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Mongolei/Tuwa Camp MONGOLEI EXPEDITION - Die Online-Tagebücher Jahr 2011

Urschrei

N 51°33'336'' E 099°15'341''
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    Tag: 211

    Sonnenaufgang:
    08:28

    Sonnenuntergang:
    18:45

    Gesamtkilometer:
    1281

    Bodenbeschaffenheit:
    Eis, Schnee

    Temperatur – Tag (Maximum):
    minus 15°C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    minus 28°C

    Temperatur – Nacht:
    minus 35°C

    Breitengrad:
    51°33’336“

    Längengrad:
    099°15’341“

    Maximale Höhe:
    1981 m über dem Meer

Die blasse Sonnenscheibe schiebt sich gerade über die graue Silhouette des uns umgebenden Gebirges. Ihre bleichen, noch kalten Strahlen, greifen in die unzähligen steifgefrorenen nackten Stämme der Lärchen. Da ich wegen der nächtlichen Aktion nicht wieder einschlafen konnte husche ich ins Freie, um Feuerholz von unserem Holzhaufen vor der Jurte zu holen. Ich entdecke den Knüppel im Schnee mit dem der nächtliche Störenfried offensichtlich gegen unsere Tür gehämmert hat. Sogleich lasse ich ihn in der Jurte verschwinden, um ihn dann zu verschüren.

Bibbernd vor Kälte schlichte ich mir nun die Holzscheite in die linke Armbeuge als ein furchtbarer, kaum zu beschreibender Schrei, die morgendliche Stille zerreißt. Vor Schreck lasse ich fast mein Holz wieder fallen. „Was war das denn?“, frage ich und richte mich langsam auf. Da wieder. „Uuuuuaaaaaiiiiihhhh! Ihhhhhjjjöööööhhh!“, brüllt es als würde gleich ein Urgetier der Vorzeit durch den bleichen Wald preschen, um mich mit Haut und Haaren zu verschlingen. Ich lausche, um den entsetzlichen Urlaut zu analysieren. Da, da ist er wieder. Er kommt zweifelsohne aus Saintsetsegs Tipi. Es ist der Schrei eines Mannes, eines schwer betrunkenen Mannes. In ihm liegt Schmerz, Verzweiflung, Leid und Wahnsinn. Noch nie habe ich einen Menschen so grauslich brüllen hören. Offensichtlich das Resultat von enormen Wodkakonsum.

Schnell bringe ich mein Holz in die Jurte und werfe es in die dafür vorgesehene Blechwanne. Dann vernehme ich Stimmen. Ich öffne die Jurtentür und spitze nach draußen. Gamba kommt gerade aus seiner Blockhütte getorkelt. Er stützt seine Frau Purvee die sich nicht auf den Beinen halten kann. Der Schamane bringt sie vor die Hütte und wankt zurück während Purvee in sich zusammensackt und wie ein Häufchen Elend auf dem eisig kalten Schnee liegenbleibt. Fassungslos beobachte ich die Szene. Dann höre und sehe ich wie sie sich übergibt. Danach rührt sie sich nicht mehr. Ein klassischer Fall wie man sich schwere Erfrierungen holen oder sogar erfrieren kann. Gebannt halte ich die Jurtentür einen Spalt offen und beobachte weiterhin Purvee. Ein eisiger Luftzug bläst durch den Türspalt in mein Gesicht. „Noch fünf Minuten, dann muss ihr zur Hilfe eilen“, flüstere ich. Plötzlich zuckt eine Regung durch den bisher bewegungslosen, auf dem Schnee kauernden, Stoffbündel. Purvee scheint ihre gesamte Kraft zu mobilisieren und robbt auf allen Vieren in Richtung Blockhaus. Mit bloßen Händen krabbelt sie über den festgetretenen Schnee. Sie erreicht die Treppe der Hütte und schaffte es irgendwie sie zu erklimmen. Erleichtert stöhne ich auf als sie im Inneren der sicheren Behausung verschwindet und die Holztür mit einem plumpen Laut in den Rahmen fällt. Lautes Gezeter und Geschrei dringt nun durch die dicken Balken an meine Ohren. Vielleicht macht sie Gambar eine Szene? Wenn es so ist kann ich sie verstehen. Er hatte seine Frau wie einen überflüssigen Ballast einfach vor der Hütte abgeladen. Und das bei minus 28 °C.

