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Russland/Gusinoosersk Link zum Tagebuch TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 4

Windstärke sechs

N 51°17'16.9'' E 106°32'02.9''
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    Tag: 87

    Sonnenaufgang:
    07:19 Uhr

    Sonnenuntergang:
    20:22 Uhr

    Luftlinie:
    72.73 Km

    Tageskilometer:
    81.85 Km

    Gesamtkilometer:
    13773.62 Km

    Bodenbeschaffenheit:
    Asphalt / schlecht

    Temperatur – Tag (Maximum):
    15 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    10 °C

    Temperatur – Nacht:
    1 °C

    Breitengrad:
    51°17’16.9“

    Längengrad:
    106°32’02.9“

    Maximale Höhe:
    750 m über dem Meer

    Maximale Tiefe:
    480 m über dem Meer

    Aufbruchzeit:
    09.45 Uhr

    Ankunftszeit:
    18.15 Uhr

    Durchschnittsgeschwindigkeit:
    13,02 Km/h

Kaum sitzen wir im Sattel bläst uns der Meister mit 39 Km/h ins Gesicht. Wir kommen nur unter großer Kraftanstrengung voran. Bald schlimmer aber ist die Tatsache von erneut auftauchenden Bergen. Die Aussage des Portiers in Ulan-Ude war völlig falsch. Zum Teil nur schiebend bringen wir unsere riese und müller über die 800 Meter hohen Berge. Wegen der knappen Zeit bis zum Ende unseres Visums sind wir trotz allen Widrigkeiten gezwungen Strecke zu machen. Sibirien spielt eine Karte aus mit der wir zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gerechnet haben. Mein angeschlagenes Knie wimmert. Ich bin gezwungen den Schmerz zu ignorieren. Tanja schlägt sich seit geraumer Zeit mit einer schweren Erkältung herum. Auch sie fordert in diesem Moment ihrem Körper große Leistung ab. Gott sei Dank sind wir fit und besitzen eine gute Konstitution mit der wir einiges ausgleichen können. Die Landschaft ist noch immer wunderschön. Zeitweise geht es mit nur geringen Bodenerhebungen durch weite Täler, deren angrenzenden Höhenzüge nach wie vor von der ewigen Taiga bewachsen sind. Hier wird sie jedoch sichtbar von Waldbränden zurückgedrängt. Große, braune Schneisen ziehen sich wie böse, unheilbare Wunden über die Bergrücken. Der Anblick ist schmerzhaft und zeigt, dass auch die große Taiga mehr und mehr zurückgedrängt wird. Zurück bleiben baumlose Erhebungen die teilweise nur noch von Gras überzogen sind.

Fokussiert treten wir unsere Rösser gegen den Wind der uns wieder einmal gefunden hat. Das Phänomen Wind bleibt mir auch nach der langen Radstrecke von bald 14.000 Kilometern ein Rätsel. Warum stellt er sich fast immer gegen den Radfahrer? Ob er sie aus irgendeinem Grund nicht mag? Es gab Zeiten da habe ich ihn als den großen Lehrmeister gesehen. Ein Meister, der mich unterrichtete das Unabänderliche bedingungslos zu akzeptieren. Jedoch stelle ich jedes Mal wieder von neuem fest welch große Herausforderung es ist Geschehnisse und Naturelement zu akzeptieren die Kraft kosten und Schmerzen bereiten. Die genau dann auftreten wenn man sie nicht gebrauchen kann oder nicht mit ihnen gerechnet hat. Die Pläne durchkreuzen und uns Menschen zu Änderungen zwingen. “Lass es fließen”, hat mich Mutter Erde immer und immer wieder gelehrt. Und sie hat Recht damit, denn wenn ich den Meister akzeptiere, mich über die Berge nicht beschwere, wird es leichter. Dann verlieren sich die vermeintlichen Hindernisse und lösen sich im Nichts auf. Letztendlich machen wir selber den Berg zu einem Hindernis, denn der Berg bleibt ein Berg, wie auch immer wir ihn sehen. Es ist sogar schade einen solch schönen Berg mit dem Wort Hindernis zu betiteln, nur weil wir gerade in diesem Augenblick mit unseren kleinen Fahrrädern drüber müssen. Ich denke es wird Zeit sich auch mit den Bergen zu arrangieren. Auf ihren Gipfeln beschenken sie uns mit einer wunderbaren Aussicht und auf der anderen Seite mit einer berauschenden Abfahrt. Hurra! Das ist die Erkenntnis für alle Radfahrer. Wie einfach sie doch ist. Vor allem wenn man gerade von solch einem Rücken ins Tal brausen darf.

