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Abbrechen
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Russland/Babushkin Link zum Tagebuch TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 4

Abruptes Reiseende?

N 51°42'59.0'' E 105°52'30.5''
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    Tag: 74

    Sonnenaufgang:
    07:00 Uhr

    Sonnenuntergang:
    20:55 Uhr

    Luftlinie:
    54.69 Km

    Tageskilometer:
    59.98 Km

    Gesamtkilometer:
    13444.45 Km

    Bodenbeschaffenheit:
    Asphalt – schlecht

    Temperatur – Tag (Maximum):
    18 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    13 °C

    Temperatur – Nacht:
    2 °C

    Breitengrad:
    51°42’59.0“

    Längengrad:
    105°52’30.5“

    Maximale Höhe:
    590 m über dem Meer

    Maximale Tiefe:
    465 m über dem Meer

    Aufbruchzeit:
    10.30 Uhr

    Ankunftszeit:
    20.30 Uhr

    Durchschnittsgeschwindigkeit:
    11.49 Km/h

Auf der heutigen Strecke entfernt sich der oftmals holprige Asphaltstreifen für wenige Kilometer vom Ufer des Sees und windet sich über die Ausläufer des nahen Chamar-Daban-Gebirges. Bis zu 600 Meter geht es für uns wieder hoch und runter. Dachten wir ab Irkutsk das Südsibirische Gebirge endlich bezwungen zu haben, müssen wir nun feststellen, dass uns die Anstrengungen bleiben. “Die Berge begleiten euch bis Ulan-Ude”, meint ein Lastwagenfahrer. Da wir uns nun schon seit gut 1.200 Kilometer über Höhenzüge arbeiten, nehmen wir seine Aussage relativ gelassen. “Ein paar hundert Kilometer Berglandschaft mehr oder weniger machen uns doch nichts aus!”, rufe ich lachend und zuversichtlich in den stahlblauen Himmel Sibiriens. Dann kommt plötzlich starker Wind auf. Obwohl wir ihn schon seit Beginn unserer Kasachstandurchquerung nicht mehr beim Namen nennen, scheint er uns trotzdem immer wieder einmal zu finden. “Wir sollten uns einen anderen Trick einfallen lassen. Der Meister ist wohl schlauer als wir dachten”, scherze ich. Dann zwingen uns einige zehn- und zwölfprozentige Steigungen aus dem Sattel. Schiebend arbeiten wir uns Meter für Meter nach oben. Eigentlich hatten wir geplant Tanjas Geburtstag in Ulan-Ude, der Hauptstadt der Republik Burjatiens, zu feiern, aber bis zum 30. August bleiben uns nur noch 2 ½ Tage. Mit den jetzt wieder unaufhörlichen Höhenzügen schaffen wir unter keinen Umständen die noch vor uns liegenden 210 Kilometer. “So wie es aussieht ist das ein Wunschgedanke”, meine ich heftig schnaufend den nächsten Gipfel erreichend. “Kein Problem. Dann feiern wir meinen Geburtstag dort wo wir zu diesem Zeitpunkt sein werden”, ist Tanjas gelassene Antwort.

