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Mongolei/Tuwa Camp MONGOLEI EXPEDITION - Die Online-Tagebücher Jahr 2011

Mongolischer Neujahrstag

N 51°33'336'' E 099°15'341''
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    Tag: 212

    Sonnenaufgang:
    08:26

    Sonnenuntergang:
    18:47

    Gesamtkilometer:
    1281

    Bodenbeschaffenheit:
    Eis, Schnee

    Temperatur – Tag (Maximum):
    minus 5°C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    minus 15°C

    Temperatur – Nacht:
    minus 29°C

    Breitengrad:
    51°33’336“

    Längengrad:
    099°15’341“

    Maximale Höhe:
    1981 m über dem Meer

Die Nacht ist ohne weitere Zwischenfälle verlaufen und der heutige Morgen ist ruhig. Es ist 8:26 Uhr als ich unsere Jurte verlasse und wie es der mongolische Brauch verlangt den Neujahrstag mit offenen Armen begrüße. Ich stelle mich vor unsere Jurte, wende mein Gesicht in Richtung Osten und strecke meine Arme der aufgehenden Sonne entgegen. Dabei wünsche ich uns Gesundheit und einen glücklichen Reiseverlauf. Da Tsaya und Ultsan noch immer in Tsagaan Nuur sind ist es vor ihrer Blockhütte ruhig. Aber auch vor Gambas Blockhaus und einigen Tipis sehe ich keine Tuwa den Neujahrstag begrüßen. Wahrscheinlich schlafen sie ihren Rausch aus, denke ich mir, hole wie jeden Morgen Feuerholz vom Holzhaufen und ziehe mich wieder in unsere Behausung zurück.

Während des Frühstücks fragen wir uns ob wir die Tuwafamilien besuchen sollen. „Da der Brauch vorschreibt jeden Gast ein Geschenk überreichen zu müssen, fühle ich mich bei dem Gedanken nicht wohl, plötzlich in ihrem Tipi aufzutauchen“, sagt Tanja. „Hm, ich glaube die Menschen würden es eher als Beleidigung auffassen wenn wir ihnen an solch einem wichtigen Tag keine Wertschätzung entgegenbringen. Das können wir nur mit einem Besuch zeigen. Alles andere wäre ein Fehler“, überlege ich. „Wahrscheinlich hast du Recht“, sagt Tanja zögerlich. „Abgesehen davon hat Tsaya uns erklärt dem Gastgeber einen Geldschein übergeben zu müssen. Damit gleicht sich das Geschenk aus. Und wenn die Menschen uns danach einen Gegenbesuch abstatten, erhalten sie ein Geschenk von uns. Demnach ist auf jeden Fall der Ausgleich geschaffen. Also kein Problem.“ „Du hast mich überzeugt. Wen sollen wir als erstes aufsuchen? Gamba?“ „Genau. Er ist mit der älteste Mann im Camp“, antworte ich. Kaum haben wir uns entschlossen die Mitbewohner des Camps zu besuchen poltern zwei in Feestagsdeel gekleidete junge Mädchen in unsere Jurte. „Sain bajtsgaana uu!“, („Guten Tag“) begrüßen sie uns fröhlich kichernd und setzen sich auf die kleinen Klapphocker. „Wollt ihr ein Brot mit Nougatcreme?“, fragt Tanja die für eventuelle Besucher schon einen Teller voll hergerichtet hat. „Oh ja!“, schnattern die beiden gackernd. „So hier habt ihr noch eine Tasse Milchtee“, meint Tanja fürsorglich den Mädchen je eine Schale davon reichend. „Hi, hi, hi,“, antworten sie keck, einen Schluck davon nehmend, und in das leckere Brot beißend. Bevor die aufgedrehten Mädchen ihr Brot gegessen haben bekommen sie von Tanja je eine schöne Haarspange geschenkt. Dann stürmen noch immer lachend aus der Jurte. Kaum ist die Tür in den Holzrahmen gekracht kommt auch schon der sechsjährige Erkhenbayar in unser Heim gefallen. Höflich begrüßt er uns nach der Festtagssitte indem er mit nach oben gerichteten Handflächen unter meine Arme fasst. Auch er bekommt ein leckeres Nougatcremebrot, eine Schale Milchtee und eine kleine Komikfigur.

