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Ukraine/Nova-Dofinovka

Wieder bei Luda

N 46°34'28.2'' E 030°54'28.9''

Schon um 8:30 Uhr lässt die Sonne ihre quälenden Strahlen auf uns arme Geschöpfe niederprasseln. Noch müde von der gestrigen Anstrengung laden wir unsere Bikes und lassen die teure Bleibe hinter uns. Kaum sitze ich im Sattel, sendet mein Po böse Beschwerden. “Wir müssen bestimmt nicht weit fahren. Nachdem was man uns erzählt hat, ist hier alles voller Unterkünfte”, tröstet mich Tanja. “Hoffentlich”, antworte ich leise. Wir radeln die Küstenstraße entlang. Auf dem Markt von Fontanka kaufen wir erstmal Wasser. Obwohl es heute nicht weit sein wird, lade ich eine Extraflasche in den Hänger. Man kann ja nie wissen. Dann fragen wir nach einer Bleibe. “Ihr müsst fünf Kilometer zurück”, hören wir. “Nein, nein. Da kommen wir gerade her. Gibt es denn keine andere Unterkunft in dieser Richtung?”, wollen wir wissen. Doch die Antworten sind ernüchternd. Wir radeln weiter. Vom Meer ist bisher nichts zu sehen, da es sich nach wie vor hinter einem, mit Grünzeug bewachsenen, Landstreifen versteckt. Es dauert nicht lange und ich beginne mich wieder über mich selbst zu ärgern. Ich hätte gestern nicht auf den Rat des Österreichers hören sollen.

Am Straßenrand tauchen wieder Werbetafeln, auf die wir nicht entziffern können oder zumindest nicht verstehen. Wir strampeln über einen leichten Hügel, als sich plötzlich das Schwarze Meer vor uns ausbreitet. Wir lassen unsere Rösser den Berg hinunter rollen und entdecken auf halber Strecke ein Hotel. Sofort halten wir an, um nach einem Zimmer zu fragen. Ein böse bellender Hund hindert uns daran, die Anlage zu betreten. “Das Hotel ist außer Betrieb”, sagt uns eine Frau. “Fahrt den Berg wieder hoch. Dort drüben an der Küstenseite gibt es Ferienhäuser”, empfiehlt sie. Mittlerweile demütig geworden schieben wir unser rollendes Zuhause den Hügel hoch. Es dauert eine Weile bis wir den schmalen Pfad finden der zur Küste führt. Ganz unerwartet tauchen einfache Holzhütten vor uns auf, die man mieten kann. Erleichtert atmen wir aus. Auch wenn die Hütten nicht den sichersten Eindruck ausstrahlen und wir unsere Ausrüstung dort kaum alleine lassen können, sind wir froh, erstmal etwas gefunden zu haben. Eine Frau kommt uns entgegen. “Tut mir leid. Wir sind ausgebucht.” “Ausgebucht?” “Da.” “Dürfen wir unser Zelt hier im Garten aufschlagen bis eine der Hütten frei wird?”, frage ich. “Njet”, erschreckt mich die bestimmte Absage. Die Frau deutet über die Klippe zu einem voll besetzten Strand. “Dort unten”, meint sie mit der Schulter zuckend. Tanja und ich sehen auf den Strand. Hunderte von Menschen haben dort ihr Lager dicht an dicht nebeneinander aufgeschlagen. Zelte, Autos, Boote, Schirme und Matratzen pflastern den heißen Sand. Exklusivurlaub im Ameisenhaufen. Mal etwas anderes. Nicht in Rimini, nein in der Ukraine. Nach dem Motto, Überlebenstraining in der Masse ohne Schatten.