Speichenbruch

Links und rechts der Verkehrsader befinden sich Wasser- und Sumpflandschaften, weshalb es schwer ist einen Campplatz für die Nacht zu finden. Selbst unsere Mittagsrast verbringen wir direkt auf einem Schotterweg der von der Straße in die Taiga führt. Trotz des starken und kalten Gegenwindes, den vielen Höhenzügen, der schlechten Campmöglichkeiten und der Aussicht nicht so schnell nach Ulan-Ude zu kommen wie geplant, sind wir frohen Mutes. “Pliiiing!”, vernehme ich plötzlich ein metallisches, vorher noch nie gehörtes Geräusch. Mit prüfenden Blicken untersuche ich während der Fahrt mein Bike. Nichts zu sehen. Gott sei Dank. “Wahrscheinlich nur ein Steinchen das gegen den Rahmen gesprungen ist”, denke ich als eine der Bremsbacken am Hinterrad beginnt an der Felge zu schleifen. Ich steige ab, um die Ursache genauer unter die Lupe zu nehmen. “Was ist denn?”, fragt Tanja, die in diesem Augenblick über den Bergrücken heraufgeradelt kommt. “Weiß nicht. Die Bremse schleift”, erkläre ich und bin im Begriff weiterzufahren als ich die Ursache erkenne. “Oh nein. Das glaube ich einfach nicht. Eine Speiche ist gebrochen!” “Was? Eine Speiche? Wie kann denn das geschehen?” “Olchon. Das ist ein Andenken von Olchon. Die Schotter und Lehmpisten dieser wunderbaren Insel waren anscheinend zuviel.” “Kannst du das reparieren?” “Einen Speichenbruch? Habe ich noch nie gemacht. Aber das Problem ist, das ich nicht mal weiß ob wir Ersatzspeichen dabei haben”, antworte ich und bemerke mit dieser Aussage, welche Konsequenz dieses Dilemma für den Fortbestand unserer Reise haben kann. “Du hast doch für fast alles Ersatzteile dabei?” “Schon, aber die Speichen hatten wir im Sattelrohr des Vorgängerrades, dem delite black, verstaut. Ich glaube nicht, dass ich im Vorbereitungsstress daran dachte auch beim Intercontinental welche ins Sattelrohr zu stecken. Kann mich zumindest nicht daran erinnern.” “Dann waren wir auch schon auf der Kasachstanetappe ohne diese Dinger unterwegs?” “Könnte sein”, meine ich und suche jetzt wirklich nervös geworden hektisch im Ersatzteilbeutel nach den urplötzlich sehr wichtig gewordenen dünnen Drahtstückchen. “Also hier sind keine drin. Das bedeutet, dass an dieser Stelle die Reise zu ende ist”, meine ich frustriert. “Nicht schon wieder”, antwortet Tanja, weil wir letztes Jahr im Spätherbst, wegen einem Deichselbruch in der sibirischen Pampa, frühzeitig unseren Trip abbrechen mussten. “Wenn wir Glück haben gibt es Fahrradgeschäfte in Ulan-Ude die solche Speichen führen. Wir müssten nur versuchen unsere Roadtrains dorthin zu bekommen. Um welche aus Deutschland anzufordern ist die Zeit zu kurz. Dafür reicht unser Visum nicht mehr aus.” “Jetzt schau doch mal im Sattelrohr nach. Vielleicht sind ja doch welche drin”, fordert mich Tanja auf. Als ich wiedererwartend die Ersatzspeichen dort entdecke fällt mir ein Stein vom Herzen. “Die muss ein Mechaniker von riese und müller bei der letzten Wartung dort rein gesteckt haben”, sage ich erfreut. “Jungs ihr seid einfach klasse!”, rufe ich und reiße das Päckchen auf. Als ich die Länge der Speichen überprüfe erschrecke ich erneut. Zu kurz. Hoffnungsvoll schlitze ich mit meinem Leatherman das zweite Päckchen auf und siehe da, diesmal halte ich die Richtigen in den Händen. “Es sind nur noch 16 Kilometer bis Babushkin. Meinst du es ergibt Sinn noch bis dahin fahren? Dort könntest du in aller Ruhe den Schaden beheben.” “Weiß nicht inwieweit die Statik der Felge schon geschwächt ist? Wenn durch die schwere Ladung auch noch weitere Speichen brechen? Das wäre dann wirklich fatal. Aber jetzt, hier am Straßenrand, so eine Reparatur?” “Du hast zwei Stunden. Dann geht die Sonne unter”, gibt Tanja zu bedenken. “Das könnte ich hinbekommen”, antworte ich und beginne mein Intercontinental abzuladen.

In der Tat schaffe ich es noch vor Sonnenuntergang und der damit hereinbrechenden Kälte die neue Speiche einzuziehen und so einzustellen, das nichts mehr schleift. “Wunderbar!”, freue ich mich und bin wirklich ein wenig Stolz auf mich. “Hatte immer Angst vor Speichenbrüchen. Ist gar nicht schlimm. Sollte es wieder geschehen bin ich viel schneller. Bedenklich ist es nur, wenn so etwas bei stürmischen Wetter oder Schneetreiben passiert”, meine ich mein Sumobike die Anhöhe herunterrollen lassend.

Der traurige Ort Babushkin

Wir erreichen das trostlose Kaff Babushkin indem heute 7.600 Einwohner leben. Langsam treiben wir unsere Rösser gegen den kalten Wind in den Ort, der einmal so hieß wie der nahe Fluss Mysowka, an dessen Ufern bereits um 1690 die ersten Russen siedelten. Das Babushkin einmal ein wichtiger Ort des Handels war als vor 150 oder 200 Jahren der Warenaustausch mit China immer intensiver wurde, ist nicht einmal mehr zu erahnen. Nach entbehrungsreichen langen Reisen machten die Händler hier mit ihren Fuhrwerken halt, bevor sie ihren Weg entlang der Küste oder über den Baikal fortsetzten. Auch wurden große Viehherden aus der Mongolei hierher getrieben, um in der Stadt geschlachtet oder weiterverarbeitet zu werden. Wir radeln an verkommene Fabrikhallen und halb zusammengebrochene Wohnhäuser vorbei. Sie lassen die Erinnerung aufkommen als dieser Ort Mitte des 19. Jh. einmal ein trauriges Zwischenlager für Verbannte war. Reges Treiben und Geschäftigkeit hingegen musste hier geherrscht haben als 1880 der Hafen ausgebaut wurde. Schon neun Jahre später erreichte der östliche Teil der Transsibirischen Eisenbahn das aufstrebende Babushkin. Da hier der Ausbau der Transsibstrecke erstmal stoppte, wurden zwischen den Jahren 1900 und 1904 täglich hunderte von Passagieren und komplette Eisenbahnzüge mit einem großen Fährschiff über den See zum anderen Ufer geschippert. Von dort konnten die Reisenden mit der Transsib in das westlich gelegene Sibirien und Russland weiterreisen.