Kurz nach 12:00 Uhr mittags stehen wir vor Gambas Blockhaus und manchen uns mit einem Ruf bemerkbar. Dann öffnen wir die Tür und treten in die Hütte. „Ah, schön euch zu sehen!“, ruft Purvee und fordert uns freundlich lachend auf Platz zu nehmen. Bevor wir ihrer Aufforderung nachkommen begrüßen wir Gamba indem wir ihn ein Geldschein überreichen. Der zolgokh (Grußformel) entsprechend wünschen wir ihm Glück, Gesundheit und ein langes Leben in Wohlstand und Zufriedenheit. Erfreut über unsere Wünsche, die im übrigen mit den Wünschen für unser Neujahr vergleichbar sind, streckt er seine Arme aus. Obwohl ich einige Monate älter bin als Gamba greife ich mit nach oben gerichteten Handflächen unter seine Arme, um ihn zu stützen. Dabei beuge ich mich zum Bruderkuss nach vorne und rieche der Sitte entsprechend an seiner rechten und dann an seiner linken Wange. Gamba schnuppert indes an meinen Wangen. Alsdann ist das Ritual vollendet. Jetzt schreite ich zu Purvee, um alle zu wiederholen. „Komm her. Ich möchte dir auch gratulieren“, grölt Nyam Dalai, der angeschlagen auf dem Boden kauert. Wie ein getroffener Kegel taumelt er in die Höhe, greift mit nach oben gerichteten Handflächen unter meine Arme und schnuppert an meinen Wangen. Sein Atem riecht nach Wodka und die Begrüßung fühlt sich eher so an als hätte er mir mit seiner feuchten Zunge über die Backe geschleckt. „Komm trink ein Gläschen mit mir“, lallt er und reicht mir einen kleinen Becher. Da eine Ablehnung einer schweren Beleidigung gleichkommt schütte ich den in der Speiseröhre brennenden billigen Fusel in meinen Mund und schreite weiter um Tso in gehabter Weise zu begrüßen. Auch er hat bereits zu dieser Stunde seine Leber in puren Alkohol getaucht. Der ansonsten scheue Mann lacht ausgelassen und reicht mir ebenfalls das kleine Trinkgefäß. Ich trinke einen Schluck und gebe es mich bedankend zurück. Auch Tanja wird zum Trinken aufgefordert. Sie setzt das Gläschen an ihre Lippen, tut so als würde sie schlucken und reicht es nahezu genauso voll zurück. Da sie eine Frau ist wird ihre Geste wohlwollend akzeptiert.

„Setzt euch doch“, fordert Purvee uns erneut auf. „Bairlalaa“, („Danke“) antworten wir und lassen uns auf einer Holzpritsche nieder. Purvee rückt ein kleines schemelartiges Tischchen vor uns und stellt eine große Thermoskanne, gefüllt mit gesalzenen Milchtee darauf. Dazu einen Topf mit Bonbons, allerlei Keksen und Würfelzucker. Kaum haben wir uns eine Tasse Tee mit der gewöhnungsbedürftigen sauer schmeckenden Rentiermilch eingeschenkt, bietet sie uns eine Zigarette an. Obwohl wir Nichtraucher sind greifen wir zu und stecken uns den Klimmstengel hinters Ohr. Ablehnen wäre unhöflich. „Amttaj“, („schmackhaft“) loben wir den Tee und das Gebäck. Nur eine Minute später richtet unsere Gastgeberin einen weiteren Topf mit frisch gekochten Buuz (mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen) auf unserem Tischchen zurecht. „Ide, ide“ („essen, essen“) verstehen wir. Bei den Mongolen sowie bei den Tuwa gilt es als Garantie für ein glückliches Leben im neuen Jahr den Bauch bis an die Grenze gefüllt zu haben. Auch ist es für sie von elementarer Wichtigkeit jeden Gast soviel wie nur möglich anbieten zu können. Das soll Wohlstand, Gesundheit und Reichtum bringen. Aber nicht nur Völlerei bis zum erbrechen ist angesagt sondern auch der übermäßige Konsum von Wodka. So sitzen wir da und vertilgen unter der fröhlichen Anfeuerung von Purvee, einen Buuz nach dem anderen, während Gamba unaufhörlich den Wodka kreisen lässt. Im Hintergrund läuft der von mir reparierte Fernseher. Mongolische Sängerinnen und Sänger geben ihr Bestes, um den Tag in ein feierliches Gewand zu kleiden. „Komm schieß ein Foto von mir!“, ruft Nyam Dalai, greift die Wodkaflasche und versucht sich wankend in Position zu bringen. „Der wird den heutigen Abend nicht erleben“, meint Tanja. Nyam Dalai bringt es fertig eine aufrechte Sitzposition einzunehmen, grinst frohlockend in die Kamera und stürzt ein weiteres Becherchen hinter die Kiemen. Dann bricht er wieder zusammen.

