Auf 3.300 Meter Höhe, Schotterpiste, Panne und schweres Gewitter
N 27°53’30.2’’ E 102°14’14.0’’Datum:
03.05.2016 bis 04.05.2016
Tag: 311 – 312
Land:
China
Provinz:
Sichuan
Ort:
Liangshan
Breitengrad N:
27°53’30.2’’
Längengrad E:
102°14’14.0’’
Tageskilometer:
95 km
Gesamtkilometer:
16.524 km
Luftlinie:
61.5 km
Durchschnitts Geschwindigkeit:
15.3 km/h
Maximale Geschwindigkeit:
55.6 km/h
Fahrzeit:
6.09 Std.
Bodenbeschaffenheit:
Schotter
Maximale Höhe:
3.300 m
Gesamthöhenmeter:
32.288 m
Höhenmeter für den Tag:
1.474 m
Sonnenaufgang:
06:30 Uhr – 06:29 Uhr
Sonnenuntergang:
19:45 Uhr – 19:46 Uhr
Temperatur Tag max:
30°C
Temperatur Tag min:
10°C
Aufbruch:
07:00 Uhr
Ankunftszeit:
19:00 Uhr
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
Schon nach wenigen Kilometern beginnt die angekündigte Baustelle. Die Straße verwandelt sich schlagartig in eine löchrige Schotter- und Lehmpiste. Arbeiter hängen in den gesprengten Steilhängen und lockern mit Pickel und Schaufel nicht festsitzende Gesteinsbrocken. Mit tiefem Gepolter kullern sie herunter und schlagen unweit vor uns auf die Fahrbahn. Ein an der Piste stehender Mann streckt die Hand nach vorne. Aus Sicherheitsgründen wird der Verkehr angehalten. Stahlgerüste kleben an einigen Felswänden und erstrecken sich bis zu ihren oberen Enden. Betonmischer rattern, werden von zahlreichen Schaufeln unaufhörlich gefüttert. Um die Passstraße vor weiteren Steinschlag und Gerölllawinen zu sichern, blasen Straßenarbeiter mit flexiblen zwanzig Zentimeter dicken Schläuchen, flüssigen Zement an die Felswände. Andere Steilwände werden mit Stahlnetzen überspannt. Wir stehen mit unseren kleinen Rädern neben hundert Meter hohen, vom Menschen bearbeiteten Berghängen. Staunend beobachten wir was die Chinesen hier leisten, um eine lebensgefährliche Bergstraße zu einer sicheren Verkehrsader auszubauen.
Der Mann gibt winkend den Verkehr frei. Wir treten in die Pedale. Vor und hinter uns dröhnen die Motoren von schwer beladenen Lastwägen. Weil nur eine Spur befahrbar ist, fühlen wir uns zwischen ihnen eingequetscht. Sie hängen uns regelrecht am Schutzblech, können uns wegen der schmalen Fahrbahn nicht überholen und wir besitzen keine Möglichkeit auszuweichen. Mit einer fetten Erkältung hechelt Tanja hinter mir her. Für sie sind die Bedingungen heute besonders hart. Unsere Bikes rumpeln über den furchtbaren, zerstörerischen Untergrund. Im Stillen bete ich, dass nichts in die Brüche geht. Bagger fressen sich neben uns in das braune Gestein, Lastwägen werden damit befüllt. Im Abstand von nur einem Meter hasten wir an den stählernen Kolossen vorbei, immer den Berg hoch. Plötzlich geht nichts mehr. Der Verkehr im Hochgebirge steht in beiden Richtungen still. Ein Pkw hat einen Platten und blockiert eine Spur. Das Chaos ist perfekt. Eine kilometerlange Autoschlange hat sich bergaufwärts gebildet. Alle drängen in unsere Richtung, während ein ganzer Konvoi von Baumaschinen, Lastwägen und Pkws sich weiterhin nach oben arbeitet, bis Stoßstange an Stoßstange steht. „Na bin mal gespannt wie sie dieses Knäuel entwirren wollen“, wundere ich mich. Wieder stehen wir kleinen Menschlein mit unseren Fahrradroadtrains zwischen den Brummis, deren Fahrer sich mittlerweile lachend auf der Piste unterhalten. Ein Bauingenieur stapft die löchrige Fahrbahn hoch und ruft Befehle in sein Walkie Talkie. Aus der Ferne sehen wir wie sich Teile der Autoschlange rückwärts