimend“ („Guten Morgen“) empfangen wir ihn in den neuen Tag. Bilgee antwortet etwas Unverständliches und isst etwas von seinem Frühstück welches ihn Tanja zurechtgemacht hat. Er lässt die Hälfte davon in seinem Pott, trinkt nur ein paar Schlucke Tee und wälzt sich zu unserer Verblüffung wieder in das quietschende Bettgestellt. „Ist ja nicht zu fassen“, meine ich leise und spüre wie sich Ärger in mir breit macht. Tanja blickt regelrecht verdutz auf den uns abgewandten Körper. „Vielleicht ist er krank?“, versuche ich sein Verhalten zu entschuldigen. „Meinst du?“, nimmt Tanja meine Äußerung ernst. „Na wer weiß? Saraas Bruder hatte gestern 42° Fieber. Er hat eine schwere Angina. Saraa sprach von Rheumaanfällen und gab ihm eine Spritze. Vielleicht geht da was rum und Bilgee hat sich den Virus aufgeschnappt? Ich meine, er war da draußen ohne Zelt und Schlafsack. Wahrscheinlich lag er die ganze Nacht auf dem Boden. Mit seinen 51 Jahren ist er auch kein Jungspund mehr. Möglicherweise hat er sich verkühlt und brütet eine Grippe aus?“, atme ich stöhnend und reibe mir mit den flachen Innenseiten der Hände übers Gesicht.

Nur Minuten nach dem Gespräch treffe ich Saraa auf dem Hof. Sie schleicht dahin als wäre sie über Nacht plötzlich stark gealtert. „Oglooniimend“ („Guten Morgen“) begrüße ich sie und frage nach ihrem Befinden. „Bis auf das ich meine 2,2 Millionen wiederbekommen habe geht es gar nicht gut. Ich leide unter Bauchschmerzen und einer Blasenentzündung“, antwortet sie im vorbeigehen. Na Gott sei Dank habt ihr euer Geld wieder. Das ist eine sehr erfreuliche Nachricht. Hast du ein Antibiotikum um die Entzündung zu kurieren?“, frage ich besorgt. „Ich versuche es erstmal mit einem Tee“, erwidert sie kraftlos. „Na dann gute Besserung“, wünsche ich ihr und frage mich im gleichen Atemzug wie wir nun mit Bilgee unseren morgigen Aufbruch kommunizieren und vor allem ob er überhaupt noch mit im Boot sitzt?

Vorsichtig weckt Tanja Bilgee und fragt ihm nach seinem Befinden. Er spricht völlig unverständliches Zeugs daher. Dann kreuzt er seine Arme abwehrend vor dem Oberkörper, woraus ich schließe, dass es das gewesen ist. „Er wird nicht mit uns nach Tsagaan Nuur gehen“, sage ich. „Bi öwtschtej bajna“, („Ich bin krank?“) stammelt er wie ein Häufchen Elend auf seinem Bettgestell sitzt. Tanja legt ihre flache Hand auf seine Stirn und fühlt. „Nein nicht krank“, verstehen wir ihn. „Brauchst du einen Doktor?“, fragt sie weiter. „Ügüj“, („Nein“) bringt er krächzend hervor. „Hast du Schmerzen?“, lässt Tanja nicht locker. „ Tijm, Ügüüüj!“, („Ja, Neiiin“) krächzt er bald verzweifelt. Dann holt Tanja ein Fieberthermometer und möchte es Bilgee unter den Arm klemmen. Er lehnt hilflos, um sich her fuchtelnd ab. Auch wenn wir kaum Mongolisch sprechen verstehen wir dass er Sinnloses dahin lallt. Er formt seine rechte Faust, legt den Mittelfinger unter seinen Daumen. Dann lässt er den Mittelfinger gegen seine Kehle schnippen. „Wodka, Wooodkaaa, sorry, sorry“, verstehen wir. „Man… er ist betrunken!“, sage ich. „Er ist sternhagelblau“, lacht Tanja sichtlich erleichtert.

Gegen Mittag machen wir uns Gedanken wegen den Pferden. Sie benötigen dringend etwas zu Fressen. „Ob wir Tulgaa fragen sollen? Vielleicht hat er Zeit und Lust sie auf die Weide zu führen“, überlegt Tanja. „Denke das ist eine gute Idee. Nur…wie sollen wir ihn erreichen? Saraa liegt ebenfalls im Bett und ist nicht ansprechbar“, überlege ich. Am späten Nachmittag gehe ich zum wiederholten Male ins Blockhaus um nach Saraas Befinden zu sehen. Gonchig hat Dienst und ist den ganzen Tag nicht Zuhause. Ihr Baby Erkhenbayar ist bei ihrer Schwester untergebracht. Wegen einer Feier gestern Abend sieht es im Haus schlimm aus. Als ich in die Küche komme werfe ich einen Blick auf das im kleinen Nebenraum stehende Bett. Saraa ist gerade im Begriff aufzustehen. „Wie geht es dir?“, frage ich. „Geht schon“, antwortet sie müde lächelnd. „Darf ich dich etwas fragen?“ „Ja, frag nur.“ „Kannst du den jungen Guide anrufen und ihn bitten ob er heute Abend die Pferde zur Weide bringt? Bilgee hat sich furchtbar betrunken und ist nicht in der Lage dazu. Keine Ahnung wann er wieder aus seinem Halbkoma aufwacht“, erkläre ich. „Guide?“ „Na ich meine Tulgaa. Er wäre doch bereit uns bis nach Tsagaan Nuur zu begleiten. Vielleicht kann er schon heute einspringen und uns helfen. Wir zahlen ihm auch einen Tageslohn dafür“, ergänze ich.

