Siebtes Resümee – Am Limit – Überwinterung mit den Tuwanomaden
N 49°01'460'' E 104°02'800''Tag: 438
Sonnenaufgang:
07:08
Sonnenuntergang:
18:38
Gesamtkilometer:
2525
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Temperatur – Tag (Maximum):
15 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
minus 12 °C
Temperatur – Nacht:
minus 3 °C
Breitengrad:
49°01’460“
Längengrad:
104°02’800“
Maximale Höhe:
1281 m über dem Meer
Wenige Tage vor der Neujahrswende verließen wir mit einem bis zum Rand vollgeladenen russischen Lastwagen die Siedlung Tsagaan Nuur in Richtung Nordwesten. Das Allradfahrzeug überquerte Schneefelder, arbeitete sich durch Gräben und Spalten und drang in einen dichten Wald vor. Plötzlich sahen wir die ersten Tipis und zwei einfache Blockhäuser. Wir hatten das Lager der Rentiernomaden erreicht. Menschen kamen aus ihren Zelten und begrüßten uns freudig. Sofort halfen sie uns den Lastwagen zu entladen und die Jurte aufzubauen. Als die Finsternis hereinbrach stand unser Heim.
Schon während der ersten Tage bekamen wir Besuch. Erst spärlich, dann aber immer häufiger. Schnell entwickelte sich unsere Jurte zum Treffpunkt um Kaffee, Tee und in Ausnahmefällen auch Kakao zu trinken. Abends suchten uns häufig der Jäger Ultsan und seine Frau Tsaya auf. Beim Knistern des Feuers lauschten wir Geschichten über die gefährliche Bärenjagd, über rivalisierende Schamanen die versuchten sich im Kampf gegenseitig zu töten. Wir hörten von der ständigen Bedrohung durch Wölfe und erfuhren viel über das harte Leben als es noch keinen Kontakt zur Außenwelt gab. Die spannenden, teils haarsträubenden Erzählungen bereicherten für Wochen die kalten Winternächte.
Wir verschenkten Wunderkerzen an alle Anwesenden und feierten mit ihnen unter viel Gelächter, bei klarem Sternenhimmel, den Übergang ins Jahr 2012. Wir lernten die unterschiedlichsten Verhaltensregeln, unterwarfen uns den vielseitigen Tabus, aßen das Fleisch von Bären, kosteten sein eigenwillig schmeckendes Fett und erlebten zwei Erdbeben.
Jeden Abend brachten die Tuwa ihre Rentiere aus der Taiga zum Camp und banden sie neben ihren Tipis an Bäume. Bald immer fehlte einer oder mehrere Hirsche, weswegen sich die Jäger auf den Rücken eines ihrer Rentiere schwangen, um sie im Wald zu suchen. Erst als sich die Vermissten im sicheren Lager befanden waren sie sicher vor den Wölfen. Manchmal wurde die Schwärze der Nacht durch einen lauten Schuss zerrissen. Einer der Jäger hatte auf einen Wolf geschossen der sich dem Camp näherte. Ab und an kam es vor, dass eines der wertvollen Rentiere Wölfen zum Opfer fiel.
Wir erfuhren über zweifelhafte Hilfsorganisationen die im Namen der Tuwa Geld sammeln, welches nie bei den Menschen ankommt. In vielen Gesprächen klärten uns die Nomaden auf welche Hilfe wirklich von Nöten ist und wie sich verschiedene Politiker durch unsinnige Hilfsaktionen in der Öffentlichkeit sonnen. Vor allem Krankheiten sind in der Abgeschiedenheit eine besondere Herausforderung. Schon ab dem dreißigsten Lebensjahr leiden viele Jäger durch die Nutzung schlechter Sonnenbrillen unter zunehmenden Sehverlust. In Verbindung mit unserem Brillensponsor halfen wir den Männern des Stammes und rüsteten sie mit hochwertigen Sonnenbrillen aus. Nicht selten ziehen sich die Männer während ihrer Jagdausflüge Erfrierungen an den Nasen, Ohren, Wangen, Fingern und Zehen zu. Aber auch Zahn-, Herz- Kreislaufprobleme sowie Bluthochdruck gehören zum Bild des Alltages. In vielen Fällen ist die vitaminarme, einfache und einseitige Ernährung und vor allem der enorme Konsum von schlechtem Wodka dafür verantwortliche zu machen. Unsere Freundin Tsaya trug wegen der einseitigen Ernährung sogar ein totes Baby unter dem Herzen. Als sie nach einer mehrtägigen anstrengenden Reise ein Krankenhaus erreichte war ihr Körper bereits vergiftet. Sie kämpfte einen Monat um ihr Leben. Die Folgen dieses furchtbaren Ereignisses spürte sie noch als wir im Camp lebten. Ihr Herz entzündete sich, weshalb sie wieder auf der Intensivstation landete. Ihr weiteres Überleben in der Taiga ist bis heute abhängig von Medikamenten die teuer und in der Mongolei nicht zu bekommen sind.