bewegen. Eine Lücke wird geschaffen in die der Jeep mit seinem kaputten Reifen rollt. Und tatsächlich gerät die Blechlawine nach 30 Minuten wieder in Bewegung. Erst fließt sie für ca. 20 Minuten bergab und dann, als uns nichts mehr entgegen kommt, röhren die Motoren hinter uns. Weil wir uns zwischenzeitlich bis zum Anfang der Auto- und Lastwagenschlange vorgearbeitet haben, bilden wir ihren Kopf. Das schützt uns vor den enormen Staubwolken, die uns teils völlig die Sicht nehmen. Im Turbomodus hecheln wir voran. Aus Angst vor den kreischenden Baulastern trete ich so kräftig in die Pedale, dass ich Tanja weit hinter mir lasse. Ich merke es erst als ich mich nach einigen Minuten umdrehe. Ein Lastwagenfahrer hängt an ihren Fersen. Zu dicht für ihren Geschmack. Als eine kleine Lücke am Fahrbahnrand auftaucht lässt Tanja ihn vorbei. Er hat das taktische Spiel um die Führung gewonnen und düst den Pass hinauf. Tanjas Gutmüdigkeit wird nicht honoriert. Keiner der folgenden Fahrzeuge lässt einen Radfahrer wieder einfädeln. Die Blechschlange staubt uns jetzt gnadenlos ein und wälzt sich bis zum letzten Fahrzeug an uns vorbei. Das Problem liegt darin, dass der Verkehr immer nur für eine Richtung freigegeben wird. Ist der bergauf fahrende Konvoi durch, gibt auf der anderen Seite ein Bauarbeiter den Gegenverkehr frei. Da man uns in diesem Wahnsinn kaum registriert, müssen wir uns am Ende der Schlange bemühen nicht den Anschluss zu verlieren. Ansonsten werden wir von den Talfahrern von der Piste gedrückt. Ich entwickle nun eine Taktik in der Mitte der Schotterpiste zu radeln, um jeden der uns überholen will daran zu hindern. Letztendlich sind die uns folgenden Autos auch nicht langsamer, weil sich der Konvoi am nächsten Straßenblock sowieso erneut staut.
Obwohl wir heute schon auf einer Höhe von über 2.000 Meter gestartet sind, führt die Piste noch immer nach oben. Auf 3.000 Meter schieße ich ein paar Fotos von meinem Lenker, um die Höhenmeter auf dem GPS festzuhalten. „Hinter der Biegung dort vorne geht es bestimmt wieder bergab“, sage ich zu Tanja, die niesend und schnäuzend am Pistenrand steht und wegen der staubigen Luft Schwierigkeiten hat genügend Sauerstoff in ihre Lungen zu bekommen. „Puh ist das heute anstrengend. Lass uns doch ein wenig ausruhen“, schnauft sie, worauf wir uns auf einer freien Fläche auf einen Fels niederlassen. „Hast dir ja einen schlimmen Schnupfen eingefangen“, sage ich. „Kein Wunder, in Zhaojue hatten viele Menschen eine Erkältung.“ „Stimmt, bin froh diesmal davor verschont worden zu sein. Sag einfach wenn es wieder geht. Dann fahren wir weiter. Noch liegen 55 Kilometer vor uns“, meine ich, beiße in einen Apfel und lasse meine Augen die Berge hoch gleiten. Auf einmal entdecke ich ein Blitzen. Ist das dort oben eine Straße?“, frage ich als es erneut aufblitzt. „Oh nein, da müssen wir rauf?“, höre ich Tanja. „Das Blitzen ist eindeutig eine Reflektion der Sonnenstrahlen wenn sie auf etwas Glänzendes treffen. Bin mir sicher es sind Autos, was bedeutet, dass diese üble Piste noch weiter gen Himmel führt“, antworte ich.
Trotz der Höhe ist es heiß. Wir schwitzen wie Rennpferde beim Zieldurchlauf. Anscheinend sind die angenehmen Radtemperaturen vorbei. Neben der Gebirgsstraße haben Imker ihre Bienenhäuser errichtet. Tausende von kleinen schwarzen Flecken surren durch die Luft. „Mach den Mund zu, ansonsten fliegt dir noch eine rein!“, warnt Tanja.