Schnell entfache ich ein Feuer in unserem Kanonenofen. Als das Feuer brennt begebe ich mich nochmal ins Freie, um den Aschebehälter auszuleeren. Das Gekeife ist noch immer zu hören aber die furchtbaren Urschreie sind Gott sei Dank verstummt. Ich nutze die frühe Stunde, um alles was man als Knüppel verwenden kann, um gegen unsere Tür zu schlagen, aufzusammeln und zu Kleinholz zu zerhacken. Dann gehe ich wieder in unsere Behausung und verriegele die Tür mit der Schürzange.

Als Tanja aufwacht ist es bereits warm in unserem Zelt. Wir unterhalten uns über die nächtlichen Geschehnisse und sehen es jetzt bei Tageslicht nicht mehr so bedrohlich. „Ich werde die Tür noch ein wenig präparieren. Das wird ein Aufbrechen noch mehr erschweren. Ansonsten sperren wir sie bei Dämmerung ab und verhalten uns ruhig“, überlege ich. „Du hast Recht. Eine Abreise nach Tsagaan Nuur wäre ein übereilter Entschluss. Wir werden die restlichen Feiertage bestimmt ohne weiteren Zwischenfälle überstehen“, meint sie optimistisch.

Am Nachmittag ruft Tsaya auf unserem Handy an. „Ich bekomme alle acht Stunden eine Antibiotikumspritze. So wie es aussieht müssen wir noch drei Tage bleiben.“ „Schade, dass ihr nicht hier sein könnt aber es ist wichtig das du dich richtig auskurierst bevor du wieder in die Taiga kommst“, antwortet Tanja. „Wie sieht es im Camp aus? Trinken die Männer recht viel?“ „Ja sie trinken und feiern mehr oder weniger ohne Unterbrechung“, erzählt Tanja und da es keinen Sinn ergibt Tsaya zusätzlich zu beunruhigen erwähnt sich nichts von dem nächtlichen Zwischenfall. „Haltet euch von ihnen fern. Verstehst du?“, warnt Tsaya erneut. „Machen wir so gut es geht.“ „Und schießt keine Fotos. Es könnte sonst sein, dass einer der Männer euch die Kamera aus den Händen reißt und zerstört.“ „Ja, wir werden nicht fotografieren“, antwortet Tanja. „Ist unser Haus okay? War jemand drin?“ „Ja es war jemand im Haus. Die Tür stand offen. Ich habe die Hunde, die es sich auf euren Betten bequem gemacht haben, wieder hinausgeworfen.“ „Haben sie etwas gestohlen?“, fragt Tsaya jetzt etwas aufgeregt. „Ich weiß es nicht. „Na ja, wird schon nichts fehlen“, meint sie, wünscht uns eine schöne Zeit und beendet das Gespräch.

Am Abend verriegeln wir wieder die von mir verstärkte Tür mit der Schürzange. „Wir sollten alle Kameras in den Aluboxen verstauen“, schlägt Tanja vor. „Warum?“ „Na wenn heute Nacht einer der Männer in die Jurte eindringt können wir fliehen. Das heißt wir lassen für diesen Moment alles zurück und er kann nichts zerstören. Ich denke das ist besser als sich mit dem Menschen herum zu ärgern.“ „Hm, klingt ein bisschen unrealistisch.“ „Wieso?“ „Na, du musst erst mal an dem Menschen vorbeikommen wenn er sich durch die kleine Tür drängt,“ gebe ich zu bedenken. „Egal, ich würde mich besser fühlen wenn die Kameras sicher verstaut sind“, erwidert sie, worauf wir alles von Wert in die Aluboxen sperren.

Während draußen das Fest im vollen Gange ist und lautes Gegröle aus den verschiedenen Tipis in den Nachthimmel der Taiga schallt, liegen wir hellwach auf unseren Wandan. Das bedrohende Gefühl der letzten Nacht wabert erneut durch unsere Filzbehausung. „Ob es nur Einbildung ist?“, geht es mir durch den Kopf. „Hast du das Pfeffergas griffbereit?“, frage ich Tanja. „Habe ich“, flüstert sie leise. „Heute wird bestimmt keiner kommen“, versuche ich ein wenig Zuversicht in die Dunkelheit zu streuen.

Wir freuen uns über Kommentare!

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