Tödliche Falle
N 51°33'337'' E 099°15'341''Tag: 274-275
Sonnenaufgang:
06:09/06:07
Sonnenuntergang:
20:32/20:34
Gesamtkilometer:
1341
Bodenbeschaffenheit:
Eis, Schnee
Temperatur – Tag (Maximum):
2°C
Temperatur – Tag (Minimum):
minus 15°C
Temperatur – Nacht:
minus 25°C
Breitengrad:
51°33’337“
Längengrad:
099°15’341“
Maximale Höhe:
1981 m über dem Meer
„Tanja! Denis! Naraa hat ein Problem!“, reißt uns Bilgees Ruf aus dem Tiefschlaf. „Was? Wer?“; stammle ich eine Antwort, bereits in Sitzstellung hochgeschossen. „Naraa!!!“, ruft Bilgee wieder und scheint verschwunden zu sein. „Was ist mit Naraa? Oh Gott sie bekommt ihr Baby!“, wird es Tanja klar und schnellt ebenfalls wie eine Sprungfeder in die Höhe. Hastig ziehen wir uns an. „Joi, joi, ist das kalt“, sage ich. Ein Blick aufs Thermometer zeigt minus 20 °C. „Zieh alles an was geht“, warne ich Tanja. Wenige Minuten später treten wir eilig aus dem Zelt und sehen gerade noch wie Ultsan auf seinem Rentier reitend im Wald verschwindet. „Wo ist Bilgee?“, fragt Tanja. „Wahrscheinlich schon vorausgeritten. Denke er hat Ultsan ebenfalls um Hilfe gebeten“, antworte ich als wir schon den Weg zur Lichtung hinunter hasten. Das Hochtal erreicht entdecken wir im ersten Augenblick gar nichts. „Wo sind sie?“, fragt Tanja. „Keine Ahnung“, antworte ich, meinen Blick über die Senke gleiten lassend. Mogi, der uns entdeckt hat, bellt aufgeregt. Da er an einem Baum neben Bilgees Zelt festgebunden ist kann er nicht zu uns kommen. „Dort drüben bewegt sich etwas“, sage ich auf zwei Gestalten deutend die nur Ultsan und Bilgee sein können. Durch den Schnee eilend stapfen wir auf sie zu.
„Oh Gott!“, entfährt es Tanja als sie Naraa in einem schmalen Graben liegen sieht. „Ich habe die Pferde heute morgen um 4:00 Uhr freigelassen. Um 7:00 Uhr bin ich erneut aufgestanden um nach ihnen zu sehen. Ich musste mindestens dreimal zählen bis mir klar wurde das Naraa fehlt. Dann bin ich in alle Himmelsrichtungen gelaufen, um ihre Fährte zu suchen. Um 7:45 Uhr entdeckte ich sie hier im Graben. Sie konnte nicht aus eigener Kraft aufstehen. Hier seht ihr die Spuren? Da hat sie versucht wieder rauszukommen. Dabei muss sie auf dem Eis ständig ausgerutscht sein. Sie ist völlig entkräftet. Als ich merkte trotz allen Tricks sie nicht aus ihrer misslichen Lage befreien zu können sattelte ich Tenger und bin ins Camp geritten, um euch zu Hilfe zu holen. Sie muss da dringend raus, sonst stirbt sie“, berichtet Bilgee aufgeregt aber sachlich. Mit vereinten Kräften versuchen wir unsere arme Naraa aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Ohne Erfolg. „Ihre Beine müssen eingeschlafen sein“, vermute ich. „Bilgee nickt. Dann wickelt er ein Seil um ihren vor Kälte und Schwäche zitternden Körper. Wieder versuchen wir sie hochzubringen. „Wir müssen auf ihr Baby achten. Das Seil darf ihren Bauch nicht quetschen!“, versuche ich zu erklären. „Er wird schon wissen was er tut“, meint Tanja. Auch dieser Versuch bleibt ohne Erfolg. „Wie geht es deinem Rücken?“, fragt Tanja. „Geht schon“, antworte ich da ich seit einer Bandscheibenoperation vor einigen Jahren darauf achten muss nicht all zu schwer zu heben. Jedoch was bleibt mir in diesem Fall übrig? Alles nur Theorie. Im Ernstfall wie diesem gibt es kein vorsichtiges Heben. Trotzdem muss ich achtsam sein ansonsten müssen Tanja, Bilgee und Ultsan auch noch mich aus dem Graben ziehen.