Auf 3.300 Meter Höhe tausche ich Tanjas Bremsbeläge. Bei dem extremen Auf und Ab lutschen sich die Bremsscheiben schnell ab. Regelmäßige Kontrolle garantiert ein längeres Leben. Sechs Stunden holpern wir heute schon übers Geröll. Eine ungeheure Belastungsgrenze für unsere Räder und Anhänger. Dann geht es endlich bergabwärts. Wegen dem Schotter, Lehm und endlosen Schlaglöchern fahre ich langsam an Tanja vorbei. „Die Anhängerdeichsel sieht komisch aus!“, höre ich ihren Warnruf. „Was? Bitte nicht schon wieder“, sage ich, ziehe die Bremsen, stelle das Rad auf den Ständer und untersuche die Schwerlastdeichsel. Sie ist zum Glück okay aber ich muss mit Schrecken feststellen, dass die Deichselhalterung von Ajacis Wohnwagen wieder gebrochen ist. „Gut dass dir das aufgefallen ist“, sage ich nachdenklich. „Haben wir noch eine Halterung als Ersatz dabei?“, fragt Tanja „Ja, wir hatten uns davon zwei Stück schicken lassen“, antworte ich und mache mich sofort an die Reparatur. Während ich in Tanjas Anhänger unser Ersatzteillager durchforste, um die Halterung zu suchen, ziehen schwere Gewitterwolken über die Bergsspitze. „Sieht nicht gut aus“, meint Tanja. „Gar nicht gut.“ „Ob es Regen geben wird?“ „Sicher“, sage ich als der erste Blitz durch die Wolkenwand zuckt. „Kein guter Ort für eine Reparatur“, meint Tanja auf den hohen Starkstrommasten deutend unter dem wir stehen. „Vielleicht zieht das Gewitter nicht direkt über uns hinweg“, hoffe ich und beeile mich mit vor Aufregung zittrigen Fingern das gebrochene Teil abzuschrauben. Urplötzlich setzt starker Hagel ein. „Wir müssen die Regenjacken überziehen!“, brüllt Tanja gegen die Sturmböen an, die übers Plateau fegen. Während ich fieberhaft weiter repariere streift mir Tanja die Jacke über. „Steig ein!“, ruft sie auf die geöffnete Spezialhose deutend, deren seitlichen Reißverschlüsse sich bis zum Bund öffnen lassen, um sie in voller Montur anziehen zu können. Der Hagel hämmert auf unsere Helme und Schultern. Innerhalb weniger Minuten ist der Untergrund aufgeweicht. Alles versinkt im Matsch. „So ein Scheiß! Jetzt ist mir die Mutter runtergefallen!“, schimpfe ich gestresst. „Hier ist sie!“, höre ich Tanja, das kleine Ding aus dem Matsch fischend. Keine Panik. Ruhig bleiben. Tief durchatmen, versuche ich mich zu beruhigen als das Donnern lauter wird. Um den Winkel besser montieren zu können haben wir den Hundeanhänger zwischenzeitlich auf den Kopf gestellt. So fallen die Muttern nicht ständig raus und ich kann die Halteschrauben besser eindrehen. Dann durchfährt mich ein Geistesblitz. Die eine Hälfte der gebrochenen Deichselhalterung passt als Abstandhalter zwischen der Deichselhalterung und der Bodenwanne exakt hinein. „Wenn ich es irgendwie schaffe das Teil da rein zu kriegen bricht die Deichselhalterung vielleicht nicht mehr. „Das würde den Scherkräften, die an dieser Stelle entstehen, entgegenwirken“, sage ich. „Warum ist sie denn schon wieder gebrochen? Wir haben doch außer Ajaci nur noch zwei Isomatten im Dachträger“, fragt Tanja. „Na schau dir die Straßen an. Ist sicherlich kein schlechtes Teil aber für diese Verhältnisse bräuchten wir einen Panzer“, antworte ich und beginne vor Kälte langsam zu schlottern. Auch Tanja bibbert und heftiges Niesen lässt ihren Körper erbeben. „Kalt?“, frage ich besorgt. „Ein wenig“, höre ich ihre Stimme durch das Gehämmere des Hagels. „Wir sollten den Hagel filmen“, meint sie. „Geht nicht, die GoPro ist nicht im wasserdichten Gehäuse. Habe sie erst vor wenigen Tagen da raus gemacht weil sie dort drin kaum Außengeräusche aufzeichnet“, erkläre ich.
Eine Stunde später sind wir wieder startklar. Die Deichselhalterung ist ersetzt. Ein erneuter Bruch ist durch den vorerst provisorischen Einbau einer Distanzhalterung vorgebeugt. Zumindest hoffe ich das. Der Hagel hat aufgehört, kam gerade zur rechten Zeit, um uns bei der Reparatur zu stören. Noch mal laufe ich um die Räder und Hänger, um sie vor der kommenden Talfahrt auf weitere eventuell übersehene Schäden zu untersuchen. „Alles okay“, antworte ich. Dann schlittern wir die ersten Kilometer über rutschig nassen und extrem holprigen Untergrund in die Tiefe. Wir sind beide sehr müde. Nach ca. 60 Km Schotterpiste oder passender ausgedrückt Ackerpiste, wird die Straße besser. Es geht für weitere 30 km bergab. Von 3.300 Meter auf 1.500 Meter. Immer wieder halten wir an um unseren Bremsen die Chance auf Abkühlung zu geben und um Ajacis Anhänger zu prüfen. Ich bin erleichtert. Er hält. Auch funktioniert mein Bremskühlungssystem, welches ich mir bei den chinesischen Lastwägen abgesehen habe, perfekt. Immer wieder stehe ich als sogenannter Servicemann am Straßenrand, warte auf Tanja und wenn sie kommt spritze ich mit meiner Wasserflasche ein paar Sprutzer auf die Bremszangen. Es zischt und dampft, dann geht es weiter. So erreichen wir nach 95 Tageskilometern und knapp 1.500 überwundenen Höhenmetern unser heutiges Ziel…
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