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Russland/Charanzy Link zum Tagebuch TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 4

Wilder Osten

N 53°13'36.1'' E 107°24'47.1''
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    Tag: 51

    Sonnenaufgang:
    06:12 Uhr

    Sonnenuntergang:
    21:40 Uhr

    Luftlinie:
    23.86 Km

    Tageskilometer:
    28.99 Km

    Gesamtkilometer:
    12365.53 Km

    Bodenbeschaffenheit:
    Erdpiste / Bodenwellen

    Temperatur – Tag (Maximum):
    27 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    18 °C

    Temperatur – Nacht:
    7 °C

    Breitengrad:
    53°13’36.1“

    Längengrad:
    107°24’47.1“

    Maximale Höhe:
    625 m über dem Meer

    Maximale Tiefe:
    460 m über dem Meer

    Aufbruchzeit:
    12.10 Uhr

    Ankunftszeit:
    21.10 Uhr

    Durchschnittsgeschwindigkeit:
    8,67 Km/h

Nach einer wunderbaren und ruhigen Nacht entfachen wir gleich morgens unser Lagerfeuer, um heißes Wasser für unseren Tee zu kochen. Weil der See bald überall Trinkwasserqualität besitzt schöpfen wir unser Wasser direkt aus dem Baikal. Ein Grund dafür ist die dünne Besiedelung der Küsten. Nur 40 Dörfer und vier Städte befinden sich an den Ufern des Baikalsees. Bei seinem Umfang von 2125 Kilometern liegt also ein durchschnittlicher Abstand von 48 Kilometer zwischen den Siedlungen. Ein weiterer Grund für das saubere Wasser ist daraufhin zurückzuführen, das die meisten Städte sich an der Südspitze befinden und deren zum Teil sehr belastenden Abwässer durch das Bodenrelief und den Abfluss der Angara nicht bis hierher schwappen. Die Erklärung hierfür ist in der Tiefe des Sees zu finden. Die Wassermassen des Baikals sind durch drei verschieden tiefe Becken voneinander getrennt und jedes dieser Becken besitzt einen eigenen Strömungskreislauf. Obwohl die flachsten Stellen der Becken zwischen 100 und 300 Meter tief liegen gibt es kaum einen Wasseraustausch von einem zum anderen. Das heißt das schmutzigere, von der Industrie verseuchte Wasser des Südens, bleibt dort und wird durch die Angara abgeführt. Interessant ist auch das unterschiedliche Alter des Wassers. Im südlichen Becken liegt es bei ca. 66 Jahren, im Mittleren bei 132 Jahren und im Nördlichen erreicht sein Alter sogar 225 Jahre. Auch die durchschnittliche Kälte von 3,5 Grad ab 50 Meter Tiefe, sorgt für geringes Algenwachstum.

Die erfolgreichste Kläranlage des Wassers ist wahrscheinlich ein anderthalb Millimeter kleiner, sehr gefräßiger Flohkrebs, der Baikal-Epischura genannt wird. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen kommen auf einen Quadratkilometer Wasserschicht zuweilen bis zu drei Millionen dieser Tierchen vor die in der Lage sind, im Verlauf eines einzigen Jahres, die oberste Fünfzig-Meter-Wasserschicht (ca. 83 Kubikkilometer pro Tag) von kleinsten Algen und Bakterien zu befreien. Ein anderer kleiner Krebs, den die Einwohner Jur nennen, vertilgt alles Organische was die oberste Wasserschicht des heiligen Meeres verschmutzt. So fressen sie tote Fische, ertrunkene Insekten, aber auch Tiere die am Land leben und aus welchen Gründen auch immer im Wasser verendet sind. Ertrinkt zum Beispiel ein Schwimmer im See, so haben ihn nach bereits sieben Tagen die Selbstreinigungsprozesse völlig aufgefressen. Trotzdem sind die Abwässer der Cellulose- und Papierfabriken am Südufer des Baikals, dessen Teilbereiche von der UNESCO 1996 zum Weltnaturerbe erklärt wurden, eine ernst zunehmende Bedrohung für sein Gleichgewicht.

Während des Frühstücks kommt starker Wind auf der die Toilettenhäuser unserer Nachbarn einfach davon weht. Unbekümmert lassen die Camper es zu. In vielen Dingen des Lebens sind die Russen entschieden gelassener als wir Deutschen. Bei Windstärke sechs bauen wir unser Lager ab und machen uns auf in Richtung Chushir. Wir schieben unsere Räder über die Grassteppe zur Staubpiste, die sich weiter über die Hügel schlängelt. Der Wind bläst uns mit unverminderter Kraft aus dem Norden entgegen und lässt uns nur mit großer Mühe vorankommen. Obwohl wir ihn nicht bei seinem Namen nannten hat uns der Meister offensichtlich wieder ausgemacht, um uns den Tag zu erschweren.

