Friedhofwasser zum trinken
N 54°23'16.6'' E 080°44'10.0''Tag: 105
Sonnenaufgang:
06:48 Uhr
Sonnenuntergang:
20:24 Uhr
Luftlinie:
96.84 Km
Tageskilometer:
104.16 Km
Gesamtkilometer:
10179.40 Km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Temperatur – Tag (Maximum):
25 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
7 °C
Temperatur – Nacht:
7 °C
Breitengrad:
54°23’16.6“
Längengrad:
080°44’10.0“
Maximale Höhe:
99 m über dem Meer
Maximale Tiefe:
79 m über dem Meer
Aufbruchzeit:
09.20 Uhr
Ankunftszeit:
18.30 Uhr
Durchschnittsgeschwindigkeit:
17.52 Km/h
Wieder ist uns der Meister positiv gestimmt. Unsere Räder rollen über den relativ guten Asphalt. Auf der Suche nach Wasser folgen wir einer matschigen Piste in ein kleines Dorf. “Sieht wie ein Brunnen aus”, meint Tanja, auf das mit einem Lastwagenreifen eingefasste Erdloch deutend. “Ist das dort Trinkwasser?”, frage ich eine junge Frau hübsche die uns entgegenkommt. “Ja”, antwortet sie die Gartentür zu einem Häuschen öffnend. Verblüfft sehe ich ihr nach als sie in hohen Stöckelschuhen, hautengen schwarzen Jeans und gestreiften T-Shirt gekleidet, noch dazu topfrisiert, mit ihren Kinderwagen im Garten verschwindet. Wenn ich nicht wüsste mich in diesem Augenblick in einem armseligen sibirischen Dorf zu befinden, würde ich glauben eine Fata Morgana gesehen zu haben. Obwohl die Menschen teilweise sehr arm sind legen sie viel wert auf ihr Äußeres. Stöckelschuhe, moderne Kleider, gute Frisuren bei den Frauen und weiße Hemden und polierte Lackschuhe bei der männlichen Dorfbevölkerung ist im Osten keine Seltenheit. Trotzdem passt das Erscheinungsbild nicht zu dem Verfall und der Armut.
Wir lehnen unsere Räder an den Holzzaun, holen die Sourcewasserblase und füllen sie mit dem aus der Erde kommenden kalten, etwas trüben Nass. “Das Wasser ist nicht gut”, warnt mich plötzlich ein Mann der aus dem Garten kommt in dem soeben die junge Mutter verschwunden ist. “Warum?”, möchte ich wissen. “Nicht gut”, sagt er und deutet mit einer kreisenden Handbewegung auf seinen Bauch. “Kann man es nicht trinken?”, frage ich jetzt verunsichert. “Doch, doch aber nicht so gut”, meint er. Dann erscheint die junge Frau mit einem Fotoapparat. “Darf ich euch fotografieren?” fragt sie höflich. “Aber gerne”, antworten wir. “Dürfen wir dich fotografieren”, möchte nun Tanja im Gegenzug wissen. “Natürlich”, lacht die Sibirierin. Zur Sicherheit frage ich sie noch mal ob das Wasser genießbar ist. “Wir trinken es alle”, bestätigt sie erneut. Auch die Nachbarn, die ebenfalls unsere Anwesenheit bemerkt haben und uns über ihren Zaun beobachten, nicken die gute Qualität des Wassers ab. Nun zufrieden füllen wir alle unsere Trinksäcke und Flaschen.
“Ich war drei Jahre in Ostdeutschland in der Sowjetarmee stationiert”, beginnt mir der Mann unvermittelt zu erklären der uns vor dem Wasser gewarnt hatte. “Ach ja?”, antworte ich auf meine Arbeit konzentriert. “Ja, ich war Musiker. War eine schöne Zeit dort. Leider habe ich mir während eines Heimaturlaubes bei der Landarbeit alle Finger angeschnitten. Das war das Ende meiner Musikerkarriere. Die Wunden sind verheilt aber Musik konnte ich keine mehr spielen. Ich wurde von der Armee entlassen und lebe heute von einer kleinen Rente. Ohne meine Kartoffeln, Tomaten, Hühner und unserer Kuh wären wir mit dieser schäbigen Rente schon längst verhungert”, erklärt er mich traurig ansehend. Ich fühle seinen seelischen Schmerz. Seine Augen haften auf meiner modernen Radkleidung. Es ist kein Neid den der etwa 50 Jahre alte Mann ausstrahlt sondern nur Schwermut. Dann gesellt sich ein weiterer Dorfbewohner zu uns. Er ist Wolgadeutscher und spricht uns in einem kaum verständlichen deutschen Dialekt an. “Wo schlaft ihr nachts?”, möchte er wissen. “Im Zelt”, antworte ich. “Kommt doch heute Nacht zu mir. Ich lade euch ein”, sagt er mit einem hoffnungsvollem Aufflackern in den Augen. “Vielen Dank aber wir wollen heute noch mindestens 50 Kilometer hinter uns bringen”, antworte ich, worauf sich wieder Enttäuschung auf seinem Gesicht bemerkbar macht.