Unsere Zeit mit den Nomaden war von Höhen und Tiefen geprägt. Wegen den extremen Temperaturen brach erneut unsere gesamte Technik zusammen. Selbsthilfe war erfordert da es ansonsten keine Hilfe für solcherlei Luxusprobleme gab. Unsere Beziehung zu den Menschen wurde immer inniger. Keiner dachte daran uns nach einem Monat wegzuschicken. „Ihr seid gute Menschen“, hieß es. „Warum zieht ihr mit uns nicht auch ins Frühjahrs- und Herbstcamp? Ihr seid ein Teil des Stammes geworden.“
Zu meiner Geburtstagsfeier luden wir den gesamten Stamm ein. Mit Knabbersachen, Bier und Wodka wurde es eine meiner skurrilsten und unvergesslichsten Feiern. Als eine berittene mongolische Grenzpatrouille auftauchte, um die Tuwa auf illegale Waffen zu filzen, versteckten zwei Jäger ihre Gewehre unter unserem Hochbett. Wir fühlten uns zwar nicht wohl bei der Sache aber konnten ihnen somit beweisen auf ihrer Seite zu stehen.
Immer wieder brachen die Männer mit ihren Rentieren zur Jagd auf. Fleisch und Mehl ist die Basis ihrer Ernährung. Wenn sie nach Tagen, manchmal aber erst nach Wochen erfolgreich im Lager auftauchten gab es jedes Mal ein großes Hallo, denn einmal, so erlebten wir selber es mit, wurde Einer von einer abgehenden Lawine getötet.
Kaum waren die Jäger Im Camp wurde umgehend das Fleisch aufgeteilt und immer bedachte uns Ultsan mit einem Anteil. Als ich ablehnen wollte erklärte er; „Wenn ein Jäger seine Beute nicht unter den Stammesmitgliedern aufteilt werden ihm die Götter auf der kommenden Jagd nicht mehr wohl gesonnen sein.“
Eines Tages zogen bei minus 35 °C bald alle Männer des Stammes los, um in 100 Kilometer Entfernung einen Schutzwall gegen Wölfe zu errichten. Der Anblick der mit Decken, Öfen, Zeltplanen, Töpfen und anderer überlebensnotwendiger Ausrüstung beladenen Rentierkarawane versetzte uns in eine längst vergessene Zeit. Der aus Ästen und Hölzern gebaute Zaun zog sich von einer Bergkante zu anderen und verschloss somit ein Hochtal in welchem die gesamte Rentierherde der Tuwa graste. Auf diese Weise sollten die Tiere sich an frischen Flechten satt fressen können. Nach 18 Tagen kamen die Nomaden ausgefroren, ausgehungert und erschöpft zurück. Ihre Frauen waren überglücklich ihre Männer wieder in die Arme schließen zu können. Leider war die Arbeit umsonst. Als Wölfe die Barriere überwanden und einige Hirsche rissen holten die Tuwa ihre Rentiere wieder ins Tipilager.
Ultsan berichtete uns vom plötzlichen Tod der Rentiere. „Von 1996 bis 2000 verloren wir unseren gesamten Besitz. Eine schlimme, aus Russland kommende Seuche, raffte sie dahin.“ Wir erfuhren, dass es weitere zehn Jahre dauern wird, um den alten Bestand zu erreichen. Seither suchten die Nomaden andere Einnahmequellen zu finden wie zum Beispiel der illegale Abbau von Jadesteinen. Obwohl die Jadefundstellen sich im Gebiet der Tuwanomaden befinden, ziehen sie mittlerweile hunderte von mongolischen Glücksrittern an. „Die Mongolen rücken mit modernem Gerät an und lassen uns nur die Reste“, berichteten sie.