Wir bedanken uns bei der Frau für den Tipp und fahren weiter. “Wenn hier soviel Menschen ihren Urlaub verbringen, muss es doch mehr Unterkünfte geben. Ich bin mir sicher, dass viele der Schilder darauf hinweisen. Wir können sie nur einfach nicht lesen”, beklage ich mich. Wir rollen in die vor Hitze brodelnde Senke. Mein Hintern jault auf. Die Hauptstraße führt uns am Strand vorbei. Müll brennt an manchen stellen. Plastikflaschen haben hier wieder die Oberhand. Aus einigen kleinen heruntergekommenen Klohäusern dringt der stechende Geruch von Fäkalien. Wieder geht es den Berg steil hoch. Ich bleibe vor einem der Schilder stehen. “Das heißt eindeutig Zimmer”, meine ich. Plötzlich fallen uns überall die von Hand geschriebenen Tafeln mit der Zimmer-Werbung auf. “Die gab es doch vorher nicht?”, zweifelt Tanja. “Habe sie zumindest nicht wahrgenommen.” Sofort klopfe ich am ersten Haus und frage nach. Ausgebucht. Ausgebucht. Ausgebucht. Dann wird mir ein Zimmer angeboten welches mir glatt den Atem raubt. Zwei uralte Betten, in einer winzig kleinen Bretterhütte. Kein Platz für Tisch oder Stuhl. Kein Strom. Nur zehn US-Dollar. Die Hitze Gratis. Ich mache auf dem Absatz kehrt. Auch die nächste Bleibe ist eher mit einem dunklen Loch oder einer Hundehütte zu vergleichen. In den stickigen Innenhöfen der Häuser parken Autos und in den einfachen Openairküchen stehen die ukrainischen Touristinnen und kochen. Wir geben auf und radeln weiter. Mittlerweile ist es bereits zwölf Uhr. Jemand hat uns erzählt, dass es In der nächsten Hafenstadt Yuzhne, etwa 25 Kilometer von hier entfernt, schöne Unterkünfte geben soll. Nun, eigentlich sind wir diese Route nur deswegen gefahren, um der bekannten Stadt Odessa einen Besuch abzustatten und unsere Filme sicher verschicken zu können. Jetzt entfernen wir uns aber von Minute zu Minute von Odessa. Und warum soll es in der Hafenstadt Yuzhne Hotels geben, wenn wir in den Vororten einer der wichtigsten und größten Städte der Ukraine keine Absteigequartiere finden? Es ist in der Tat zum Haare raufen. Selten in unserem Reiseleben hat sich die Suche nach einer Bleibe zu so einer Herausforderung entwickelt. Wir erreichen die Ortschaft Chornomors’ke. “Fahren Sie noch zwei Kilometer weiter. Dort gibt es einen Aquapark und ein schönes Hotel”, sagt uns ein Mann in gebrochenem Deutsch. Wieder zuversichtlich lassen wir unsere Tretkurbeln kreisen und erreichen den Aquapark. Auch wenn er viel kleiner ist, erinnert mich der Parkplatz vor dem Hotel an den von Disney-World in Orlando, Florida. Wir rollen an Bussen und teuren Luxusautos vorbei, bis wir unsere, im Vergleich dazu, lächerlich aussehenden Drahtesel an einen Baum vor der Rezeption parken. Durch den großen eisernen Zaun blicken wir auf einen gepflegten Park mit Springbrunnen und schönen Häusern. “Ob das der richtige Laden für uns ist?”, sage ich und schreite in meiner Radkleidung in das Empfangshaus. “Äh, sprechen Sie Englisch.” “Natürlich”, überrascht mich eine junge Frauenstimme. “Haben Sie ein Doppelzimmer?” “Es gibt nur noch ein Dreibettzimmer. Allerdings nur für eine Nacht. Morgen sind wir total ausgebucht”, glaube ich nicht richtig zu hören. “Was kostet denn das Zimmer?” “”200,- US-Dollar”, bläst mich die Antwort fast aus den Socken. “Gibt es denn an diesem Küstenstreifen wirklich so wenig Hotels?”, frage ich. “Nun, heute ist unser Feiertag und für die nächsten drei Tage gehen die Leute in den Kurzurlaub”, erklärt mir die Frau hintern Tresen. “Feiertag?”, frage ich. “Ja. Tag der Unabhängigkeit von Russland”, erklärt sie und mir fällt es wie Schuppen von den Augen. Das ist also der Grund der ausgebuchten Hotels, Hütten, Zimmer, sogar dem einen oder anderen Loch und dem schrecklichen Verkehr. “Glauben Sie, im nächsten Hafenort gibt es etwas zum Übernachten?”, will ich wissen. “Ja, nur wer sagt, dass die Häuser dort nicht auch ausgebucht sind?” “Stimmt. Können sie für mich dort anrufen?”, bitte ich. In der Tat wird mir geholfen und die nette junge Frau wählt die Nummer von dem Hotel in Yuzhne. “Tut mir leid. Dort geht keiner an den Apparat”, entschuldigt sie sich wenige Minuten später. Ich bedanke mich und bevor ich das Luxushotel verlasse, nutze ich noch die Gelegenheit, um in der im Hotel befindlichen Wechselstube Griwna zu bekommen. Leider ist dann auch noch die Telefonleitung zusammengebrochen, und somit kann ich meine Bankkarte nicht nutzen. Nun wirklich geknickt begebe ich mich wieder zu Tanja. Sie möchte weiterfahren, ich bin fürs Umkehren. Wir kehren um und radeln wieder zu dem Ort, in dem es wenigstens noch ein paar einfache Zimmer gab. Auch wenn manche von ihnen eher einer Hundehütte gleichen, ist das noch immer besser als gar nichts.

