Wind, Regen und wunde Hintern
N 52°05'08.9'' E 050°51'35.2''Tag: 14
Sonnenaufgang:
05:19 Uhr
Sonnenuntergang:
21:50 Uhr
Luftlinie:
40.55 Km
Tageskilometer:
49.53 Km
Gesamtkilometer:
7041.45 Km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Temperatur – Tag (Maximum):
19 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
15 °C
Breitengrad:
52°05’08.9“
Längengrad:
050°51’35.2“
Maximale Höhe:
142 m über dem Meer
Maximale Tiefe:
90 m über dem Meer
Aufbruchzeit:
10:20 Uhr
Ankunftszeit:
15:10 Uhr
Durchschnittsgeschwindigkeit:
13.54 Km/h
Am heutigen Tag unserer Reise trifft uns Wind mit Stärke vier von der Seite. Der Windmesser zeigt Böen von 22 Stundenkilometer an. Jetzt spüren wir das schwere Gepäck gewaltig. Mein Hänger fühlt sich an als würde ich einen Anker ziehen. Ohne Zweifel sind dafür unsere Körper noch nicht trainiert. Immer wenn wir aus dem Windschatten der uns begleitenden Baumalleen fahren, weht es heftig. Natürlich ist es nicht mit dem ewigen Sturm vergleichbar der uns letztes Jahr bald 2.000 Kilometer zugesetzt hat. Trotzdem sind wir überrascht Anfang Juni schon wieder ähnlichen Wind zu spüren. “Ich dachte der Wind hatte etwas mit dem kommenden Winter zu tun? Jetzt sollte aber der Sommer beginnen und er ist schon wieder da!” “Ist bestimmt nur ein aufkommendes Gewitter”, entgegnet Tanja positiv denkend. “Gewitter!?” Tatsächlich beginnt es zu regnen. Die Temperatur fällt auf 15 Grad. Wir packen unsere Regenkleidung aus und strampeln weiter der letzten Gastiniza vor der Grenze entgegen. Nach einer Stunde beginnt heute schon mein Hintern zu schmerzen. Wegen den neuen Rädern haben wir auch neue Ledersättel von Brooks. Die sind wegen ihrer Härte anfänglich immer heikel aber nach ca. 1.000 Kilometer, so sagt man, haben sie sich dem Hintern angepasst. Im Augenblick fühlt es sich aber eher so an als würde sich mein Hintern dem Sattel anpassen und ich muss gestehen das ist ein Sch…-Gefühl. Die leichten Steigungen geben mir für heute den Rest. “Sind ja nur 5.000 Kilometer bis zum Baikalsee”, brummle ich mit einem Funken Ironie in der Stimme.
Nach drei Stunden Regen und großer Anstrengung müssten wir eigentlich völlig nass geschwitzt sein. Zumindest sind das unsere Erfahrungen der vergangenen Radkilometer von Deutschland bis hierher. Jedoch, siehe da, mein Körper ist unter der Regenjacke von Gore noch immer trocken. Die Membrane hält was sie verspricht und leidet die Feuchtigkeit nach außen ohne Nässe von außen nach innen zu lassen. Ein fantastisches Gefühl nicht nass radeln zu müssen und ein fantastisches Gefühl diesmal einen Radbekleidungs-Ausstatter zu haben der den höchsten Qualitätsansprüchen entspricht.
Plötzlich beginnt meine Kette bei jeder Umdrehung zu klacken. “So ein Mist!”, rufe ich erschrocken mit dem Schlimmsten rechnend. Ich halte sofort an, um die Kette und Ritzel zu untersuchen. “Und, was ist?”, möchte Tanja wissen. Ich entdecke einen kleinen Stein der sich in ein Ritzel der Kettenspannung verklemmt hat. “Nur gut, dass ich gleich angehalten habe. Der Stein hätte auf Dauer nicht gut getan”, meine ich und hebe meinen schmerzenden Hintern wieder auf den bösen Ledersattel. “Tut dir nicht der Pops weh?”, frage ich. “Ja, doch”, antwortet Tanja schnaufend. Durch den anhaltenden Regen ist auf einmal die Straße völlig verdreckt. Der Matsch wird durch unsere Reifen über die Ausrüstung geschleudert und es dauert nur wenige Minuten bis der Glanz unserer Super-Bikes und der schönen neuen Taschen verschwunden ist. “Schade eigentlich aber vor der Grenze vielleicht ganz gut”, denke ich.