Nach einigen Denk- und Verschnaufminuten hat Bilgee eine neue Idee. „Wir drehen sie quer zum Graben und versuchen sie auf diese Weise herauszuzerren. Sie muss von dem Eis runter. Egal wie. Das ist ihre einzige Chance“, schlägt er vor. „Wir benötigen Verstärkung. Ultsan kannst du nicht noch ein paar Männer aus dem Camp holen?“, fragt Tanja nervös. Ultsan reagiert nicht. Bilgee wickelt nun das Seil mit einer neuen Schnürtechnik um Naraas dicken und müden Körper. „Auf Kommando!“, sagt er. „Neg! Hoyor! Guraw! Hubaaa!“, gibt Ultsan den Takt vor. Naraa hat sich nun tatsächlich ein Stück zur Seite bewegt. „Neg! Hoyor! Guraw! Hubaaa!“ Wieder konnten wir ihren fülligen Körper um ein paar Zentimeter rutschen. „Neg! Hoyor! Guraw! Hubaaa!“ Jetzt ist ihr Körper um 90 Grad gedreht „Neg! Hoyor! Guraw! Hubaaa!“ Unglaublich aber wahr. Wir konnten sie ein Stück aus dem Graben ziehen. „Neg! Hoyor! Guraw! Hubaaa!“ Bilgee bindet das Seil neu. „Neg! Hoyor! Guraw! Hubaaa!“ Naraa kommt Stück für Stück aus dem Graben. „Neg! Hoyor! Guraw! Hubaaa! Neg! Hoyor! Guraw! Hubaaa! Neg! Hoyor! Guraw! Hubaaa!“ Schwer atmend und nun ebenfalls entkräftet stehen wir da und blicken auf die zitternde und apathisch daliegende Stute. Wir haben das scheinbar Unmögliche vollbracht und zu viert eine hochschwangere Stute aus dem Graben gezogen. „Sie braucht nun eine Pause. Dann versuchen wir sie zum Aufstehen zu bewegen“, schlägt Bilgee vor. Naraa liegt nun im Schnee und nicht mehr auf dem Eis. Wenn sie noch etwas Kraft in ihren Gliedern hat müsste sie hochkommen. Jedoch bleiben alle weiteren Versuche vergeblich.
„Wodka. Wir brauchen Wodka. Das hilft ihr auf die Beine“, sagt Bilgee weshalb ich erst glaube er macht einen seiner Scherze. „Wodka?“, fragen Tanja und ich gleichzeitig. „Ja. Das wärmt sie und gibt ihr einen Kraftschub. Ich habe Wodka im Camp. Ihr bleibt hier und passt auf sie auf während ich schnell in die Basis reite und eine Flasche hole“, beschließt er und verschwindet. „Ich sehe in der Zwischenzeit nach meinen Pferden“, meint Ultsan, schwingt sich auf sein Rentier und reitet ebenfalls davon. Tanja und ich stehen nun neben der immer mehr zitternden Naraa. „Wir müssen sie mit Bilgees Deel zudecken. Das hält sie warm“, schlage ich vor und lege den dicken Schafsfellmantel, den unser Pferdemann in der Aufregung liegen hat lassen, über sie. Tatsächlich wird das Zittern weniger. Als Naraa sich völlig zur Seite fallen lässt und wie eine Sterbende daliegt hebt Tanja ihren Kopf und bettet ihn in ihrem Schoß. „Du schaffst das Naraamäuschen. Du schaffst das. Wir werden mit deinem Kind und dir durch die Mongolei reiten. Halte durch. Bilgee bringt dir einen kräftigen Schluck Feuerwasser. Der heizt dir ein. Du schaffst das. Halte durch mein Mäuschen“, flüstert sie ihrem Pferde ins Ohr und küsst es auf die Nüstern. Naraa sieht sie mit ihren großen Kulleraugen an. „Ich schaffe es“, scheint sie zu schnaufen, ihren Körper in Sitzposition bringend.
