Skip to content
Abbrechen
image description
Russland/Wolgograd

Wolgograd, ehemaliges Stalingrad

N 48°42'27.5'' E 044°30'48.8''

Weil wir heute wirklich aufbrechen kommt Vala etwas unter Zeitdruck. Sie kocht schon seit Stunden in ihrer Küche die sich in einem Schuppen außerhalb des Hauses befindet. Das Frühstück ist wieder opulent und wir genießen jeden Bissen. Dann möchte sie uns eingeweckte Marmelade, selbst gemachte gesüßte Kaffeemilch, eingemachtes Gemüse, Tomaten, zehn gekochte Eier, Speck, Rettich, Gurken, Kartoffeln, Suppenkraut, usw. weiter mitgeben. “Vielen, vielen Dank Vala, aber Denis kann das unmöglich alles in seinen Anhänger packen. Das ist einfach zu schwer”, erklärt Tanja. Vala blickt etwas enttäuscht. Dann unternimmt sie einen zweiten Versuch und spricht mit mir. Soweit es möglich ist stopfen wir meinen Anhänger wieder voll. Vala ist nicht richtig zufrieden. Wenn es nach ihr ginge müssten wir noch mehr Löcher und Schlitze im Anhänger mit ihren Gaben bepacken. “Ist ein guter Wind für euch”, verspricht Jurii auf die sich biegenden Bäume deutend. Heute bläst er aus Südosten. Tatsächlich wird er uns eher helfen als bremsen. Der Regen der vergangenen Nacht hat die Temperaturen wieder erwärmt. 15 Grad zeigt das Thermometer und verspricht somit einen nicht all zu kalten Tag. Wir verabschieden uns von unseren liebenswerten Gastgebern. Wir drücken und herzen uns. Jurii bekommt feuchte Augen. “Wir schreiben”, versprechen wir. Da die große Enkeltochter etwas deutsch spricht können wir davon ausgehen das unser Brief auch entziffert werden kann. Dann geht es los. Traurig sieht die kleine Menschengruppe hinter uns aus die uns lange hinterher winkt. Bis die Biegung der Dorfstraße uns ihren Blicken entzieht heben wir unsere Hand in den Himmel und winken ebenfalls. Dann sind wir wieder auf dem dunklen Asphaltstreifen in Richtung Großstadt unterwegs. Der Wind bläst uns leicht in den Rücken. Ohne all zu große Kraftanstrengung kommen wir gut voran. Auf der einsamen Straße hängen Tanja und ich getrennt von einander unseren Gedanken nach. Was für ein Aufenthalt. Was für freundliche, uneigennützige und großzügige Menschen wir wieder kennen lernen durften. Menschen die uns Fremde einfach aufgenommen haben und wie Fürsten bewirteten. Menschen die sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nie mehr sehen werden. Und trotzdem haben sie uns ihre Liebe und ihre Herzlichkeit geschenkt. Ohne dafür nur das Geringste als Gegenleistung zu erwarten. Ob solche gutmütigen, ehrlichen und warmherzige Wesen für das Gleichgewicht auf unserem Planeten sorgen? Dafür das Gut und Böse in der Balance bleibt? Ohne Zweifel haben wir auf unseren bisherigen Reisen gerade in dieser Richtung Fantastisches und bald Unglaubliches erlebt. Soviel Gutes. Entschieden mehr Gutes als Schlechtes. Im Verhältnis gesehen liegen die positiven Erlebnisse bei 99 Prozent. Das lässt doch hoffen. Das verspricht uns doch eine Chance, dass unser Planet vor allem seine menschlichen Bewohner überleben. Das wir Menschen es doch noch schaffen werden unseren Lebensraum nicht zu zerstören. Das wir zur Besinnung kommen. Inne halten und nachdenken. Auf jeden Fall geben uns solche Erlebnisse das Gefühl das es einen Sinn ergibt weiterzumachen. Weiter davon zu sprechen auf welchem wunderbaren Planeten wir leben und das er schützenswert ist. Weiterhin Bäume zu pflanzen. Unsere Grüne Ader wachsen zu lassen als kleiner Ausgleich zu den fatalen und katastrophalen Anholzungen.

