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Russland/Wild-Camp

Wild-Camp

N 49°16'17.5'' E 045°06'22.5''

Der Aufenthalt in Wolgograd war für uns sehr erholsam. Mit neu geladenen Batterien verlassen wir die 80 Kilometer lange Stadt, die längste die wir bisher durchradelt haben. Die Frauen an der Rezeption schicken uns zum Ufer der Wolga hinunter. “Dort immer geradeaus bis zur Brücke”, erklären sie. Als wir das Ufer der Wolga, die mit ihren 3.530 Kilometern der längste Fluss Europas ist, erreichen, windet sich die Straße sofort wieder nach oben. 18 % Steigung schüchtert uns das Verkehrsschild ein. Noch nicht mal richtig warm gefahren ächzen unsere Beinmuskeln. Lastwägen mit Bauschutt beladen überholen uns auf sandiger Straße und blasen uns ihren schwarzen Ruß ins Gesicht. Unsere überstrapazierten Lungen ziehen sich die dunklen Abgase bis in den letzten Winkel hinein. Hustend und prustend bleiben wir ausgepumpt stehen. “Wessen dumme Idee war es hier runter zu fahren?”, fragt Tanja sichtlich angeschlagen. “Nicht meine”, verteidige ich mich japsend. Mit brennenden Lungenflügeln erreichen wir mehr schiebend als fahrend wieder die Hauptstraße und lassen uns vom morgendlichen Berufsverkehr inhalieren. Die Stimmung an diesem Morgen ist eigenartig. Tanja und ich hängen im Lärm des Verkehrs wieder unseren Gedanken nach. Ob uns der Winter doch noch einholt? Ob er es ist der unsere Reise unterbricht? Wie viel Zeit bleibt uns noch bis kalter Regen und Schnee eine Radreise unmöglich werden lassen? Ob in Samara wirklich ein Kloster auf uns wartet? Und was ist wenn nicht? Wo werden wir unterkommen? Wo können wir dann unsere Ausrüstung zwischenlagern? Fragen über Fragen kreuzen mein Gehirn, lenken mich vom Hier und Jetzt ab, stimmen mich ängstlich, nehmen mir meine Zuversicht und Energie. “Was hast du gelernt? Lässt du dich schon wieder von deinen eigenen Gehirngespinsten ins Boxhorn jagen?”, höre ich die altbekannte, freundliche aber doch etwas mahnende Stimme von Mutter Erde. “Ja, ja, ich weiß. Ich soll mehr Vertrauen in “Alles Was Ist”, die Reise und mich selbst haben. Aber an manchen Tagen ist es eben nicht leicht”, verteidige ich mich heute Morgen schon das zweite Mal. “Genau, bleib bei deinen positiven Vorsätzen. Du kannst den Schnee in den Bergen nicht kontrollieren und wenn du noch soviel darüber nachdenkst. Lass die Dinge auf dich zukommen wie sie eben kommen. Egal was geschieht, es ist immer in Ordnung für dich. Vergiss nie was du in der Wüste gelernt hast. Lass es fließen. Das ist das Leben. Daraus lernst du am meisten. Die Dinge fügen sich wie sie sich fügen sollen. Wichtig ist, dass du das verstehst. Das du begreifst. Das du es inhalierst mit all deinen Sinnen. Dann kann dir nichts geschehen. Dann wirst du glücklich sein. Auch wenn es mal anders läuft als du es für dich oder euch geplant hast. Alles unterliegt einer Ordnung. Einer Ordnung die “Allem Was Ist” also dem Universellen, dem Schöpfer, dem Kosmos, der Unendlichkeit, Gott oder wie immer du es nennen magst unterlegen ist. Einer Ordnung der sich keiner entziehen kann. Begreifst du das wird dein Leben von Leichtigkeit und Freude geprägt. Ohne Zweifel ist dieses Begreifen, das Verstehen dieser Zusammenhänge eine große Aufgabe. Aber vergiss nicht. Du hast Zeit. Alle Zeit der Welt, um darüber nachzudenken und für dich zu einem positiven Ergebnis zu kommen. Also genieße deine Gesundheit, deine Kraft die dein Rad Kilometer um Kilometer weiter in dieses wunderbare Land tritt und vertraue. Vertraue auf dein Leben, auf die Ordnung der sich nichts im Kosmos widersetzen kann”, lausche ich der Stimme und in der Tat fühle ich mich augenblicklich etwas hoffnungsvoller.