Purvee hat sich beim Herrichten des Blockhauses für die Feierlichkeit richtig ins Zeug gelegt. Schon vor Tagen begann sie damit alle Decken und Überzüge zu waschen. Eine aufwendige Sache, da das Wasser dafür erst aus dem zusammengesuchten Schnee geschmolzen werden muss. Alle Kissen sind auf den Holzpritschen säuberlich gestapelt. Über den niedrigen Haupttisch, vor dem Fernseher, hat sie eine blumengemusterte Tischdecke gezogen. Darauf ragt der mit Süßzeug und Würfelzucker geschmückte, siebenstöckige Neujahrsbrotturm in die Höhe, den jeder Haushalt benötigt. Vergleichbar vielleicht mit unserem Weihnachtsbaum. „Das ist für dich Denis“, sagt Purvee mir ein billiges, chinesisches Duftwasser reichend. „Oh vielen Dank“, freue ich mich, während Tanja ein Paar Kindersocken geschenkt bekommt. „Wie es der Brauch verlangt werden wir jetzt unsere nächsten Verwandten besuchen. Wollt ihr uns begleiten?“, fragt Purvee. „Aber gerne“, antworten wir erfreut, da wir somit der Gefahr entgehen einen Verhaltensfehler zu begehen.

Um 13:00 Uhr laufen wir zu Buyantogtohs Tipi Nummer sechs. Die Schwester des Schamanen empfängt uns ebenfalls freudig. Gamba, Purvee, ihr Sohn Sansar, Tso, Saintsetseg und wir begrüßen sie wie es der Brauch erwartet. Jeder der Besucher reicht der Gastgeberin einen Geldschein. Meist zwischen 500 und 1.000 Tugrik (0,28 € und 0,57 €). Dann bietet uns Buyantogtoh einen Platz auf den dicht über dem Fußboden gelegten Holzbrettern an, die als Schlafstellen dienen. Kaum sitzen wir, reicht die Gastgeberin eine Schale mit Keksen und anderen Süßigkeiten wie Bonbons und Würfelzucker herum. Obwohl wir bereits satt sind greifen wir höflich zu. Mit einer Art Weihrauch, den die Tuwa in der Taiga finden, segnet der Schamane indes den Bereich, der den Geistern und Göttern bestimmt ist. Er schwenkt das qualmende, wohl riechende Gesträuch, vor einem großen Bündel voller weißer, blauer und grüner Stoffstreifen. Diese hängen über einer Schnur, die zwischen vier dünnen Baumstämmen, welche als Zeltstangen dienen, aufgehängt sind. Direkt vor dem Platz der Götter und Geister steht das niedrige Tischchen auf dem sich das Neujahrsbrot türmt. Wie auch bei Purvee ist der Festtagstisch neben dem Neujahrsbrot mit Keksen, Bonbons und Boortsog (in Öl gebratene Teigbällchen) gedeckt.

Während die Gäste sich angeregt unterhalten, Milchtee trinken und Würfelzucker und Kekse essen, holt Buyantogtoh gefrorene Buuz vom Hochstand neben dem Tipi. In ihren halb mit Wasser gefüllten Wok, stellt sie einen metallenen Becher, worauf sie ein löchriges, rundes Blech setzt. Darauf bereitet sie die Buuz und hebt den Wok in das Loch der Ofenplatte. Als das Wasser zu kochen beginnt werden die Buuz vom aufsteigenden Dampf gegart. Nach 20 Minuten sind die Teigtaschen fertig. Die Schwester des Schamanen nimmt die bauchige Pfanne nun von der Herdplatte, verschließt das Ofenloch mit der Abdeckplatte und legt die Festtagsbuuz in eine Schale. Sogleich reicht sie ihre Leckerbissen herum. Jeder greift zu als hätte er vorher noch nichts gegessen. Schnell haben sich die Gäste die restlichen Holräume ihrer Bäuche zugeschlichtet als auch schon eine Flasche Wodka geöffnet wird. Gamba segnet sie, indem er wie immer wenn eine Flasche geköpft wird, seinen rechten Ringfinger in den hochprozentigen Alkohol tippt, um ihn dann in alle vier Himmelsrichtungen zu schnippen. Jetzt, nachdem die Naturgeister ihren Teil wieder abbekommen haben, reicht er mir das Gläschen. „Hubaaa“, fordert er mich auf das Zeug auf ex in mich heineinzukippen. „Wenn ich weiterhin soviel trinke bin ich nicht mehr in der Lage eure anderen Verwandten zu besuchen“, versuche ich mich aus der Affäre zu ziehen. „Egal. Heute ist Tsagaan Saar. Da musst du trinken. Zumindest den Einen noch“, lacht er und fordert mich erneut auf das Becherchen zu leeren. Gezwungenermaßen schütte ich das furchtbare Gebraü in meinen Rachen. „So ist es gut“, lacht er, füllt das Schnappsgläschen erneut, um es an Saintsetseg weiterzugeben, die neben mir sitzt. Es dauert nicht lange bis die Flasche leer ist. Erleichtert schnaufe ich auf als auch schon eine weitere von Gamba gesegnet wird. „Das schaffe ich nicht“, sage ich zu Tanja, die meist mit einem Nippen davonkommt. „Ich weiß auch nicht warum sie gerade dich in den Fokus genommen haben“, antwortet sie. „Ich schon. Sie wollen meine Trinkfestigkeit testen und sehen wie ich zu taumeln und torkeln beginne“, antworte ich kleinlaut als mir auch schon wieder das Gläschen gereicht wird. Nur 20 Minuten später haben wir, also insgesamt acht Menschen, die zweite Flasche Wodka geleert.

