Sturz
N 52°03'56.4'' E 106°56'29.9''Tag: 75
Sonnenaufgang:
06:59 Uhr
Sonnenuntergang:
20:47 Uhr
Luftlinie:
82.95 Km
Tageskilometer:
97.15 Km
Gesamtkilometer:
13541.6 Km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt – schlecht
Temperatur – Tag (Maximum):
25 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
15 °C
Temperatur – Nacht:
4 °C
Breitengrad:
52°03’56.4“
Längengrad:
106°56’29.9“
Maximale Höhe:
590 m über dem Meer
Maximale Tiefe:
450 m über dem Meer
Aufbruchzeit:
11:30 Uhr
Ankunftszeit:
20:00 Uhr
Durchschnittsgeschwindigkeit:
14,83 Km/h
“Schau was du mit meinem Boden gemacht hast!”, schimpft die Vermieterin am Morgen. Tanja ignoriert die Vorwürfe und trägt weiter die Ortliebtaschen nach draußen. “Was hat sie denn?”, möchte ich wissen die Taschen an das Rad klickend. “Der Anhänger hat zwei kleine Abdrücke in ihrem alten Kunststoffboden hinterlassen.” “So wie es aussieht möchte sie uns das Wechselgeld von gestern nicht geben”, vermute ich kopfschüttelnd.
Bei bestem Wetter lassen wir die Bruchbude der geldgierigen Vermieterin ohne unser Wechselgeld hinter uns und überqueren wieder viele Höhenzüge. An einer Raststätte füllen wir unsere Wasservorräte auf. Drei mit Rucksäcken beladene Radfahrer lassen ebenfalls ihre Bikes auf den Parkplatz des Straßencafes rollen. Es sind junge Christen die auf der Strecke von Baikalsk bis Ulan-Ude an alle Interessierten Werbezettel ihrer Kirche verteilen. “Und was macht ihr in Ulan-Ude?”, frage ich. “Wir besuchen dort unseren Priester und die Kirche”, berichten sie freundlich. Nach einem kurzen Plausch wünschen wir uns gegenseitig viel Glück, dann trennen sich unsere Wege wieder. Die Berge weichen schon seit geraumer Zeit langsam zurück. Die Gipfel werden flacher und das Radfahren leichter. Wir kommen gut voran und es sieht in der Tat so aus als würden wir morgen Ulan-Ude erreichen. Wir genießen die Landschaft, die von alten Handelsrouten durchzogen war. Sie hat etwas Liebliches und strahlt Frieden und Ruhe aus. Heute ist es nur noch schwer vorstellbar, dass diese Region häufig von plündernden mongolischen Stämmen heimgesucht wurde. In dem sich vor uns ausbreitendem fruchtbaren Tal wird Feldanbau betrieben. Kein Wunder das sich hier schon vor hunderten von Jahren die ersten burjatischen Familien ansiedelten und schon damals halbsesshaft in Holzjurten lebten. Fischfang und der frühe Handel mit China und der nahen Mongolei verhalf ihnen zu bescheidenem Wohlstand. Wir befinden uns nun im Delta des Flusses Selenga. Die späte Nachmittagssonne wärmt uns und leichter Wind bläst uns entgegen. Nie hätten wir gedacht in diesem Teil Sibiriens noch Ende August mit solch milden Temperaturen verwöhnt zu werden. Der Baikal ist schon seit Stunden nicht mehr zu sehen. Um kurz zu verschnaufen bleiben wir stehen und blicken über ausgedehnte Wälder hinter denen sich jetzt der Vater aller Seen versteckt. “Ob wir ihn jemals wieder sehen?”, frage ich etwas melancholisch. “Könnte schon sein”, höre ich Tanjas hoffnungsvolle Stimme. Dann treten wir unsere Böcke weiter durch den spätsommerlichen Tag.
An einem der vielen Gebirgsbäche weist ein Warnschild daraufhin das sein Wasser ungenießbar ist. “Kommt wahrscheinlich von der nahen Stadt Selenginsk. Dort gibt es noch ein Zellulosewerk welches die schöne Gegend hier und den Fluss Selenga versaut”, meine ich. “An der Abbiegung kannst du doch mal fragen ob es in dem Selenginsk eine Unterkunft gibt”, schlägt Tanja vor. “Okay”, sage ich und bremse meinen Roadtrain. Als wieder ein Auto vorbeifährt hebe ich die Hand, um es zu stoppen. Tatsächlich hält der Fahrer an. Mit dem rechten Fuß noch in der Pedalschlaufe, trete ich mich mit dem Linken von der Straße ab, um den Autofahrer zu erreichen. Weil ich dabei in eine Kurve lenke bleibt meine linke Hacke unter der Deichsel meines Trailers hängen. In Sekundenbruchteilen ist der Fuß dort verkeilt und durch die Vorwärtsfahrt reißt es mich regelrecht aus den Sattel. Ich spüre nur noch wie es mir dabei das rechte Knie verdreht, meine Hüfte und dann die Schulter auf den harten Asphalt knallen. Mein Hals wird beim Aufschlag derart überdehnt, dass es darin mehrfach laut und schrecklich kracht. “So ist es also wenn man sich das Genick bricht”, ist der erste Gedankenblitz. Von Adrenalin und Schock getrieben springe ich sofort wieder auf. “Denis! Oh Gott! Hast du dir weg getan?”, höre ich aus weiter Ferne Tanjas Stimme in mein Gehirn eindringen. Etwas verwirrt stehe ich da und freue mich meine Arme und Beine noch bewegen zu können. “Also wenn etwas gebrochen ist kann es nicht fatal sein”, ist der nächste Gedanke. Augenblicklich stelle ich mein Rad auf und schiebe es von der