Schon eine Woche vor dem größten Fest des Landes, dem Tsagaan Sar, dem mongolischen Neujahrsfest, waren viele der Tuwamänner betrunken. Manche von ihnen tranken bis sie bewusstlos umfielen oder Blut erbrachen. Durch die Einsamkeit und Abgeschiedenheit war jedes Fest willkommen, meist um sich in eine andere Welt zu flüchten. Der Schamane Gamba und seine Frau Purvee nahmen uns am Hauptfesttag mit in jedes Tipi. Geschenke wurden verteilt, Buuz (mit Fleisch gefüllte Teigtaschen) gegessen und jede Menge Wodka getrunken. Auch wir konnten uns nicht entziehen, bekamen Geschenke, aßen und tranken bis unsere Bäuche fast platzten.
Eines Abends, mitten in der Nacht, donnerte es gegen unsere Jurtentür. Einer der betrunkenen Männer forderte Wodka. Um der Sache Nachdruck zu verleihen schlug er mit einem schweren Stock gegen das dünne Holz. Mit all meiner Kraft hielt ich die Tür von innen zu und hoffte den Jäger vor dem Eindringen in unser Reich abhalten zu können. Nie werde ich vergessen wie in dieser Nacht unser Herz vor Aufregung und Anspannung schlug. Einen Monat ging das Dauerbesäufnis. Nur durch Diplomatie, durch rechtzeitiges Zurückziehen und Ruhighalten, überstanden wir die für uns unangenehme Zeit ohne Schaden zu nehmen.
Aber nicht nur betrunkene Tuwa und Mongolen waren eine Herausforderung dort draußen in der Taiga sondern das tägliche Überleben. Der vorsichtige Umgang mit der Motorsäge beim Bäumefällen oder nie zulange die Handschuhe auszuziehen, weil schon nach kurzer Zeit die Finger erfrieren könnten. Immer mit Bedacht und Bewusst arbeiten. Der kleinste Fehler konnte zu schlimmen Verletzungen führen. Als ich einmal Holz hackte flog mir ein Scheit gegen die Augenbraue. Sie platzte sofort auf. Nur wenige Millimeter tiefer und es hätte mein Auge getroffen. Glück im Unglück gehört dazu. Wie ich am eigenen Leib erfuhr kann selbst die normalste Angelegenheit tödlich enden. Eines Nachts musste ich bei minus 35 °C nach draußen, um mich zu erleichtern. Als ich dann aufblickte fand ich in der absoluten Finsternis nicht mehr den Weg zur Jurte zurück. Nur leicht bekleidet stapfte ich durch den Wald. Der starke Wind trug dazu bei die skurrile Situation zu verschärfen. Durch meinen Instinkt geleitet und weil ich nicht in Panik geriet fand ich rechtzeitig die rettende Jurte.
„Do dong! Do dong! Do dong!“ hörten wir eines Abends Trommelschläge. Wir zogen uns an, verließen die Jurte und schlichen zum Blockhaus des Schamanen. Als wir die schwere Holztür öffneten lauschten wir befremdendem Gesang und sahen den Schamanen in seiner bunten Tracht. An seinem Gürtel schimmerten kleine Spiegelchen die Dämonen wie ein Schutzschild abhalten sollen und gleichzeitig als Fenster in eine andere Welt dienen. Vom dichten Weihrauchnebel umhüllt wirbelte er um die eigene Achse, dabei immer seine Trommel schlagend. Seine Schwester Buyantogtoh und Sohn Sansar assistierten, Verwandte befragten die Geister und Götter die er gerufen hatte. Die sich vor unseren Augen abspielende Szenerie war gespenstisch und beklemmend.
In den Tagen darauf suchten wir die Schamanin Saintsetseg in ihrem Tipi auf. Wir wollten wissen wie sie Schamanin wurde. „Sie hat noch vor Abschluss ihrer Ausbildung mit Ritualen begonnen. Das war der Grund warum der Stamm von mehreren Todesfällen heimgesucht wurde. Der Spirit bestraft solche Vorgriffe hart“, berichtete uns Tsaya.