Bei diesigem und nasskaltem Wetter erreichen wir im Südosten des europäischen Russlands den gigantischen Staudamm der unteren Wolga. Im Verkehrsfluss drücken wir uns soweit rechts wie möglich an die verrosteten Begrenzungspfosten. An manchen Stellen ist die auf dem Damm gebaute Straße aufgerissen und mein Blick fällt in die gähnende Tiefe auf das brodelten kalte Wasser unter uns. Es presst sich mit überdimensional großen Blasen aus dem Grund nach oben. Wasser das mit einem gewaltigen Druck aus den großen Turbinen eines der größten Kraftwerke seiner Art gedrückt wird. Schaum und ungutes Brodeln erhaschen meine Blicke. Bei den Temperaturen würde man in dem Wasser nicht lange überleben, geht es mir durch den Kopf und ein Schauder läuft mir über den Rücken. Eine Bausstelle zwingt den Verkehr auf eine Spur. Wir nutzen eine Lücke und wieseln uns durch. Trotz des trüben Tages kann man die kolossale Größe des Stausees erkennen. Von hier oben könnte man glatt meinen ein Meer tut sich zu unserer Linken und Rechten auf. Der Wolgograder Stausee erstreckt sich von hier etwa 400 Kilometer bis zur Stadt Marks nach Norden und besitzt eine Fläche von 3.117 Quadratkilometern. Gerne würde ich anhalten und ein paar Bilder schießen. Doch das Fotografieren solcher mächtigen Anlagen, Brücken und Kraftwerken ist in Russland bis heute nicht unproblematisch. Also speichere ich die Bilder in meinem Kopf. Es geht vorbei an kolossalen Krananlagen. An Kontrollgebäuden und einer Schleuse für die Schiffe. Die gesamte Konstruktion sieht heruntergekommen und schwer restaurierungsbedürftig aus. Wenn dieser Damm einmal brechen sollte werden die Anrainer der unteren Wolga mit Sicherheit ins Kaspische Meer gespült.

Nach 3,5 Kilometer haben wir den Megadamm überquert und befinden uns nun auf der östlichen Seite der Wolga in der Stadt Wolschskij die erst 1951 als Wohnort für die beim Bau des großen Wolga-Wasserkraftwerks beschäftigten Arbeiter gegründet wurde. Wir folgen nun der Uferstraße in nördlicher Richtung und schlagartig kommt der rege Verkehr zum Stillstand. Plötzlich sind wir wieder alleine. Der brüchige Bitumen führt uns kaum noch durch Dörfer. Es gibt keine Läden in denen man etwas zu Essen kaufen kann und erst recht keine Gastiniza. Mit knappen 13 Grad plus ist es heute noch immer kühl. Die Sonne blinzelt nur ab und an durch einen der Wolkenritze. Zum Glück ist es nahezu windstill. Ein verrostetes blaues Schild verspricht in 80 Kilometer einen Camping und ein Restaurant. Hätten wir heute nicht schon 80 Kilometer heruntergespult wäre dies ein verlockendes Angebot. “Uns bleibt nichts anderes übrig als ein Wildcamp zu finden”, sage ich. Tanja macht sich Sorgen, hat Furcht vor Betrunkenen oder sonstigem Gesindel die uns nachts überfallen könnten. “Ich denke du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Die Verbrecher sind nachts nicht in den Wäldern und an dem Ufer der Wolga sondern irgendwo in der Stadt. Dort wo es etwas zu holen gibt. Schau, wir verstecken uns einfach hinter den dünnen Waldstreifen dort. Keiner wird uns das je entdecken”, beruhige ich sie. “Ja, ich denke du hast Recht. Bringt nichts diese Angst vor dem Unbestimmten. Ist reine Energieverschwendung”, antwortet Tanja zuversichtlich.

Nach weiteren zehn Kilometern finde ich die geeignete Stelle für ein Camp. Wir warten am Straßenrand auf ein vorbeifahrendes Auto. Als es am Horizont verschwunden ist lassen wir unsere Bikes die Böschung runter rollen. Dann befinden wir uns auf einem Feldweg. Wir schieben die Räder noch ein paar hundert Meter weiter, verlassen den Feldweg und schlagen uns über eine Wiese durch die Sträucher. Es ist anstrengend die schweren Räder über das hohe Gras zu drücken aber wir schaffen es und finden einen friedlich wirkenden Platz umrundet von Bäumen. “Hier fühlt es sich gut an”, meint Tanja zufrieden. “Ja finde ich auch”, stimme ich ihr zu. Schnell bauen wir unser grünes Fjällrävenzelt auf und verstecken unsere Räder unter einer grünen Plane. Auf diese Weise ist mit Sicherheit nichts mehr von unserem Camp zu sehen. Die abendliche Sonne hat mittlerweile das Spiel um Licht und Schatten gewonnen und zwängt sich durch die dünne Wolkenschicht. Ihre späten, hellgelben Strahlen blinzeln durch die Büsche auf uns herab. Die Laubbäume lassen ihre herbstlich gefärbten Blätter in einer leichten Brise rascheln. Tanja kippt heißes Wasser aus der Thermoskanne über eines unserer letzten Travellunchessen. Zufrieden sitzen wir im letzten Tageslicht unter den aufkommenden Sternenhimmel und genießen es unseren Radlerhunger mit heißer Nahrung zu befriedigen. Dann, als die Dunkelheit aufkommt flüchten wir in unsere Stoffbehausung, kuscheln uns in unsere Schlafsäcke und fallen in einen bald ohnmächtigen tiefen Schlaf.

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