Bevor wir gehen reicht die Gastgeberin jedem Anwesenden das obligatorische Geschenk. Tanja und ich bekommen je eine Seife. Die Familienmitglieder erhalten meist ein T-Shirt. Wie es die Höflichkeit erfordert bedanken sie sich indem sie das Geschenk an ihre Stirn drücken. Dann lassen sie es oberhalb des Gürtels in ihren Deel verschwinden. Nachdem alle Buuz gegessen sind und der Wodka vernichtet wurde, laufen wir weiter, um die Stammesälteste im Tipi fünf aufzusuchen. Vorher aber bindet Buyantogtoh ihren Hund an einen Baunstamm. Alle Hunde des Camps müssen an diesem hohen Feiertag angebunden sein, da sie ansonsten in die Tipis dringen würden, um sich an den Neujahrstürmen und Buuz zu laben.

Puntsel ist extra für das Fest vor ein paar Tagen aus Tsagaan Nuur gekommen und lebt jetzt alleine in ihrem kleinen Zelt. Die 77 Jährige empfängt uns in ausgelassener Stimmung. „Kommt herein! Kommt herein!“, ruft sie und bietet uns in dem kleinen Zelt einen Platz auf den niedrigen Holzbrettern an. „Wie sollen wir denn da alle hineinpassen?“, frage ich. Tanja zuckt mit den Schultern. „Hier ist noch Platz! Komm her Denis! Setze dich neben mich!“, ruft Gamba. „Oh nein“, flüstere ich unhörbar, da ich weiß warum er mich neben sich haben möchte. Wie ein armes Würstchen lasse ich mich zwischen den Menschen nieder. Da die Holzbretter nach hinten abfallen habe ich große Mühe aufrecht zu sitzen. Schon nach wenigen Minuten geht mir diese Stellung in den Rücken. Bewegen ist nahezu aussichtslos. Krampfhaft umklammere ich mit den Armen meine Knie, um auf diese Weise einigermaßen gerade sitzen zu können. Puntsel verteilt die obligatorischen Kekse und den Milchtee. Tanja hat es mit ihrem Sitzplatz am besten getroffen. Sie hockt neben der Gastgeberin. Sozusagen auf dem Ehrenplatz mir gegenüber. Kaum sind die Kekse herumgereicht, von denen natürlich jeder isst als hätte er den ganzen Tag noch nichts bekommen, reicht sie uns Zigaretten. Wieder nehmen wir eine und stecken sie erneut hinter unsere Ohren, während die anderen kräftig zu rauchen beginnen.