“Gibt es hier eine Gastiniza?”, frage ich einen Passanten. Er verweist uns zu einem Straßencafe. Als ich mir das angebotene Zimmer ansehe verschlägt es mir wieder einmal den Atem. In einem Fensterlosen feuchtem Loch, von dessen Wänden der schimmlige Putz bröckelt und in kleinen Haufen am Boden liegt, stehen zwei durchgelegene Diwans, die mich seltsamerweise an die Zeit der Zwangsarbeiter erinnern. “Was wollen sie dafür?”, frage ich meine Sprache wieder findend. “Wenn sie nur bis acht Uhr morgens bleiben, 350,- Rubel (8,- Euro) pro Person. “Danke aber ehrlich gesagt ist der Raum furchtbar. Gibt es noch eine weitere Gastiniza im Ort?” “Ja”, antwortet mir die Angestellte und erklärt mir den Weg.

Auf der Straße frage ich eine Frau, die schon lange nach Sonnenuntergang ihr Gesicht hinter einer großen Sonnenbrille versteckt. Sie fasst mich schwankend an die Schulter, um offensichtlich ihr Gleichgewicht zu halten. “Im Cafe dort hinten”, bläst sie mir lallend eine gewaltige Alkoholfahne ins Gesicht. Müde und nach dem langen Tag kräftemäßig ausgebrannt suchen wir weiter. Wir erfahren von einem dreistöckigen Plattenbau in Bahnhofsnähe. Dort soll es eine Unterkunft geben. Eine besser gekleidete Dame führt uns zur Rückseite des völlig heruntergekommenen Gebäudes. Tatsächlich hängt über einer Tür der Hinweis hier auf eine Gastiniza gestoßen zu sein. “Einen Augenblick, ich rufe mal die Telefonnummer an”, verstehen wir die ältere Frau, die ihr Handy zückt. Wir verstehen 20 Minuten warten zu müssen. Dann kommt vielleicht jemand. Verschwitzt stehen wir nun auf der Rückseite eines kaputten Plattenbaus im kalten Wind und blicken auf die Gleise der Transsibirischen Eisenbahn. Alle paar Minuten schallt eine blecherne Stimme aus den Lautsprechern von den Gleisen zu uns herüber. Der Baikal, der sich mit seinem Ufern direkt an diese Ausgeburt der Hässlichkeit schmiegt, macht das skurrile Bild um diese Zeit nicht schöner.

Tatsächlich wackelt nach 20 Minuten eine alte Frau herbei. Sie zeigt uns eines ihrer zwei Zimmer. Es ist ein Vierbettraum, welcher im Vergleich zum Schimmelbunker des Straßencafes annehmbar ist. “1.500 Rubel” (“34,- Euro”), verschlägt es uns die Sprache. “Das ist aber teuer”, sagen wir. “Nun, das Bett kostet 375,- Rubel. (8,52 Euro) Wenn sie hier einziehen kann ich die anderen zwei Betten heute nicht mehr vermieten”, antwortet sie. Tanja und ich sehen nahezu gleichzeitig auf die Uhr und fragen uns wer um 20:30 Uhr heute noch in diesem verlassenen Kaff eine Unterkunft suchen mag? Ohne nur ein Wort zu äußern meint die Vermieterin plötzlich. “Nun gut, dann geben sie mir eben 1050,- Rubel (23,86 Euro). Wir sind einverstanden. Da wir es nicht passend haben verspricht sie uns das Wechselgeld morgen zurückzugeben. Schnell versuchen wir unsere Räder und Anhänger in die Bude zu bringen. Das Problem allerdings ist das Türschloss. Wegen Malerarbeiten lässt sich der Riegel der Seitentür nicht öffnen und somit gehen die Anhänger nicht durch den Rahmen. Mit viel Geduld und Kraft kann ich den Verschluss mit meiner Zange lösen. Endlich sind wir nun in der Unterkunft, weg von den beißenden Moskitos, den Betrunkenen und dem kalten Wind.

Im Nebenzimmer wohnt die Dame die uns hierher gebracht hat. Obwohl wir ihr versuchen zu erklären wie müde wir sind, erzählt sie unaufhörlich von ihrer Reise. Dann zückt sie ihren Fotoapparat und zeigt uns grottenschlechte Bilder vom Baikal, einigen Häusern und Menschen. “Wir sind wirklich müde”, sagt Tanja wiederholt, doch sie lässt sich nicht abbringen ihre Erzählungen fortzusetzen. Tanja versucht mittlerweile auf dem Herd in der Küche unser Abendessen zu bereiten während ich diese Zeile schreibe. Plötzlich schaut mir die Dame über die Schultern und liest laut was ich gerade formuliere. “Wissen sie. Ich bin Professor und arbeite in Moskau. Ich unterrichte an der Uni Sprachen. Sehen sie, ich kann noch Deutsch lesen”, quasselt sie. Ich habe Mühe nicht gleich wahnsinnig zu werden und tippe weiter. “Ich verstehe sie nicht”, sage ich immer wieder bis die Professorin endlich einlenkt und mich in Ruhe lässt.

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