Nachdem wir unsere Wasservorräte aufgefüllt haben fällt Tanjas blick auf die andere Straßenseite. “Oh nein. Hast du den Friedhof gesehen?”, fragt sie. “Erschrocken bemerke ich die hinter einem Zaun verborgene Gräberanlage nur wenige Meter entfernt von uns. “Meinst du das Wasser ist wirklich genießbar?”, möchte Tanja wissen. “Wie tief ist der Brunnen?”, frage ich den Wolgadeutschen. “20 Meter”, beruhigt mich seine Antwort. “Und? Meinst du wir können das Wasser wirklich trinken?”, höre ich Tanja erneut fragen. Die Toten werden nicht tiefer als zwei Meter unter der Erde gebracht. Das Wasser ist mit Sicherheit in Ordnung”, beruhige ich sie
Wir verabschieden uns von den paar Menschen die sich mittlerweile um uns geschart haben und verlassen das Dorf. Nach 10 Minuten bekomme ich durch die körperliche Anstrengung Durst. Sofort muss ich an den Friedhof und die dort begrabenen Leichen denken. Kurzfristig wird mir übel und ich ignoriere meine trockene Kehle. Nach 20 Minuten wird das Durstgefühl fordernd. Ich ziehe an dem Trinkschlauch, stecke ihn in den Mund und nehme einen großen Schluck. Das Wasser schmeckt wie immer. “Oder?”, beginne ich zu zweifeln. “Hat es einen Beigeschmack? Nein. Tanja bringt mich ganz durcheinander mit ihren Fragen ob das Wasser genießbar ist oder nicht”, geht es mir durch den Kopf. Beim nächsten Schluck habe ich das Gefühl einer kurzen Übelkeit aber der immer währende Durst eines Radfahrers lässt mich mehr von dem Brunnenwasser trinken. “Ist schon seltsam wie übel einem die Einbildung mitspielen kann”, versuche ich mich zu beruhigen, doch das Bild des Begräbnisfeldes bleibt in meinen Gehirnwindungen haften.
An der ersten Raststätte, die wir am heutigen Radtag erreichen, möchte ich Wasser und Brot für unser Abendessen kaufen. “60,- Rubel”, (1,70 Euro) fordert die Ladenbesitzerin. “Was?”, erschrecke ich. “Sehr teuer ich weiß”, antwortet sie sich entschuldigend. Nachdem man hier für 5 Liter Wasser den abartigen Wucherpreis von 220,- Rubel (6,28 Euro) verlangt, verlasse ich mit leeren Händen das Geschäft. “Wir haben genügend zu essen. Ich bereite uns heute Abend leckere Nudeln mit Pinienkerne und Pesto Siciliano von Rapunzel”, tröstet mich Tanja. “Haben wir noch Pinienkerne?”, frage ich und spüre wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft. “Ja, eine Packung”, antwortet sie aufmunternd lächelnd.
Es ist nach 18:00 Uhr als wir vergeblich versuchen ein für uns geeignetes Camp zu finden. Entweder sind die Weizenfelder direkt bis zum Waldrand bepflanzt oder die Wälder sind zu licht um sich darin zu verstecken. Während Tanja die Räder hält mache ich mich zu Fuß auf, um einen Platz für die Nacht zu finden. Erst laufe ich an einem großen Birkenwald entlang. Innen das Zelt aufzuschlagen ist zu düster und zu feucht. Außerdem haben wir einen großen Respekt vor den Zecken die da ohne Ende hausen. Ich streife durch hüfthohes Gras bis ich einen Weg ausmache der in den Wald führt. Ihm folgend denke ich an Bären, die in den sibirischen Wäldern leben. Obwohl ich weiß, dass diese Region nicht von den größten Landraubtieren unserer Erde bewohnt wird, beschleicht mich ein unheimliches Gefühl. Im Augenwinkel sehe ich einen Raubvogel der sich mit mächtigen Flügelschlägen von einem Ast erhebt. Ich schrecke zusammen. “Was für ein Schisser du bist”, tadle ich mich. Dann wird es plötzlich heller und ich erreiche eine traumhaft schöne Lichtung. Abgeerntete Grasflächen tun sich auf die geradezu ideal für unser Lager erscheinen. Sofort eile ich zurück, um Tanja zu holen. “Du warst aber lange weg”, meint sie. “Ja, war nicht leicht einen Platz zu finden aber der Einsatz hat sich gelohnt. Es wird dir gefallen”, verspreche ich, worauf wir unsere Bikes durch das hohe Gras und den Birkenwald zu meinem ausgewählten Lagerplatz schieben.