Hin und her und Trostlosigkeit
Gegen 14:00 Uhr und nach 40 Kilometern erreichen wir den Ort Bolschaja Tschernigowka. Am Straßenrand entdecken wir das von Igor heiß empfohlene Restaurant Picknick. Wir fragen nach einer Gastiniza. Man schickt uns weiter aber wir finden kein Zeichen der Unterkunft. Wir kehren um und fragen am Restaurant. Keiner der herumstehenden Menschen weiß Bescheid. So wie es aussieht sind es Reisende die auf ihren Bus warten. Ich betrete das Straßenrestaurant und frage nach. Die Bedienungen schütteln den Kopf, doch eine schickt mich wieder in die Richtung aus der wir gekommen sind. Um Uns zu stärken essen wir erstmal einen unserer leckeren Rapunzel-Schokoriegel. Mit etwas mehr Energie machen wir uns wieder auf die Suche. Zwischenzeitlich kann ich kaum noch sitzen und bin schon nach den wenigen Tagen müde, für meinen Geschmack viel zu müde. Am Ende der Ortschaft fragen wir an einer Bushaltestelle eine Frau. “Ihr müsst ins Zentrum fahren”, sagt sie bestimmt. Wir radeln ins Zentrum. Links und rechts von uns befinden sich absolut baufällig Holzbaracken. Keiner der Holzzäune ist in takt. Die Trostlosigkeit und unendliche Armut der Gegend ist erschreckend. Bisher haben wir in Russland so etwas noch nicht gesehen. Vielleicht deshalb weil wir und jetzt weiter im Osten befinden oder weil diese Gegend nahe der Grenze zu Kasachstan liegt? Wer weiß? Ein kleines, wackliges Auto stottert an uns vorbei. Der Fahrer mit mongolischen Gesichtszügen hält an, reißt die Tür auf und fragt woher wir kommen. Er kann es nicht glauben. Gibt Laute der Überraschung von sich die wir bisher noch nie gehört haben. Er versteht das wir eine Unterkunft suchen und bietet uns an voraus zu fahren. Wir folgen ihm. Nach zwei Kilometern hält er an und deutet über den Dorfteich in die Richtung aus der wir gerade gekommen sind. “Dort trüben ist die Gastiniza”, sagt er. “Wie sollen wir denn da hinkommen?”, will ich wissen. “Na schiebt eure Motorräder über die Brücke”, meint er und zeigt auf große Steine die wie Inseln aus dem Wasser ragen. “Unmöglich. Selbst wenn wir unsere Böcke heile über den Teich bringen versinken wir auf der anderen Seite im Morast”, sage ich zu Tanja. “Also müssen wir wieder zurück?” “So wie es aussieht hat die Frau uns an der Bushaltestelle in die falsche Richtung geschickt”, antworte ich kleinlaut. Wir winken dem netten alten Mann in seinem kaputten Auto noch mal zu und kehren wieder um. Wieder an der Hauptstraße beginnt es zu blitzen. Dunkle, bedrohliche Wolken ziehen auf. Der Wind wird von Minute zu Minute stärker. Vor einem völlig fertigen, kastenähnlichen Haus, welches eher mit einer verlassenen Fabrikhalle zu vergleichen ist, halten wir an. “Nach der Richtung zu urteilen muss das die Gastiniza sein”, meine ich. “Niemals”, antwortet Tanja. “Lass uns fragen”, entgegne ich mein Bike in den Hof rollen lassend. Auf der Rückseite des Gebäudes sieht es nicht ganz so schlimm aus. Tatsächlich entdecken wir an einem der Fenster ein kleines Schild mit der Aufschrift Gastiniza. Uns fällt ein Stein vom Herzen. Ich betrete den Bau, um nach einem Zimmer zu fragen und bin überrascht. Innen ist es nahezu neu. Das Zimmer ist sehr sauber und eher mit einer kleinen Wohnung zu vergleichen. Schlaf- und Wohnzimmer mit neuen Möbeln und einem separaten Duschraum. Perfekt. Fantastisch!
Wir haben es gerade geschafft unsere Ausrüstung nach drinnen zu bringen als der Wind Stärke 8 erreicht und mit 67 Stundenkilometer ums Haus pfeift. 10 Kilometer sind wir hin und her gefahren, um diese Unterkunft zu finden und das wir noch vor dem Sturm ein Dach über den Kopf bekommen haben ist echtes Glück.
Nach einer wunderbaren heißen Dusche machen wir uns auf, um in das etwa 500 Meter entfernte Picknick zu gehen. Starke und kalte Windböen lassen uns laufen als wären wir angetrunken. Im Straßenrestaurant, das so aussieht wie viele andere die wir in Russland aufgesucht haben, finden wir einen Platz unter einem Flachbettbildschirm über den meist amerikanische Musikvideos flimmern. Am Ende des Raumes erfreuen wir uns eines guten Überblicks. Reisende sitzen an einfachen Tischen auf leicht gepolsterten Metallstühlen die sich links und rechts des länglichen, etwa 300 Quadratmeter großen Raumes befinden. In der Mitte ist es leer. Eine Frau putzt unaufhörlich den Schmutz weg, den Gäste vom matschigen Vorplatz hineintragen. An einer Theke gibt es Kühlschränke mit verschiedenen Biersorten. Wodka, Cognac, Champagner, Wein und alle anderen erdenklichen Spirituosen befinden sich in Regalen und sind käuflich zu erwerben. Aus einer Tür eilen die flinken Kellnerinnen und bringen den Gästen Gulasch, Schweinfleisch, Suppen, Bortsch, Kartoffelpüree und vor allem die heiß geliebten Pommes. Alles in der Mikrowelle erhitzt, damit der rastlose Reisende schnell bedient werden kann. Obwohl wir versuchen Mikrowellenessen strikt aus unserem Leben zu bannen ist das im Osten kaum möglich. Die Erfindung dieses ungesunden Essenserhitzers ist für die meisten Menschen auf der Welt ein Segen. Tanja und ich trauern der Zeit nach in der die Nahrung noch auf dem Feuer oder Ofen gewärmt wurde. Aber die Zeit hat sich geändert. Wir sind gespannt ob die Kasachen auch diese Elektronenschleuder nutzen, um ihre Nahrung zu töten.
Wir sind gerade dabei unseren Heißhunger zu befriedigen als Igor uns übers Handy anruft und absagt. “Wir können leider nicht kommen. Uns ist Arbeit dazwischen gekommen”, entschuldigt er sich. “Könnte damit zusammenhängen das du mit ihnen keinen Cognac trinken möchtest”, meint Tanja. “Könnte sein”, gebe ich ihr Recht.