Auch hier segnet der Schamane die heilige Ecke der Geister mit Weihrauch, so das ein dichter Rauchnebel durch das kleine Zelt wabert. Puntsel, die offensichtlich schon vor uns andere Gäste bewirtete und deshalb schon etwas beschwipst ist, setzt die Buuz auf den Ofen. Damit sie schnell gar werden schiebt sie ein paar Holzscheite in das gefräßige Öfelchen. Die Hitze, die das Ding jetzt abwirft, kann einer Sauna ernsthafte Konkurrenz bereiten. Während ich das Gefühl habe in diesem dunklen Zelt fast zu ersticken und mein Rücken immer lautere Schmerzsignale sendet, geraten die Feiernden in Hochstimmung. Die nun heißen Buuz werden in gehabter Form herumgereicht und wie soll es anders sein, jeder nimmt davon als wäre er am verhungern. „Unglaublich was die Menschen hier essen können“, sage ich zu Tanja. „Ha, ha, ha“, ist ihre ausgelassenen Antwort. „Du hast auf deiner bequemen Seite gut Lachen“, meine ich, denn inzwischen fühle ich mich wie eine Sardine aus der gerade der letzte Tropfen Öl gepresst wird. „Hubaaa!“ ertönt es neben mir und das Gläschen wandert unter meine Nase. Pflichtbewusst nehme ich es entgegen, nippe daran und gebe es an den Chefausschenker zurück. „Ügüj, ügüj (Nein, nein) . Du musst es austrinken“, befiehlt Gamba. „Aber du hast doch vorhin gesagt ich brauche nicht mehr soviel trinken“, erinnere ich ihn freundlich. „Ich meinte du brauchst nicht mehr soviel auf das Tsagaan Saar zu trinken. Aber jetzt musst du auf die Gastgeberin trinken“, erklärt er. Alle Augen wenden sich plötzlich mir zu. Jeder möchte sehen ob ich auf Puntsel trinke. „Hubaaa!“, rufe ich und stürze mir das Teufelszeug in den Rachen. Es brennt in der Kehle wie Feuer, dann schlägt es auf den sich zusammenziehenden Magenboden auf. Die Anwesenden lachen zufrieden und der Becher kreist weiter. Die alte Puntsel pfeift sich ungeniert ein Stamperl nach dem anderen hinter die Kehle und lässt ihr gutturales Lachen ertönen. Die agile alte Dame hat sechs Kinder großgezogen. Das ist schon eine beachtliche Leistung. Aber was noch außergewöhnlicher ist, sie hat sie von sechs verschiedenen Männern. Nach erzählungen der Tuwa war Puntsel einst eine sehr hübsche Frau, hat in ihren jungen Jahren als Sängerin in Ulan Bator gearbeitet und das Leben und die Männer geliebt. Nun, das Leben scheint sie noch immer zu lieben und wer weiß wie sie es mit den Männern hält? „Aaahhh!“ Entfährt es ihrer Kehle als wieder ein Wodkaströmchen hindurchgeflossen ist.

Nachdem die Wodkaflasche leer ist wickelt Gamba einen Geldschein darum und gibt sie an unsere Gastgeberin zurück. Da ich diese Geste schon bei Buyantogtoh beobachtet habe ordne ich sie dem Brauch zu. Puntsel lacht laut auf als sie die Flasche entgegennimmt und sie neben sich auf den Boden legt. „Gott sei Dank“, stöhne ich. Verwundert bemerke ich ein listiges Funkeln in ihren Augen. Schnell greift sie unter den Altar und zaubert eine neue Wodkaflasche hervor. Allgemeines Gelächter ertönt. Der Chefausschenker nimmt sich der wichtigen Aufgabe an sie zu öffnen und zu segnen. Wie immer bekommen die Götter und Naturgeister, die mittlerweile ebenfalls sturzbetrunken sein müssen, ihren Teil ab. Es dauert nicht lange als der Fusel zu mir wandert. Unterdessen lässt mir schon sein Geruch die Haare zu Berge stehen. „Hubaaa!“, fordert mich Gamba auf. Ich lasse mir Zeit, setze das Gläschen an die Lippen und wieder ab. Durch den enormen Alkoholkonsum ist die Festgemeinschaft nicht mehr so aufmerksam. Als ich mich unbeobachtet fühle, kippe ich das Zeug hinter dem Rücken von Saintsetseg zwischen zwei Holzbretter der Schlafstelle. Dann setze ich schnell das Glas an die Lippen und tue so als hätte ich es ex in den Rachen gekippt. „Aaaahhh!“, pruste ich laut das Behältnis absetzend. Ich ernte heftigen Applaus, Glückwünsche, Gratulationen und einen anerkennenden Blick der Gastgeberin. Auf diese Weise schaffe ich es das eine oder andere Mal dem Gesöff zu entgehen. Natürlich hoffe ich das Puntsel heute Nacht nicht den Wodkaduft verspürt der zwischen den Planken ihres Bettes in das Tipi dünstet. Dann bekommen die Anwesenden ihre Geschenke. Diesmal erhalten Tanja und ich ein paar Socken. Gamba steckt sich sein T-Shirt in den Deel. Auch die Anderen lassen ihre Geschenke in ihrem Deel verschwinden.

