Bei eisiger Kälte geben sich Licht und Schatten die Hand
N 69°27’24.4’’ E 017°20’50.7’’Datum:
21.10.2020 bis 25.10.2020
Tag: 080 – 084
Land:
Norwegen
Ort:
Senja Steinfjord
Gesamtkilometer:
7456 km
Bodenbeschaffenheit:
Unbefestigte Straße
Sonnenaufgang:
08:21 Uhr bis 08:39 Uhr
Sonnenuntergang:
16:48 Uhr bis 16:30 Uhr
Temperatur Tag max:
4°
Temperatur Nacht min:
-5°
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
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Wir genießen die absolute Ruhe und Einsamkeit am abgelegenen Steinfjord. Jeden Tag geht die Sonne später auf und früher unter. Seit unserer Ankunft vor acht Tagen haben wir 74 Minuten Tageslicht verloren. Das heißt, die Polarnacht rückt um ca. 9 Minuten pro Tag immer näher. In vier Wochen wird hier die Sonnen gar nicht mehr aufgehen. Wir sitzen beim Frühstücken am großen Panoramafenster unserer Terra Love. Es ist 8:39 Uhr und noch völlig dunkel. Da die Sonne über die hohe Gebirgsflanke, die die Bucht im Osten abschirmt, klettern muss, wird es erst um 9:30 Uhr richtig hell. „Wollen wir heute einen Ausflug mit den Bikes unternehmen?“, frage ich Tanja. „Was sagt das Thermometer?“ „Minus fünf Grad.“ „Bei dem Wind wird das recht frostig“, überlegt Tanja. „Wahrscheinlich, aber wenn wir nicht bald mal zu einer Erkundungstour aufbrechen, wird es dieses Jahr nichts mehr. Der Wetterbericht hat Sturm angekündigt und es wird jeden Tag zusehends dunkler und kälter“, argumentiere ich. „Du hast recht, wenn nicht jetzt, wann dann. Wann möchtest du abfahren?“ „Wenn die Sonne über die Ostflanke gestiegen ist, radeln wir zur Westküste der Bucht. Dort scheint sie zwischen 10:00 Uhr und 11:00 Uhr. Das kurze Zeitfenster sollten wir erwischen, um ein paar tolle Bilder zu schießen“, schlage ich vor. „Gesetztenfalls der Himmel bleibt wolkenfrei“, wirft Tanja ein. „Richtig. Laut Wettervorhersage könnten wir heute noch Glück haben. Ab morgen wird es definitiv sehr ungemütlich“, sage ich im Smartphone die Wetterapp studierend.
Eilige schlüpfen wir in zwei lange Unterhosen und eine Radlerhose. Wir ziehen unsere dicksten Socken an, wodurch wir kaum noch in unsere Schuhe passen. Dann streifen wir uns ein kurzes Unterhemd, ein langes Wollhemd, ein Wollhoodie, einen dicken Wollpullover, eine dünne Daunenjacke und eine kurzärmliche Daunenweste über. Eine dünne Wollmütze unterm Fahrradhelm soll die Ohren- und Handschuhe die Finger schützen. Um 10:00 Uhr sitzen wir auf unseren Bikes und radeln auf einer Schotterpiste an der Westküste unserer Bucht in Richtung Norden. Eiskalter Wind fällt von den Bergflanken ins Tal und wirbelt den Staub der Piste auf. Der Sonnenball erhebt sich in diesem Augenblick über den Rand des Gebirgszuges und feuert seine gleißenden Strahlen in die übers Meer ziehenden Staubwolken. Wie von Zauberhand berührt färben sie sich orange und bilden einen wunderbaren Kontrast zu den mit frischem Schnee verzuckerten Bergen. Wir ziehen die Bremsen unserer E-Bikes, halten an und fotografieren das Naturschauspiel. Dann setzen wir unsere frostige Fahrt fort. „Mir schmerzen die Füße vor Kälte und ich spüre bereits meine Daumen nicht mehr!“, ruft Tanja. „Was? Jetzt schon? Wir sind doch erst seit 20 Minuten unterwegs.“ „Ich friere schon seit unserem Start.“ „Wenn wir ein wenig radeln, wird es dir schon warm“, antworte ich zuversichtlich. „Dein Wort in Gottes Ohr. Ich habe keine Lust, mir wieder die Zehen zu erfrieren“, sagt Tanja, da sie sich bereits auf unserem letzten Pferdetrip in der Mongolei bei minus 35 Grad an allen Zehen Erfrierungen ersten Grades zugezogen hatte. Seither ist sie an Füßen und Händen besonders kälteempfindlich. Weil wir nicht wirklich damit rechneten, auf dieser Tour in den Winter zu geraten, sind wir nicht dementsprechend ausgerüstet. Wir haben zwar alles angezogen, was wir besitzen, aber für einen Biketrip bei Minusgraden und Wind reicht es nicht aus. Die größten Schwachstellen sind die leichten Schuhe und die viel zu dünnen Handschuhe. Trotzdem wollen wir nicht gleich zu Beginn unsere Tour abbrechen und radeln weiter.