In meinen Gedanken über Berge, vermeintliche Hindernisse und den Meister versunken, bemerke ich im Augenwinkel wie ein Lada auf der gegenüberliegenden Straßenseite zum Wenden ansetzt. Ohne mich wahrzunehmen, zieht er auf meine Seite herüber, so dass ich dem Zusammenstoß nur mit einer heftigen Lenkbewegung ausweichen kann. Etwa 100 Meter vor mir steigt der Fahrer in die Bremsen, reißt die Tür auf und kann durch das rechzeitige Herausschwingen seiner Beine, gerade noch den Fall auf die Straße verhindern. Jetzt torkelt der Mann, völlig betrunken, auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort steht das Objekt seiner Begierde. Eine arme Bauersfrau preist einen Eimer voller Kartoffeln an, dessen Inhalt er offensichtlich kaufen möchte. Wir radeln vorbei. Nur wenige Kilometer weiter hat die Polizei die Straße abgeriegelt. Ein Kleintransporter, von dem kaum noch etwas zu erkennen ist, liegt auf dem Dach. Er ist auf kerzengerader Straße mit einem Minibus zusammengestoßen, von dessen Front ebenfalls nicht mehr viel zu sehen ist. Knirschend rollen unsere Reifen über die tausenden von Scherben, vorbei an dieser eben geschehenen Tragödie. Auf den letzten Kilometern Sibiriens häufigen sich plötzlich einige unschöne Szenen und Erlebnisse. Da falle ich wie aus dem Nichts einfach so mal schnell vom Rad. Tanja erlebt unerwartet die völlige Zerrüttung, Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit der Dorfbevölkerung. Wir begegnen entschieden mehr Betrunkenen und armseligen Kreaturen als vorher. Vor meinen Augen wird ein Jugendlicher malträtiert. Ein hilfloser Mensch wird von Kindern wie von eine Hundemeute angefallen. Wir werden bestohlen. Die Zeit um rechtzeitig die Grenze zu erreichen wird plötzlich knapp. Berge tauchen dort auf wo sie nicht sein sollten. Der Wind pfeift uns mit Stärke sechs entgegen. Schlimme Verkehrsunfälle erschrecken uns und zu guter Letzt schwächt uns in diesem Moment noch eine Erkältung. Wir müssen darauf achten unsere positive Welle der Energie nicht zu verlieren. Oder? Ist es etwas anderes? Sollen wir auch die andere Seite dieses wunderschönen aber auch harten Landes erkennen? Zumindest einen kleinen Auszug aus der Palette des Möglichen? Wer weiß? Wie soll ich die Geschehnisse interpretieren? Vielleicht ist es auch in diesen Fällen wichtig nicht zuviel Gewichtung hineinzulegen. Vielleicht ist es wichtig nur zu beobachten, unter keinen Umständen anfangen Dinge, Menschen, Kulturen, Länder zu be- oder verurteilen. Das wäre in der Tat ein großer Fehler. Wobei ich offen gestehen muss, dass mir genau das nicht immer leicht fällt.

Der starke Westwind treibt heftige Gewitterwolken heran. Noch zehn Kilometer bis zum Städtchen Gusinoosersk. Acht Stunden ist es her als wir die Langfingerunterkunft hinter uns gelassen haben. Wir sind geschafft und hundemüde. Ich fühle wie sich ein Gemütstief heranschleicht. “Du schaffst es. Lass dich nicht hängen. Dein Knie wird wieder und ihr kommt gut und ohne Schwierigkeiten in der Mongolei an. Halte noch etwas durch und ihr findet heute Abend eine brauchbare Unterkunft”, höre ich die wohltuenden Worte der Mutter Erde. In der Tat lassen wir um 18:00 Uhr, nach 81 Tageskilometern und neun Stunden nach dem Aufbruch, unsere weit gereisten Rösser in die hässliche Stadt Gusinoosersk rollen. “Zur Gastinza immer geradeaus”, ruft ein Mann ohne das wir ihn danach gefragt haben. Uns bedankend holpern wir weiter über die aufgerissene, völlig zerstörte Straße, zu einem der üblichen desolaten Plattenbauten. “Ja Zimmer haben wir”, sagt die Frau hinter ihrer Glasscheibe. Ich humple in den dritten Stock, um mir das Zimmer anzusehen. Die Dewuschka (Frau) muss mich falsch verstanden haben, da sich die Tür zu einem kleinen Einzelzimmer öffnet. “Ich brauche bitte ein Doppelzimmer”, sage ich, als ich wieder unten bin. Die Frau versteht und gibt mir einen anderen Schlüssel. Sie lächelt mich gütig an. Eine Katze sitzt ebenfalls hinter der Scheibe auf dem Tresen und wärmt sich an einem Kissen. Auch sie scheint mich freundlich anzusehen. Irgendwie kommt mir der Moment skurril vor, als würde ich durch eine wabernde Wand des Nebels blicken. “Die Müdigkeit”, geht es mir durch den Kopf. Da unsere Räder nicht durch die Fronttür passen sind wir gezwungen sie schon auf der Straße völlig zu entladen. Ständig kommen Menschen vorbei und sehen uns verwundert an. “Was die hier tun? Woher die kommen? Wie sie aussehen?”, scheinen sie zu denken. Es dauert nicht lange und wir werden angesprochen. “Was aus Deutschland? Und das mit dem Rad? Malazee”, (Fantastisch) sagt einer der jungen Männer mir die Hand schüttelnd. Tanja ist mittlerweile in der Gastiniza verschwunden, um zu fragen ob die Dewuschka (Frau) nicht doch die zugenagelte Flügeltür aufbekommt. “Wir dürfen unsere Räder durch den Hintereingang in die Gastiniza bringen”, tritt sie mit der erfreulichen Nachricht wieder auf den Gehsteig. Ich bin im Begriff unsere Räder unter der Hoteltreppe an ein Heizungsrohr zu ketten als es draußen zu regnen beginnt. “Puhh, gut dass wir heute nicht im Zelt schlafen müssen”, denke ich nun glücklich diesen Ort rechtzeitig erreicht zu haben. Mit dem schließen der knorrigen Holztür verwehre ich dem heulenden und kalten Wind den Zugang ins Haus. Unser Zimmer der staatlich geführten Gastiniza kostet nur 550,- Rubel (12,50 Euro). Wir haben die Möglichkeit uns heiß zu duschen und die Bettwäsche ist sauber. Wegen der enormen Anstrengung sind wir heute zu müde, um noch etwas zu essen. Schnell tippe ich noch die Daten des Tages in den Laptop und als ich unter die Bettdecke schlüpfe schläft Tanja schon tief und fest.

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