Am 27. März, dem 246zigsten Tag unserer Expeditionsreise, erreichte Bilgee mit allen Pferden Tsagaan Nuur. Als wir die halbverhungerten Tiere erblickten waren wir geschockt. Wir erfuhren von Tulgaas langen Rückritt nach Mörön und davon, dass das Militär ihn für die abgemagerten Pferde verantwortlich machte. „Sind die Pferde Anfang Winter dürr erholen sie sich bis zum Sommer nicht mehr, egal was man ihnen füttert“, erklärte Bilgee.
Ohne Gepäck ritten wir unsere Pferde dann in die Taiga zum Camp der Tuwa. Wir entschieden uns in Luftlinie abzukürzen. Ein Fehler. Unter kleinen Schneeinseln lagen scharfkantige Felsen, bis zu einen ½ Meter tiefe Löcher und unzählige, mit Flechten bewachsene Erdbuckel, die ein Vorankommen fast unmöglich werden ließen. Dann brach die Nacht herein. Bei minus 25 °C, im Schein unserer Stirnlampen, ritten wir durch dichtes Gestrüpp und Gesträuch. Wegen dem Labyrinth der Bäume war eine Orientierung nahezu unmöglich. Erst um 22:00 Uhr stießen wir auf Rentierspuren die uns zum Lager der Tuwa führten.
Am 16. April bauten wir unsere Jurte ab und ließen sie mit einem Allradkleinbus nach Tsgaan Nuur transportieren. Viel zu früh, wie sich herausstellte, da die Tuwa sich wegen anhaltenden schlechten Wetters erst zwei Wochen später entschieden ins Frühjahrscamp umzuziehen. Wir zogen ins Zelt, kochten bei minus 25 °C im Freien und froren schrecklich. Ab diesem Zeitpunkt erging es den Tuwa in ihren Tipis entschieden besser. Auf meine Bitte hin errichtete Ultsan sein Ersatztipi für uns welches wir bezogen. Unerwartet öffneten sich die Pforten des Himmels und erstickten das Land in Schnee. Jeden Morgen mussten wir uns regelrecht aus dem Tipi graben. Dann schlug das Schicksal erneut zu. „Tanja! Denis! Naraa hat ein Problem!“, riss uns Bilgees Ruf aus dem Tiefschlaf. „Was? Wer?“; stammelten wir. „Naraa!!!“, rief Bilgee erneut und verschwand im Wald. Die hochschwangere Stute Naraa lag in einem Eisgraben und kam aus eigener Kraft nicht mehr heraus. Vor Kälte zitterte sie am ganzen Körper. Mit den vereinten Kräften vieler Tuwamänner stellten wir sie auf ihre Beine und hofften ihr Ungeborenes hatte keinen Schaden genommen.
Und dann war es endlich soweit. Die Nomaden zogen in ihr Frühjahrscamp. Wir waren gerade im Begriff in die Sättel zu steigen als Naraas Fruchtblase platzte und ein Stückchen eines Fohlens aus ihrem Muttermund spitzte. Sofort ließen wir alles liegen und stehen und halfen der Stute bei der Geburt ihres Kindes. Tuya, so nannten wir das Neugeborene, flutschte in den kalten Schnee und zitterte am ganzen Leib. „Es lebt!“, riefen wir begeistert. Wir legten Tuya auf eine Decke, trugen ihn ins Tipi und trockneten sein nasses Fell. Dann brachten wir ihn wieder zur Mutter.
Ende April zogen die letzten Nomaden mit einer beeindruckend großen Rentierkarawane in ihr Frühjahrscamp. Alle Tiere waren bis aufs äußerste mit dem Hausstand der Tuwa beladen. Bilgee und ich begleiteten sie. Zumal das Neugeborene für solch einen langen Marsch noch zu schwach war blieb Tanja als Einzige im Wintercamp zurück. Bilgee wollte am darauf folgenden Tag wieder ins Wintercamp reiten, um Tanja in der wilden Taiga Schutz zu bieten. Da ich den spektakulären und einmaligen Umzug der Rentiernomaden fotografisch dokumentieren wollte war ich es der sie begleitete und nicht Tanja.
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