Straße. “Geht’s dir gut?”, fragt Tanja besorgt. “Glaube schon. Es hat nur schrecklich in meinem Hals gekracht.” “Na dann ist er wieder eingerenkt”, meint sie. “Nach dem Geräusch zu urteilen dürfte das dann für die nächsten zehn Jahre ausreichen”, versuche ich zu scherzen und frage den jungen Autofahrer nach der Gastiniza. “Ja die gibt es”, antwortet er über meinen unverhofften Sturz ebenfalls überrascht. “Was hast du denn am Knie? Tut das weh?”, fragt Tanja erneut auf eine blutende Schürfwunde deutend. “Nicht sehr. Im Moment beunruhigen mich ehe die Schmerzen im Nacken.” “Ist bestimmt nichts geschehen”, antwortet sie wie so oft zuversichtlich. Da ich aber weiß, dass sich Halswirbelverletzungen erst nach Tagen zeigen können, bin ich mir im Augenblick nicht sicher. Dann steigen wir wieder in die Sättel und fahren ins Zentrum von Selenginsk. Auf dem Weg dorthin beginnt sich auch mein Knie zu melden. “Ohne Zweifel steht mein Organismus unter Schock. Nur was sollen wir tun? Einen Arzt aufsuchen? Wo? Hier in diesem kleinen Städtchen? Was soll der schon tun? Wenn er etwas diagnostizieren kann dann nur wenn er meinen Hals röntgt. Nur so kann man feststellen ob etwas an den Wirbeln gebrochen ist. Oder nicht? Wer weiß ob es hier überhaupt einen Röntgenapparat gibt? Man oh man, so ein lächerlicher unsinniger Sturz und schon bin ich schwer angeschlagen. Und mein Knie? Ob ich mir ein Band gerissen habe? Vielleicht nur angerissen? Oder nur geprellt? So ein scheiß. Hoffentlich haben meine Halswirbel nichts abbekommen”, schießen mir die Gedanken unaufhörlich durchs Gehirn, während wir das armselige Zentrum dieses Örtchens erreichen. “Dort ist die Gastiniza”, deutet eine Frau, an einer Bushaltestelle, auf einen uns vertraut hässlichen Plattenbau. “Ich checke den Laden mal aus”, meine ich und humple davon. “Die Gastiniza ist schon lange nicht mehr in Betrieb”, frustriert mich eine Passantin. Am liebsten würde ich jetzt laut losheulen. Ich sehne mich nach einem Bett und Ruhe. Einen Ort an dem ich meine Wunden lecken kann, jedoch fordert die Augenblickliche Situation, dass ich meine Zähne zusammenbeiße. Noch stärker humpelnd als vorher laufe ich zu Tanja zurück. “Nicht mehr in Betrieb”, sage ich demoralisiert. “Und jetzt?” “Wir müssen wieder raus und einen Campplatz suchen”, antworte ich und hieve meinen Körper wieder über den Rahmen. Am Ortsausgang sucht Tanja ein Lebensmittelgeschäft auf, um Wasser zu kaufen. Ich warte draußen und bewache die Räder. “Moschna fotografirowat?”, (“Darf ich fotografieren?”) fragen mich ein paar Jugendliche die vor dem Laden angetrunken herumlungern. “Moschna”, (“Dürft ihr”) antworte ich. Sie lachen ausgelassen und fragen mich woher wir kommen und wohin wir gehen. Obwohl ich nach knapp 90 Tageskilometern und meinem Sturz kaum noch Energie verspüre den Jungs zu antworten, versuche ich gelassen zu bleiben. Sie können ja nichts für meinen geknickten Gemütszustand.
Wieder an der Kreuzung des Geschehens angelangt lassen wir Selenginsk hinter uns. Für die Schönheit der Natur habe ich zu diesem Zeitpunkt keine Augen mehr. Nur einen Campplatz finden, das ist jetzt wichtig. Doch es ist zum verzweifeln. Hunderte von Kilometern gibt es maximal alle paar Stunden ein Dörfchen und hier im Selengadelta reiht sich eine kleine Siedlung an die andere. Unbeobachtet ein Zelt aufschlagen ist also nicht drin. Noch dazu ist heute Samstagabend. Viele der Autofahrer, oder zumindest die Mitfahrer, sind angetrunken. “Ahaha! Adkuda? Kuda?” (“Woher kommt ihr? Wohin geht die Reise?”), fragen und grölen sie. “Lass dir deine Hand schütteln”, meint ein anderer mir mit seiner Pranke die meine wie im Schraubstock zusammenzupressen.
Noch zehn Kilometer müssen wir unsere Rösser vorantreiben, bis sich endlich eine Baumreihe auftut, hinter der wir uns verstecken dürfen. Hinkend und mit verdrehter Kopfhaltung schiebe ich mein riese und müller hinter die Büsche. Kaum liegt die Straße hinter uns überfallen uns ganze Heere von Moskitos. “Aaahhh! Dachte die Stechmückenzeit ist vorbei!”, ruft Tanja wild um sich wedelnd. “Hier ist ein guter Platz”, entscheide ich und stelle mein Rad auf den Ständer. Sofort entladen wir unsere Böcke, bauen das Zelt auf, werfen unsere Ortliebtaschen hinein, blasen die Isolationsmatten auf und ziehen eine grüne Tarnplane über die Räder. Erst dann schlüpfen wir ins kleine Vorzelt. “Möchtest du noch etwas essen?”, fragt Tanja, nach knapp 100 Radkilometern und der ganzen Aufregung, sichtlich erschöpft. “Ich weiß nicht. Mir ist eigentlich der Hunger vergangen”, antworte ich niedergeschlagen. “Morgen sieht die Welt wieder besser aus”, versucht Tanja ein paar tröstende Worte zu finden.