Auf ihren Weg nach Westen verschwindet die Sonne immer wieder hinter hohen, zackigen Bergflanken, weshalb sie ihre Strahlen schnell zurückzieht. Wenn wir bei herrlichem Sonnenlicht kurz anhalten, um ein Bild zu schießen, liegt der Ort nur wenige Minuten später im Schatten. Wir springen in den Sattel, treten in die Pedale, um den Strahlen zu folgen. Eine irrwitzige Verfolgungsjagd, die wir in absehbarer Zeit verlieren werden, da sich der glühende Ball schon wieder der Horizontlinie nähert. Zu unserer Rechten, auf der anderen Seite des Fjords, eröffnet sich der Blick auf das imposante Gebirgsmassiv Oksen. Seine spitz zulaufenden grauen Gipfel verlieren sich im stahlblauen Himmel. Auf unserer Seite der Bucht, unweit vor uns, tauchen zwei rot angestrichene Hütten und eine halb zerfallene Scheune auf, die sich in von Frost gezeichnetes, kniehohes gelbes Gras schmiegen. In einer der Hütten wohnt eine ältere Dame, deren Mann vor wenigen Monaten verstorben ist. Tanja hat sie schon ein paarmal auf ihren Gassirunden mit Ajaci getroffen und erfahren, dass das Ehepaar jahrzehntelang zur See gefahren ist. Sie als Köchin und ihr Mann als Maschinist. Hier in der absoluten Abgeschiedenheit haben sie sich vor ein paar Jahren niedergelassen, um ihren Lebensabend gemeinsam in Ruhe zu verbringen. „Leider wurde mir mein Mann viel zu früh genommen, weshalb ich jetzt Mutter Seelen alleine dort drüben an der Westseite des Fjordes lebe“, sagte sie auf den Ort deutend, an dem wir gerade vorbeiradeln. Ich denke darüber nach, wie es Tanja und mir ergehen wird, wenn wir alt sind und bete innigst, dass wir lange in Gesundheit, Glück und Freude leben dürfen.
„Schau mal, da ist ein Schiffwrack!“, rufe ich. Während Tanja auf dem Track bleibt, klettere ich zu der einstigen Unglücksstelle hinunter und erkunde mit Ajaci das im letzten Sonnenlicht rot erglühende, stählerne Schiffskelett. Ich schieße ein paar Bilder. „Ob es in einen der berüchtigten Stürme des Nordmeers geraten und gesunken ist? Ober vielleicht wurde der Rumpf von einen der vielen Felsen aufgerissen? Hat die Besatzung überlebt oder sind sie in den kalten Fluten ertrunken?“, kreiselt es durch meinen Kopf. Die groben Felsen, auf dem das verrostete Wrack liegt, sind mit glitschigen Algen überwachsen, weswegen ich mich mit großer Vorsicht bewege. Ajaci springt indes von Klippe zu Klippe, bis es ihm auf einmal alle vier Füße wegreißt und er laut aufheulend auf die Seite fällt. „Pass doch auf!“, warne ich, eile so schnell es der tückische Untergrund zulässt zu ihm und taste seinen Körper nach Verletzungen ab. „Alles gut?“, frage ich leise. „Wouiii“, antwortet er aufheulend und springt schwanzwedelnd auf, als wäre nichts geschehen. Um Tanja nicht zu lange warten zu lassen, krabbele ich wieder zur Piste hoch. Während wir unsere Tour fortsetzen, gewinnt der Schatten auf unserer Seite der Bucht die Oberhand. Auf der anderen Seite der Meerenge erstrahlen nun die spitz gezackten, schroffen Bergnadeln des Gebirgsmassiv Oksen in rotgelben Licht. Licht und Schatten schütteln sich an diesem Tag unaufhörlich die Hände. „Dort drüben wäre ich jetzt gerne“, meint Tanja bibbernd vor Kälte. „Sollen wir umkehren?“, frage ich etwas besorgt. „Ja, ich kann kaum noch den Lenker halten. Meine Hände fühlen sich taub an und die Schmerzen in den Füßen werden unerträglich.“ „Okay dann nichts wie zurück zur Terra“, sage ich. Durch den Wind fühlt es sich mittlerweile an, als hätten wir minus zehn Grad. Auch meine Hände beginnen langsam taub zu werden. Wir beeilen uns, schalten in den Turbomodus und lassen die Tretkurbeln kreisen. So sausen wir mit ca. 30 km/h über den groben Untergrund. Der Fahrtwind lässt uns noch mehr erschaudern. „Stooop!“, ruft Tanja. Ich ziehe die Bremse. Tanja steigt vom Bike, kreiselt die Arme und versucht ihre Hände warm zu bekommen. „Es sind nur noch ein paar Kilometer. Lass uns schnell zu unserem Strand radeln“, meine ich, damit wir nicht noch in die Dunkelheit geraten. 20 Minuten später sind wir wieder in unserem mobilen Heim und wärmen uns bei einer heißen Tasse Tee auf. Dann gehe ich noch mal in die Kälte. Wegen dem stärker werdenden Wind lege ich unsere Räder auf den Boden. So vermeide ich, dass sie von einer Böe umgeweht werden. Dann springe ich in unsere beheizte Burg. Tanja hat sich bereits ins Bett gekuschelt, während ich eine der dänischen Bierdosen aufmache, aus dem Fenster blicke und die rasend schnell heraufziehende Dunkelheit beobachte…