Alsdann die obligatorischen zwei Wodkaflaschen vernichtet sind, machen wir uns alle zusammen auf, um das Tipi Nummer drei von Darimaa und Ovogdorj aufzusuchen. Ovogdorj ist während der Feiertage bei den Rentieren. Er möchte sehen wie es den Hirschen geht und ob der Schutzzaun, den die Männer vor einiger Zeit errichtet haben, noch intakt ist. Wir haben gehört, dass seine Bauchspeicheldrüse entzündet ist und er deswegen nicht mehr soviel trinken kann. Dies könnte der Grund sein warum er während der Festtage nicht im Camp verweilt. Darimaa entschuldigt also die Abwesenheit ihres Mannes.

Kaum haben wir uns auf den mit Zudecken belegten Holzpritschen niedergelassen, kommt Suren in die Urtz. Da sie eine arme Frau ist und einen schweren, offensichtlich nutzlosen Alkoholiker als Sohn hat, entgeht sie der Verlegenheit Geschenke verteilen zu müssen, indem sie die jeweiligen Familien besucht. Auf unser Gefühl hörend begrüßen wir sie dem Ritual entsprechend und reichen ihr einen Geldschein. Sie erwidert unsere Wilkommenheißung indem sie an unseren Wangen schnuppert und sich bedankt. Auch Gamba, Puntsel, Saintsetseg, Tso und die anderen heißen sie auf diese Weise wilkommen und reichen ihr einen Geldschein. Ohne das ein Wort gewechselt wurde erspart der Clan dadurch der alten Suren die Peinlkichkeit als arm zu gelten. Vor allem ist ihr auf diese Weise trotzdem Wohlstand, Gesundheit und Glück für dieses Jahr vergönnt.

Als Gastgeberin lässt sich Darimaa nichts nachsagen und bewirtet uns nach allen Regeln des Rituals. Indessen sitze ich neben der alten Puntsel die mich unentwegt mit ihrem heißeren und rauen Lachen beglückt. „Ich trinke wie ein Mann und du wie eine Frau. Hiiii, hi, hi, hi, hi“, lacht sie recht dreckig. Alle Anwesenden empfinden diese Aussage ebenfalls äußerst witzig und fallen in ihr Gelächter ein. Um nicht dumm dazusitzen lache ich mit. „Hubaaaa!“, ertönt der Ruf den ich mein Leben nicht mehr vergessen werde als das Schnapsglas in meine Gesichtsfeld gereicht wird. „Hubaaaa!“, rufe ich und trinke es in einem Zug hinunter. Applaus. Ich nicke belustigt und dankbar. Dann erhebe ich mich, verlasse das Tipi und spucke das Teufelszeug in den Schnee. Da wo der in meinen Hamsterbacken gespeicherte Wodka in das Weiß trifft, entsteht Augenblicklich ein kleines kreisrundes Loch. Kein Wunder bei dem 38 % Alkoholgehalt. Grinsend betrete ich wieder die Urtz und setze mich auf meinen zugewiesenen Platz neben der Clanältesten.

„Uuuaaahhh! Wo seid ihr denn? Ooohhhuuu!“, lallt und grölt es plötzlich vor dem Zelt. „Wer ist denn das?“, fragt Tanja. „Na wer schon. Nyam Dalai“, antworte ich. Nyam Dalai ist Surens Adoptivsohn, der seit vielen Tagen sternhagelvoll ist. Wankend versucht er seinen Körper durch die kleine Öffnung des Tipis zu bringen. Allerdings ohne Erfolg. Nach mehreren Anläufen bricht er davor einfach zusammen und bleibt im kalten Schnee liegen. Keiner der Zeltinsassen scheint es zu kümmern ob da jemand erfriert oder nicht. Ganz im Gegenteil geht die Feier so weiter als wäre niemals jemand vor der Tür kollabiert. „Hubaaa!“, ruft Gamba mir das Becherchen reichend. Meinen Trick anwendend leere ich, in einem unbeobachteten Moment, den Inhalt hinter Puntels Rücken zwischen die Ritze zweier Bretter. Dann führe ich das Glas schnell an meine Lippen und stürze mir den imaginären Inhalt in den Rachen. „Sain“, lobt mich der Schamane als Nyam Dalai wieder zum Leben erwacht. Nach den Geräuschen zu urteilen scheint sich der Mann unter äußerster Anstrengung aufzurichten. Dann fällt er gegen das Zelt. Erneut rappelt er sich auf. Endlich bringt er es fertig die raue Zeltbahn des Eingangs zu öffnen und seinen Körper hindurchzumanövrieren. Kaum fällt des Türleinen wieder zu bricht erneut zusammen. Mit unkontrollierten Bewegungen liegt er auf dem Boden und sabbert vor sich hin. „Hier trink einen Wodka“, meint Gamba und reicht dem Halbbewusstlosen das Gläschen. Staunend beobachte ich wie er es fertigbringt die Flüssigkeit in seinen Mund zu schütten. Dann läuft ihm der Speichel aus den Mundwinkeln. Es dauert nicht lange und das nächste Wodkaglas verschwindet in seinem Rachen, während die Feier seinen Lauf nimmt. Gebannt beobachte ich den auf dem Boden liegenden, wimmernden Menschen. Sein Zustand ist erbärmlich, ja ich würde sagen bedrohlich. Langsam mache ich mir Sorgen um sein Leben. Mir ist es schleierhaft wie ein Mensch solch ungeure Mengen an starkem Alkohol vertragen kann. Ein normaler Mann wäre längst mausetot. Als Sansar ihm wieder einen Wodka anbietet reagiert er nur noch mit Grunzlauten. Dann schüttelt ihn Sansar leicht an der Schulter. Nyam Dalia öfffnet die Augen. Sein Blick ist gebrochen. Er versucht nach dem Wodkabecher zu greifen. Seine Feinmotorik hat mittlerweile aber völlig versagt und er bringt es nicht mehr fertig den Becher an seinen Mund zu führen. Der durchsichtige Inhalt schwabt auf seine Jacke.