Ich befühle den Bauch um herauszufinden ob sich das Fohlen noch bewegt oder ob es durch den Sturz Schaden genommen hat. Es regt sich nichts. Dann entdecke ich Naraas blutenden Muttermund. „Hast du das gesehen?“, frage ich Tanja. „Was denn?“ „Sie blutet“, sage ich und deute auf die Stelle. Tanja antwortet mit einem vielsagenden Schweigen. Um die Situation nicht noch schlimmer zu machen als sie eh schon ist schweige ich auch. Dann kommt Bilgee mit dem Wodka angeritten. Sofort öffnet er die Flasche, schüttet ein kleinen Schluck in die Verschlusskappe und opfert erstmals den Naturgöttern. Dann trinkt er eine Verschlusskappe voll und reicht sie mir wieder gefüllt, woraufhin auch ich den Göttern opfere und den Rest austrinke. Tanja tut es uns gleich. Nun halten Tanja und Bilgee den Kopf von Naraa. Bilgee nimmt die Flasche und steckt sie in eine der Nüstern. Verblüfft sehe ich wie ein großer Teil des Flascheninhaltes im Pferdekopf verschwindet. „Können Pferde durch die Nase saufen?“, frage ich. „Wenn sie sehr durstig sind ja. Zumindest hat man mir das erzählt“, antwortet Tanja während Bilgee die Flasche wieder aus dem Nasenloch herausgezogen hat, den Inhalt prüft nur um sie ein weiteres Mal hineinzustecken. Insgesamt leert er drei Viertel der Halbliterflasche in das Pferd. „Nun soll sie sich eine halbe Stunde ausruhen“, empfiehlt Bilgee. Naraas Zittern wird weniger. Tatsächlich scheint sie der Wodka zu beruhigen. Nun kommt auch Ultsan wieder auf seinem Rentier angeritten. Er setzt sich neben Bilgee in den Schnee. Der reicht ihm kommentarlos die Wodkaflasche. Ultsan setzt sie an den Mund, nimmt einen kräftigen Schluck und gibt sie an Bilgee zurück. Bilgee setzt sie ebenfalls an die Lippe und leert den Rest mit ein paar Schlucken. Wahrscheinlich müssen sich die Männer ebenfalls stärken. Muss eine Art mongolisches Kollektivdenken sein.
Nach 20 Minuten versuchen wir Naraa auf die Beine zu helfen. Ohne Erfolg. „Ich hole Verstärkung“, sagt Ultsan, schwingt sich erneut auf seinen Hirsch und trabt davon. In der Zeit des Wartens rupfen Tanja, Bilgee und ich mit den Händen trockenes Gras von der Lichtung. Da es unter dem Schnee verborgen liegt eine aufwendige Angelegenheit. Händeweise reichen wir nun Naraa Grasbüschel die sie zu unserer Erleichterung hungrig frisst.
Es vergehen weniger als 20 Minuten als sechs Männer, Tsaya und mindestens acht Hunde über die Lichtung gelaufen kommen. „Super! Vielen Dank für euer Kommen“, sagt Tanja. „Neg! Hoyor! Guraw! Hubaaa!“, rufen die Männer und heben Naraa in die Höhe, so das ihre Beine für Augenblicke in der Luft baumeln. Dann setzen sie sie langsam ab. Sofort knicken ihre Vorderfüße wieder ein. Die Männer halten sie. Andere massieren ihre Bein. Das Gefühl ihrer steifen Glieder scheint langsam zurückzukommen. Sie wankt hin und her. „Sie ist bestimmt betrunken“, meint Tsaya. „Wahrscheinlich“, gebe ich ihr lachend vor Erleichterung Recht. Unter Tanjas und Bilgees Aufsicht macht sie die ersten Schritte. „Sie schafft es!“ rufe ich erfreut. Die Männer lachen. Jeder zündet sich eine Zigarette an und beobachtet eine Weile unser Pferd. Dann, als es so aussieht als könnte sie wieder auf eigenen Beinen stehen, verlassen sie uns und laufen zum Camp zurück. „Vielen Dank!“, rufen Tanja und ich ihnen nach. „Dsügeer! Dsügeer!“ („Bitte! Bitte!“) antworten sie erneut lachend.