Auf der Waschbrettpiste holpern wir einen Berg herunter. Die ersten Bäume tauchen auf. Feiner Sand überzieht plötzlich die Piste und zwingt uns zum Absteigen. Ab und an rattert ein Auto vorbei. Staub wird aufgewirbelt und lässt uns husten. Hundemüde schieben wir unsere Räder am von Hand gemalten kleinen Ortsschild von Chushir vorbei. Trostlose, verwitterte Bretterzäune und vom Zahn der Zeit gebeugte Holzhütten empfangen uns. Obwohl unsere Tachos gerade mal 23 Tageskilometer anzeigen zittern unsere Oberschenkel. Wir sind wortkarg und zur gleichen Zeit gespannt was uns hier erwartet. “Dort, nur 500 Meter weiter, gibt es einen Supermarkt”, zeigt uns ein Einwohner die Richtung in das staubige Nest. Wie im damaligen Wilden Westen zieht sich die graue, etwa 50 Meter breite Sandpiste, durch den armselig wirkenden Hauptort der Insel. Touristen mit großen Rucksäcken auf dem Rücken kommen uns ausgelassen fröhlich entgegen. Vor dem einfachen, kleinen Lebensmittelgeschäft, stehen junge Traveller. Sie lutschen Eiskrem und sprechen über eine geplante Inselwanderung. Fahrradfahrer rasen vorüber und verschwinden in einer Seitengasse. Ein Geländemotorrad donnert dröhnend über den Weg. Geschafft stehen wir am Pistenrand und beobachten das rege Treiben eines aufblühenden Touristenortes am Ende der Welt auf einer weit abgelegenen Insel mitten im größten Süßwassersee der Mutter Erde. “Hast du Hunger?”, frage ich Tanja. “Einen Bärenhunger”, antwortet sie apathisch. Ein großes Zelt neben uns erweist sich als ein burjatisches Restaurant. “Gibt es etwas zu Essen?”, frage ich, während Tanja unsere Räder bewacht. “Aber ja, kommen sie nur herein”, meint der einzige Gast. Draußen wird mit einem Beil gerade einem Schaf das Bein abgeschlagen. Vom wackeligen Holztisch läuft das Blut und sickert in den Sand. Während der Hausherr mit seiner anscheinend stumpfen Axt erneut zuschlägt, versucht seine Frau am Bein des Tieres zu zerren, um es vom Rumpf zu reißen. Weil es in dem Restaurantzelt kein Fenster gibt haben wir keine Möglichkeit während des Essens unsere Räder zu beobachten. “Kein Problem. Hier wird nicht gestohlen”, versichert die Wirtin. Unsere Erfahrung hat uns gelehrt nicht auf solche vermeintlichen Sicherheitsparolen zu hören.

Trotz großen Hungers schieben wir unsere Böcke weiter durch den abgelegenen Wilden Osten Russlands. “Das Restaurant Wolna (Welle) ist nicht schlecht”, lobt eine junge hübsche Russin und zeigt uns den Weg. Tatsächlich erreichen wir ein schönes Blockhaus mit Fenstern zur Staubpiste. Wir bestellen Fisch aus dem Baikal, Salat und Brot. “Du solltest mal Simone anrufen und ihr sagen, dass wir bald da sind”, meine ich nach dem leckeren und im Verhältnis teuren Essen. “Ihr seid im Restaurant Wolna? Bitte wartet dort auf uns. Wir sind gerade an der Fährstation und kommen gleich vorbei”, antwortet Simone. Die Wartezeit vertreiben wir uns indem wir einen zweiten Fisch und Salat vertilgen. Ein junger Burjate steht vor unseren Rädern, um sie genau unter die Lupe zu nehmen. Seine Kleidung verrät, dass er selber Radfahrer ist. “Man hat mir gestern Nacht mein Rad gestohlen. Ich habe hier in der Nähe am Strand mein Zelt aufgebaut und mein Fahrrad an einen Pflock gesperrt. Der Dieb kam wahrscheinlich am frühen Morgen. Er zog den Pflock einfach aus der Erde und konnte so mein tolles Bike mitnehmen. So wie es aussieht hat er auch ein Schlauchboot gestohlen. Ich denke, dass der Dieb meinen Drahtesel in das Boot geladen hat und auf diese Weise abgehauen ist. Ich war schon bei der Polizei. Sie meinen es war ein Einheimischer”, erzählt er sichtlich traurig. “Wo kommst du denn her?”, frage ich ihn. “Aus Ulan-Ude. Wollte hier meine Sommerferien verbringen und die Insel per Rad erkunden. Es ist ein Jammer. Jetzt bin ich kein Radfahrer mehr”, meint er dem Weinen nahe als ein Kleinbus neben uns hält und Simone und ihr Lebensgefährte Leonid aussteigen. Tanja und ich begrüßen die sympathisch wirkenden Menschen. Simone kommt aus Deutschland und lebt mit dem Russen Leonid schon seit 15 Jahren auf der Insel. Sie haben sich am Rande des Dorfes Charanzy ein Blockhaus gebaut. “Wollt ihr eure Räder auf unseren Transporter laden. Wir können euch mitnehmen?”, bietet uns die Neunundsechzigjährige, sehr jung wirkende vitale Frau an. “Danke wir müssen noch etwas einkaufen. Wir kommen nach”, antworten wir. “Wenn ihr nicht weiter wisst, fragt einfach nach Simone. Die Dorfbewohner kennen mich alle”, sagt sie, worauf Leonid seinen Kleinbus anlässt und davonfährt.