Bevor die erste Flasche leer ist wird nun die obligatorische zweite Flasche geöffnet. Um den Inhalt so schnell als nur möglich daraus zu entfernen hilft nun Puntsel beim Ausschenken. Natürlich nicht ohne kräftig mitzutrinken. Das Kampftrinken geht solange bis kein Tropfen mehr in beiden Flaschen ist. Nach meiner Hochrechnung müsste jeder Mann nun mindestens eine gesamte Flasche indus haben. Die Frauen, Tanja und ich entschieden weniger. Obwohl es hier eine Ausnahme gibt: Die alte Puntsel. Ihre Leber scheint aus Stahl zu sein. Irgendwie ist diese lebenslustige Frau nicht von dieser Welt. Seit wir sie in ihrem Tipi aufgesucht haben hat sie vielleicht sieben oder acht Zigaretten geraucht und wenn mich nicht alles täuscht eine Flasche von dem Teufelszeug alleine in sich hineingeschüttet. „Komm trink Denis!“, fordert sie mich auf das letzte Gläschen zu vernichten. „Ich lasse einer Frau immer den Vortritt“, sage ich, worauf alle lachen und sie den Inhalt leert. Mit stolzem, leicht verklärten Blick sieht sie mich an. „Ich trinke wie ein Mann…“ „Und ich wie ein Weib“, vervollständige ich ihren Satz. „Hi, hi, hi“, lacht sie und die gesamte Gemeinschaft.

Plötzlich bekommt Gamba eine SMS. Unterdessen haben wir uns daran gewöhnt, dass die letzten Rentiernomaden dieser Erde Handys besitzen. Ein Anblick der nicht in die Taiga passt aber der Fortschritt, ob gut oder schlecht, hält seit einigen Jahren in die entlegensten Winkel dieser Erde Einzug. „Schlechte Nachrichten?“, frage ich, weil eine tiefe Falte seine Stirn furcht. „Tijmee Muu“, („Ja schlecht“) sagt er. „Was ist denn geschehen?“, frage ich vorsichtig als ich eine Träne in seinem Augenwinkel entdecke. „Mein bester Freund ist gestorben. Er war Schamane und mein Lehrer.“ „Oh das tut mir Leid“, antworte ich mitfühlend. „Ist in Ordnung Denis“, sagt er mich etwas gequält anlächelnd. (Wenig später erfahren wir, dass der alte Schamane sich während der Feierlichkeiten in Tsagaan Nuur tot getrunken hat.)

Verblüfft bemerke ich wie eine Regung durch Nyam Dalais Körper fährt. Dann rappelt er sich unter unverständlichen gemurmelten Worten hoch, steht tatsächlich auf zwei Beinen und schwankt wie ein Seiltänzer aus dem Tipi. Draußen vernehme ich seine im Schnee knirschenden, sich entfernenden, Schritte. „Unglaublich was der Mann verträgt“, murmle ich. Darimaa reicht nun jedem ihrer Gäste Geschenke. Diesmal bekommen Tanja und ich ein Kartenspiel, während Gamba wieder ein T-Shirt in seinen Deel stopft. „Mit Shirts hat er für dieses Jahr wohl ausgesorgt“, stelle ich zu Tanja geneigt fest. Bevor wir gehen lobt mich Gamba für meine Trinkfestigkeit. „Oh danke aber wenn hier jemand viel verträgt dann bist das du“, gebe ich das offensichtlich gut gemeinte Kompliment zurück. „Oh nein. Ich schwanke schon während du noch immer gerade läufst“, entgegnet er. Ich lächle wissend, froh nicht entdeckt worden zu sein wie das eine oder andere Becherchen zwischen den Holzbrettern und im Schnee verschwand.