Noch eine Weile beobachten wir Naraa wie sie unter dem Schnee nach Gras sucht und frisst als wäre nichts gewesen. „Wie sollen wir jetzt mit ihr ins Früjahrscamp gelangen? Sie ist doch viel zu schwach?“, fragt Tanja. „Zwei Tage Ruhe dann ist sie wieder fit und kann das Camp erreichen“, beruhigt sie Bilgee. Wann wird sie denn ihr Kind bekommen?“, möchte sie wissen. „Mitte Mai“, antwortet er. Da heute erst der 25.04 ist haben wir also noch Zeit. „Aber sie darf kein Gepäck tragen“, ermahnt sie ihn. „Nein, nein, wir werden sie nicht beladen“, lacht Bilgee sichtlich erleichtert Naraa und hoffentlich dem Fohlen das Leben gerettet zu haben. „Das hast du gut gemacht Bilgee“, lobe ich ihn worauf er erneut auflacht und nun mindestens das fünfte Mal die Geschichte erzählt wie er Naraa gesucht und im Graben gefunden hat.
„Ich gehe schon mal ins Camp zurück und entzünde uns ein wärmendes Feuer“, schlage ich vor. „Ja geh schon voraus. Ich bleibe noch eine Weile“, antwortet Tanja kaum den Blick von ihrem Pferd nehmend.
Am Nachmittag besuchen uns Tsaya und Ultsan im Tipi. „Wie war dein Trip nach Tsagaan Nuur?“, fragen sie Tanja worauf sie in kurzen Worten berichtet. Nach einigen Schweigeminuten meint Tsaya; „Wir werden versuchen nur einen Trip ins Frühjahrscamp zu unternehmen. Könnt ihr den Ofen und die Zeltbahn mitnehmen?“ „Wir haben ein sehr schwaches und ein trächtiges Pferd. Wir können unmöglich noch weitere Ausrüstung auf die restlichen Pferde laden. Wir sind froh wenn wir unsere Habe auf zweimal ins Frühjahrscamp bringen“, antwortet Tanja. „Na dann müssen wir auch zwei Trips unternehmen“, meint Ultsan knapp, dreht sich um und verlässt mit Tsaya das Tipi. Tanja und ich sehen uns verwundert an. Erst vor einigen Wochen versicherten sie uns beim Umzug zu helfen. Als Gegenleistung versprachen wir ihnen unseren tollen Ofen den hier jeder Tuwa gerne besitzen möchte. Außerdem bekommen die Beiden den Ofenunterstand, Mogis Hundehütte und die Motorsäge. „Ich hoffe nicht das sie vergessen haben von uns bereits ein russisches Sägeblatt, einen Spannugsregler, eine Thermoshose, eine Brille und Kleinigkeiten wie Lampenfassung usw. erhalten zu haben. Alles in allem ein Wert von 622.000 Tugrik (378,- €). Das Leinen und den Ofen für das Ersatztipi benötigen sie für ihre Touristen die das Sommercamp aufsuchen. Selbst wenn wir in dem Tipi einige Wochen leben benötigen sie es für sich selbst. Es ist also kein großer Deal wenn sie uns darin ein paar Wochen leben lassen. Sie wissen doch das unsere Pferde schwach sind“, wundert sich Tanja. „Sie haben es halt versucht. Nach dem Motto wer nicht fragt der nichts bekommt. Denke wir sollten das nicht persönlich nehmen“, versuche ich unsere gemeinsamen Gemüter zu beruhigen.
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