Schon nach wenigen Kilometern werden wir von einem Autofahrer auf offener Straße gestoppt. “Wo kommt ihr her und wohin geht die Reise?”, will der Fahrer wissen. “Wollt ihr ein paar Weintrauben?” “Weintrauben?”, wiederhole ich zögerlich an meinen vollen Anhänger denkend. “Ja, Weintrauben. Komm Frau pack ein paar aus”, sagt er seiner Gattin die aus dem Wagen springt den Kofferraum öffnet und uns zwei Kilo leckere Trauben überreicht. “Eine sichere und gute Fahrt noch”, wünschen uns die Beiden und brausen davon. Mit etwas Geduld und Energie finde ich noch eine Lücke im Anhänger und lasse die süßen Trauben darin verschwinden. Dann fahren wir weiter.

Nach knapp 60 Kilometer legen wir eine Pause ein. Wir vespern am Straßenrand auf unserer blauen Plastikplane im Freien und frieren nicht. Wer hätte das Mitte Oktober in Russland gedacht? Nach Stalingrad soll es nur noch 40 Kilometer sein. Ein dunkler Gewitterhimmel veranlasst uns weiterzufahren. Wir erreichen den Randbereich der Millionenstadt. Einer Stadt die während des 2. Weltkrieges  als strategisch wichtiges Industriezentrum ein besonderes Ziel der deutschen Streitkräfte war. Nach schweren Luftangriffen begann die deutsche Armee am 20. August 1942 einen Bodenangriff auf die Stadt. Am 19. November 1942 und am 2. Februar 1943 unternahmen die sowjetischen Truppen eine erfolgreiche Gegenoffensive worauf die 6. Deutsche Armee kapitulierte und wodurch der deutsche Vormarsch in die Sowjetunion beendet wurde.

Wolgograd wurde bereits 1589 als Festung Zarizyn an der südöstlichen Grenze Russlands gegründet und wie viele Städte schon vor dem 2. Weltkrieg erobert. So zum Beispiel von kosakischen Rebellen: 1670 von Stenka Rasin und 1774 von Jemelyan Pugatschow. Mit der Ausdehnung des russischen Reiches im 19.Jahrhundert wurde Zarizyn zu einem wichtigen Hafen für den Handel von Waren stromabwärts. Zu Beginn der Russischen Revolution 1917 wurde die Stadt von den Bolschewiki eingenommen und während des darauf folgenden Bürgerkrieges wurde sie 1919 für drei Monate von weißrussischen Streitkräften besetzt.

Als wir die Stadt endlich erreichen ist von der ehemaligen völligen Zerstörung des 2. Weltkrieges nichts mehr zu sehen. Nachdem was ich gelesen habe begannen die Russen sofort nach Kriegsende mit ihrem Wiederaufbau. Mit komischen Gefühlen radeln wir nun durch die Metropole die sich über 80 Kilometer an der Wolga entlang erstreckt. “Noch 30 Kilometer bis zum Zentrum”, erklären uns ein paar Jugendliche als unser Tacho schon 80 Tageskilometer anzeigt. Wir stöhnen auf. Das ist nun der dritte Tag in Folge an dem wir über hundert Kilometer zurücklegen. Obwohl neben der serbischen, rumänischen, ukrainischen, russischen Flagge auch die Deutsche groß an meinem Anhänger im Fahrtwind flattert, ist der Empfang der hiesigen Bevölkerung umwerfend. “Hallo! Hallo! Gute Reise! Viel Glück! Viel Kraft! Fantastisch!”, rufen uns die Russen aus ihren Autos begeistert entgegen. Einige strecken die Faust mit der Handfläche nach vorne aus dem Fenster und lachen uns an. “Woher? Wohin? Unglaublich!”, rufen sie immer wieder das man meinen könnte ein lokaler Fernsehsender hätte über uns berichtet und uns als Helden dargestellt. Obwohl wir nach dem langen Tag müde sind motiviert uns diese umwerfende Freundlichkeit. Nicht zu vergessen das wir Deutsche dieses Volk während des 2. Weltkrieges einfach überfallen haben und ihnen unendliches Leid brachten.

Während meiner Nachforschungen bin ich auf folgenden Text gestoßen den Herbert F. Ziegler Professor für Geschichte an der Universität von Hawaii in Manoa verfasst hat. Hier ein kurzer Auszug:Laut den Statistiken vielen alleine 25 Millionen Russen dem 2. Weltkrieg zum Opfer. Die Ausmaße dieses Weltkonfliktes stellen alle bis dato geführten Kriege in den Schatten. Der 2. Weltkrieg war die größte Auseinandersetzung in der Menschheitsgeschichte. Etwa 1,7 Milliarden Menschen, fast ein drittel der Weltbevölkerung aus 61 Nationen, waren in Europa, Ostasien, Südostasien, Nordafrika und den pazifischen Inseln an den Kämpfen beteiligt, die zu Land, zu Wasser und in der Luft wüteten. 110 Millionen Menschen waren unter Waffen, davon über die Hälfte im Dienst der Sowjetunion, Deutschlands und der USA

Der 2. Weltkrieg hinterließ eine Spur der Vernichtung und Verwüstung, wie es sie in der Menschheitsgeschichte noch nie zuvor gegeben hatte. Weltweit schätzt man die Zahl der Toten auf ungefähr 60 Millionen, darunter sechs Millionen Juden. Er zerstörte unzählbare Besitztümer. Für eine ganze Generation von Männern und Frauen überall auf der Welt war der 2. Weltkrieg “der Krieg?.