In einer Jurte finden wir das einzige Internet des Ortes. Die Minute kostet 3,50 Rubel (13,- Eurocent). Wegen der Satellitenverbindung ist der einzige vorhandene Computer extrem langsam. Der Inhaber bietet Tanja seinen eigenen Laptop an, weswegen sie in der Lage ist kurz unsere Mails zu checken. Dann kaufen wir ein paar Lebensmittel und verlassen den skurrilen aber nicht uninteressanten Ort. Kaum liegt er hinter uns empfängt uns ein richtiger Wald. Obwohl nahezu der gesamte Osten der Insel mit dichten Wäldern überzogen ist, finden sich an der westlichen Seite nur wenige oder gar keine Bäume.

Die Sonne steht bereits tief als uns der Wald wieder auf eine Steppenlandschaft entlässt. Es geht vorbei an einer Grünfläche die einmal als Landeplatz für kleine Propellermaschinen genutzt wurde. Seit Jahren ist aber der Flugbetrieb eingestellt. Am Ortseingang von Charanzy verlassen wir die sandige Hauptpiste in Richtung Ufer. Wir kommen an Jurten vorbei die ihre weißen Häupter in den abendlichen Himmel strecken. Sie werden nicht von Einheimischen, sondern von Touristen bewohnt. “Wissen sie wo Simone und Leonid leben?”, frage ich eine Burjatin die vor einer Jurte des Lagers für die Gäste der Anlage kocht. “Aber ja. Gleich da unten”, sagt sie und deutet auf eine lieblich aussehende Holzhütte die sich hinter einen hohen Holzzaun versteckt.

Es ist 21:30 Uhr als ich den Riegel des Tores aufschiebe und wir unsere Räder in den Garten rollen lassen. Leonid und Simone begrüßen uns sofort sehr freundlich. “Wenn ihr wollt könnt ihr im Zelt schlafen. Das kostet natürlich nichts. Ihr könnt aber auch in meine Arbeitshütte ziehen. Da verlange ich zehn Euro pro Person und Nacht. Wir haben sie erst dieses Jahr hergerichtet. Sollte einmal ein Pferdestall werden. Aber da es nicht leicht ist hier Heu zu beschaffen sind wir von dem Gedanken abgekommen. Jetzt nutze ich das Zimmer zum Stricken und Malen”, erklärt sie und zeigt uns ein hübsches Blockhäuschen, dessen Inneres noch nach frischem Holz duftet. “Wir ziehen gerne in deine Hütte”, sagen wir und tragen unsere Ortliebtaschen hinein. Drinnen empfängt uns ein Regal mit vielen interessanten, spirituellen Büchern. Aber auch Publikationen über Sibirien und Russland teilen sich in deutscher und russischer Sprache den Platz. Ein kleiner Kamin verspricht wohlige Wärme für die kalten Wintermonate. Ein Sofa lädt zum Schlafen ein. Vor dem Fenster befindet sich eine Arbeitsplatte an der ich schreiben kann. Auf der anderen Seite haben wir einen direkten Blick zum Baikal und auf die vor dem Häuschen befindliche Holzterrasse. Wir fühlen uns auf Anhieb wohl und beschließen noch an diesem Abend hier für einige Zeit zu bleiben.

“Ihr seid also die Radfahrer. Allen Respekt. Ich habe die Strecke mit dem Motorrad gemacht aber mit dem Rad? Meine Herren”, begrüßt uns Stefan der vor ca. zwei Jahren hier mit seiner Freundin ankam, dann weiter nach China zog, um dort bis vor wenigen Wochen zu leben. Jetzt ist er zurückgekehrt. Allerdings ohne seine Freundin. Die ist mittlerweile mit einem in Kanada lebenden Hongkongchinesen zusammen. Die Motorräder haben die beiden hier seit der Zeit eingelagert weil die Chinesen bis heute nicht erlauben, das Ausländer mit ihren eigenen Fahrzeugen China bereisen. “Ich richte die Maschinen wieder her. Meine Ex wird ihre dann irgendwann mal holen. Ich hingegen werde mich in wenigen Wochen aufmachen, um Russland, Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Iran und die Türkei zu bereisen”, erklärt er. Weil es schon spät am Abend ist und wir von der langen Fahrt regelrecht gerädert sind, verschieben wir die weiteren Gespräche auf morgen. Simone bringt noch einen Wasserkocher. Wir setzen uns auf das Sofa, zünden eine Kerze an und genießen eine Tasse heißen Tee. Dann rollen wir unsere Isomatten aus und schlüpfen in unsere Schlafsäcke.

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