Es dauert nicht lange und Tulgaa kommt in seinen Sommerdeel gehüllt in Saraas Hof. Ohne viel Gesichtmimik und Kommunikation macht er mit Tanja die Pferde fertig um sie zumindest ein paar Stunden in die nahen Berge zum Fressen zu führen. Er ist gerade weg als Bilgee aufwacht und mit verknittertem Gesicht die Jurte verlässt. Verdutzt blick er auf den leeren Zaun. „Wo sind die Pferde?“, fragt er. „Tulgaa hat sie zur Weide geführt. Kein Problem. Geh wieder rein und ruh dich noch ein wenig aus“, beruhige ich ihn worauf erstmal einen Berg Holz hakt, mich kurz anlächelt, wieder in der Jurte verschwindet um sich in das Bettgestell zu legen. „Man tut mir sein Lächeln gut“, raune ich.

Den Abend nutzen wir um weiter unsere Ausrüstung zu packen. Wir müssen uns schwer einschränken. Nur das Allerwichtigste kann mit. Trotzdem müssen wir uns auf kommende, eventuell extreme Kälte vorbereiten. Wir dürfen also keinen Fehler machen. Bilgee bekommt von unserer Aktion kaum etwas mit. Ab und an stöhnt er leise auf. „Wie viel muss man trinken um sich so derart abzuschießen?“, frage ich. „Eine Menge. Aber weißt du was mich wundert?“, fragt Tanja. „Nö, was denn?“ „Na wann hat er sich so vollaufen lassen? Gestern Abend sprach er zwar nicht viel mit uns aber er hat immerhin gesprochen.“ „Stimmt. Und vor allem hat er kein bisschen gewankt“ „Oder sonst irgendwelche Zeichen eines Betrunkenen an den Tag gelegt“, überlege Tanja. „Nun, soweit ich weiß hat Wodka auch einen Nachbrenneffekt. Könnte sein, dass er gestern, als er mit den Pferden draußen war, eine Flasche von dem Zeug gekippt hat, zurück geritten ist, die Pferde festband und sich hingelegt hat noch bevor der Alkohol sich richtig in seinem Körper ausbreiten konnte“, vermute ich. „Ja wahrscheinlich. Er hat ja auch kaum etwas gegessen und seinen Tee stehen lassen“, erinnert sich Tanja. „Ob er morgen reiten kann?“, überlege ich. „Die Frage ist ob er morgen mitgeht?“ „Könnte schon sein. Warum sollte er hier abbrechen. Jetzt wo wir den Rücktransport der Pferde Tulgaa übergeben haben“, sinniere ich. „Wovon er bis jetzt aber noch nichts weiß“, entgegnet Tanja. „Na das sagen wir ihm morgen Früh wenn er wieder sauber ist. Wenn er sich dann entscheidet nach Hause zu gehen springt Tulgaa ein.“ „Ich würde aber viel lieber mit Bilgee gehen. Wir sind ein Superteam. Außerdem verstehen wir uns doch nicht schlecht“, meint Tanja. „Da gebe ich dir Recht. Die Sprache die wir zusammen entwickelt haben ist verblüffend gut. Mit Zeichen, Gestik, dem Sprachführer, etwas Englisch und unserem kümmerlichen Mongolisch kommen wir in der Tat gut zurecht. Na mal sehen was morgen ist? Vielleicht habe ich mir nur eingebildet, dass er nicht mehr weiter möchte. Aber mal was anderes. Der Tierarzt sollte doch heute kommen um Naraa zu untersuchen. Gekommen ist er allerdings nicht“, wechsle ich das Thema zu einer weiteren Brisanz. „Ja, unzuverlässiger Mann.“ „Und? Was wollen wir jetzt mit Naraa tun? Wenn sie wirklich trächtig ist wie Tulgaa gesagt hat dann dürften wir sie nicht mit auf den Trip nehmen?“ „Ja ich weiß auch nicht. Was meinst du? Was ist dein Gefühl dazu?“, fragt Tanja. „Wenn ich das wüsste. Ich könnte mir aber vorstellen, dass sich Tulgaa getäuscht hat. Bilgee hätte uns doch ebenfalls gewarnt. Und der kennt sich mit Pferden aus wie kein Zweiter. Ich denke Naraa schafft es so oder so. Abgesehen davon fragen wir gleich morgen Früh Bilgee. Wenn er auch davon ausgeht, dass sie trächtig ist und ihr Ungeborenes gefährdet sein sollte müssen wir uns erneut etwas überlegen. In diesem Fall sollten wir die Abreise noch mal verschieben“, schließe ich gähnend. „Na dann gute Nacht. Und…schlaf gut.“ „Schlaf du auch gut.“

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