Obwohl meine Konzentration sich auf den Berufsverkehr richten sollte denke ich über den Beitrag des Professors nach. Denke darüber nach welch Grauen und Alptraum diese Stadt wie viele andere Städte auch im 2. Weltkrieg erfahren hat. Wie schrecklich ungerecht es ist wenn von Macht besessene Politiker unschuldige Menschen ins Elend und Verderben gestürzt werden. Die mehrspurige Hauptstraße erhebt sich plötzlich. Erstreckt sich auf einen Hügel, nur um sich danach wieder zu senken. Links und rechst in den unzähligen mehrgeschossigen und hässlichen Wohnblöcken gehen die Lichter an. Meine Gedanken über den einstigen Krieg verfliegen. Unsere Kräfte werden wieder aufs Äußerste strapaziert. Treten, treten, den Radkranz unter uns immer kreisen lassend fahren wir in die Dämmerung. Leichter Regen setzt ein. Die Straße wird schmierig glatt. Autos schalten ihre Lichter ein. Abgase ziehen sich in unsere Lungen. “Wo ist die Gastiniza?”, fragen wir unsere übliche, sich bald tägliche wiederholende, Frage nach einer Bleibe. Einer Bleibe die uns Schutz vor dem Regen, der Nässe, der Kälte und der Nacht gewährt und jedes Mal von Neuen existentiell wichtig für uns ist. Wir durchfahren eine große dunkle Unterführung werden auf eine weite Prachtstraße gespuckt und befinden uns auf einmal im Zentrum der Stadt an der Wolga. Ein großes Hotel richtet sich vor uns auf. Hotel Wolgograd. “Und das soll die Gastiniza sein?”, frage ich Tanja etwas ungläubig. Bald ehrfürchtig vor dem stolzen Bau lehnen wir unsere Räder an eine seiner dicken Mauern. Ein Hotelportier in prächtiger Uniform und großer Schirmmütze sieht uns etwas abfällig an. Etwas verlegen stehe ich da und weiß nicht recht was ich tun soll. “Geh doch mal rein. Vielleicht ist es ja gar nicht so teuer wie es aussieht?”, motiviert mich Tanja. “Meinst du? Ich weiß nicht? Könnte glatt Energieverschwendung sein”, antworte ich. Mir einen Ruck gebend gehe ich, mit aufgepumpten Beinmuskeln, auf den Eingang zu. Der wichtig aussehende König der Pforte ignoriert mich völlig. Klar, was sucht hier schon ein Mensch in papageienbunter Radkleidung? Ich öffne selbst die schwere Tür und frage mich zum Empfang durch. Die Blicke einiger Gäste folgen mir. “Äh, haben sie ein Zimmer frei?”, frage ich. “Für wie lange?”, antwortet die hübsche junge Frau in perfektem Englisch. “Zwei Nächte, vielleicht aber auch drei”, antworte ich. “Die Zweibettzimmer sind ausgebucht aber sie können ein Dreibettzimmer haben. Sie müssen nur das dritte Bett mitbezahlen.” “Was kostet es?”, will ich wissen und bin eigentlich schon im Begriff zu gehen. “1.500 (? 43,-) Rubel die günstigste Kategorie”, Ich bin regelrecht verblüfft, denn man hat uns berichtet dass das Nachbarhotel 4.500 (? 120,-) Rubel für das günstigste Zimmer verlangt. “Für zwei Personen?” “Ja, aber ohne Frühstück”, höre ich worauf ich das Zimmer sofort nehme. Als ich in die kalte Dunkelheit nach draußen trete und Tanja die gute Neuigkeit mitteile freut sie sich sehr. Wieder haben wir mitten im Zentrum dieser Stadt eine finanzierbare und gute Bleibe gefunden. Nach 111 Tageskilometer ein besonderes Geschenk welches wir zu schätzen wissen.

Wir freuen uns über Kommentare!

This site is registered on wpml.org as a development site.