Nachdem wir Darimaas Tipi verlassen wanken die meisten zu ihrem Heim. „Heute Abend seid ihr recht herzlich bei uns willkommen“, lädt uns Purvee und Gamba ein. „Bairlalaa!“, bedanken wir uns. Kaum sind wir wieder in unserer Jurte macht sich Tanja daran für Galgai und Henbe, den Hunden von Tsaya und Ultsan, eine kräftige Mahlzeit aus Mehl und etwas Fleisch zu kochen. „An diesem Tag gebt ihr ihnen bitte soviel sie fressen können. Am Tsagaan Saar ist es wichtig auch die Tiere überreichlich zu füttern“, sagte Tsaya. Die beiden Hunde und auch unser Mogi wissen gar nicht wie ihnen geschieht. Sie fressen und fressen bis sie fast platzen.

Um 20:00 Uhr grölt es wieder unangenehm durchs Camp. Mittlerweile wissen wir wem diese Stimme gehört. Nyam Dalai läuft noch immer von Tipi zu Tipi, um seinen Wodkalevel aufrechtzuerhalten. „Ich glaube es ist besser wenn wir auch heute Nacht wieder unsere Tür verriegeln“, meint Tanja. „Glaube ich auch“, antworte ich und schiebe die schwere Schürzange zwischen den Türgriff und Rahmen.

Um 21:00 Uhr liegen wir auf dem Wandang und genießen den klaren Sternenhimmel, welchen wir durch die Dachkrone der Jurte beobachten. „Das größte Problem der Tuwa ist der Wodka“, sage ich nachdenklich. „Sieht so aus“, meint Tanja. „Die Problematik ist die Werbung die dieses Teufelszeug verklorifiziert. Sie nutzen selbst Dschingsikhans Namen als Wodkamarke, um so viel wie nur möglich davon zu verkaufen. Ehrlich gesagt ist das eine echte Sauerei. Noch dazu kommt die Mystifizierung dieses Getränks. Um so mehr du verträgst desto stärker gilt man in der mongolischen Gesellschaft. Das ist purer Schwachsinn. Denn das einzige was das Getränk verursacht ist Abhängigkeit mit daraus resultierender Krankheit und dem zwangsweise folgenden Tod.

Die Tuwa hier draußen besitzen wenig Perspektiven. Genauso wie viele Mongolen in den Dörfern. Der einzige Zeitvertreib ist nun mal dieser billige Fusel. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Katastrophe. Ich gebe nicht den Menschen die Schuld, sondern dem Brauch, der Werbung und auch der Regierung, die nichts dagegen unternimmt. Wenn ich daran denke wie die Väter vor ihren Söhnen prahlen, wie viel man von diesem Zeug vertragen kann und wenn man sieht wie diese Männer dann ihre komplette Würde verlieren, wenn sie in ihrem eigenen Erbrochenen liegen, könnte ich mir die Haare raufen. Es ist ein echter Teufelskreislauf. Das Schlimmste sind die fatalen Folgen. Diese Menschen ruinieren ihre Gesundheit. Ihre Leber geht kaputt. Ihre Bauchspeiseldrüse stellt die Funktion ein. Sie leiden unter Bluthochdruck und vielen anderen Folgeerscheinungen. Wenn ich nur wüsste was man dagegen unternehmen könnte?“ „So wie es aussieht ist der Alkoholkunsum bei den Tuwa schlimm aber du darfst nicht vergessen, dass sie während der Festtage mehr trinken als sonst. Abgesehen davon ist der Alkoholismus eine weltweite Herausforderung. Das hat nicht nur mit den Tuwa, den Mongolen, den Sibirien oder irgend einem anderen Volk zu tun. Selbst in Deutschand wird viel getrunken. Dort allerdings verstecken die Menschen sich in ihren Häusern. Nur selten torkeln sie auf den Straßen herum“, meint Tanja. „Hm, du hast Recht. Ich glaube wenn man etwas dagegen unternehmen will wäre es so als möchte man den Schnee in den Bergen kontrollieren“, antworte ich resigniert auf die Sterne blickend.

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