An einer Tankstelle fragen wir noch mal nach ob man weiß wo es Absteigen geben kann. Man kann ja nie wissen. “Tut mir leid. wir kennen auch nichts”, sagt die Tankwirtin. Wir trinken erstmal Wasser und kaufen zwei Reserveflaschen. Man kann ja nie wissen. Ein VW-Bus hält an. “Kommt ihr aus Deutschland?”, fragt uns der Fahrer in perfektem Deutsch. Es ist ein Filmemacher aus Leipzig. Wir unterhalten uns angeregt. Ihm gefällt die Ukraine. Ich brauche kein Hotel. Habe eine Kiste Bier und einen Schlafsack hinten drin. Wir bleiben wo wir wollen”, lacht er und tätschelt seiner hübschen Freundin auf den Oberschenkel. Wir verabschieden uns und fahren wieder nach Nova-Dofinovka. Ein Betrunkener bietet mir sein Zimmer an. “Nein danke”, lehne ich freundlich ab und radle weiter. Der Betrunkene rennt uns hinter her. “Bleibt doch! Hey! Bleibt doch!”, ruft er. Dann frage ich dort, wo ich schon mal vor ein paar Stunden gefragt habe. Diesmal aber ein Häuschen weiter. Eine sehr hübsche junge Frau spricht Englisch. Gott sei Dank. Sie zeigt mir ein Zimmer ihrer Nachbarin. Wieder ein Loch. Es ist so übel, das ich es trotz unserer verzweifelten Situation ablehne. “Lass sie doch im Haus unterm Dach schlafen”, sagt die Mutter der Hübschen. “Da ist es aber sehr heiß”, höre ich. “Egal, zeigen sie mir bitte den Raum”, entgegne ich. Dann begutachte ich die Bleibe. Im Vergleich zu den anderen Löchern ist es annehmbar. Es ist zwar schon lange nicht mehr geputzt worden und sehr heruntergekommen aber wenn man die völlig durchgelegenen Matratzen der Betten und die 35 Grad Zimmertemperatur ignoriert, ist es für mich in diesem Moment sogar ein Palast.

Gespräche mit ehemaligen Wolgadeutschen

Nachdem wir unsere Räder verstaut haben, setzen wir uns in den schattigen Innenhof. Reges Treiben herrscht. Luda und Helena, die beiden Schwestern und Hausherrinnen der Ferienwohnungen, sind deutschabstämmig. Vor ein paar Jahren wollten sie noch nach Deutschland ausreisen. Leider sind die Originalpapiere im zweiten Weltkrieg verbrannt, weshalb die deutschen Behörden ihre Einreise ablehnten. “Wie kommt es, dass ihr deutschabstämmig seid?”, frage ich und Tochter Valentina übersetzt. “Nun, unsere Ur-Ur-Großeltern waren Wolgadeutsche. Kaiserin Katharina die Zweite holte die Deutschen zwischen 1763 bis 1767 an die Wolga. Die meisten von uns stammten aus Bayern, Baden, Hessen, der Pfalz und dem Rheinland. An der Wolga gründeten unsere Vorfahren ca. 100 Dörfer.” Warum holte die Zarin damals die Deutschen an die Wolga?”, frage ich interessiert, denn im Geschichtsunterricht vor vielen Jahren habe ich schon mal davon gehört. “Nun, die Deutschen waren bekannt als gute Arbeitskräfte und Bauern. Die Zarin wollte die Steppengebiete an dem großen Fluss kultivieren. Wir bekamen damals einen politischen Sonderstatus verliehen. Wir hatten das Recht auf Beibehaltung unserer Sprache sowie auf unsere Selbstverwaltung. Leider wurde unsere Selbstbestimmungsrechte in der UdSSR beschränkt. 1918, nach der Russischen Revolution, wurde unser Siedlungsgebiet autonom und 1924 wurde dann die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen geschaffen. Nachdem die Deutschen zu Beginn des zweiten Weltkrieg Russland überfallen haben, wurden wir der Kollaboration mit den Deutschen beschuldigt, weshalb Stalin uns nach Sibirien und Mittelasien zwangsumsiedelte.” “Was? Nach 180 Jahren Siedlungsgeschichte wart ihr doch mittlerweile mehr Russen als Deutsche.” “Schon, aber wir sprachen nahezu alle Deutsch und hatten unsere eigene Verwaltung. Für Stalin war das ein Dorn im Auge. Er hat unser gesamtes Siedlungsgebiet zwanghaft aufgelöst. Etwa 400.000 Einwohner verloren ihr Zuhause. Viele wurden zur Zwangsarbeit gezwungen. Viele starben. Das war der Grund, warum unser Vater seinen Pass umschreiben hat lassen und sich russische Papiere besorgte. So entkamen wir der Zwangsarbeit. Ein Teil unserer Verwanden lebt heute noch in Sibirien. In Irkutsk. Sie besuchen uns ab und zu.” “Ich habe davon gehört, dass die Wolgadeutschen später wieder rehabilitiert wurden?” “Stimmt, das war im Jahr 1964 und das war auch der Grund, warum viele von uns wieder nach Deutschtand zurückgingen.” “Und ihr wolltet dann auch ins Land eurer Väter.” “Klar. Wir stellten erst vor fünf Jahren einen Antrag. Leider sind wie schon erwähnt die Originalpapiere unserer Eltern während des zweiten Weltkrieges verbrannt. Sie waren nicht mehr auffindbar. Somit konnten wir den deutschen Behörden nicht unsere Abstammung nachweisen. Für sie sind wir Russen. Kein Wunder, denn unser Vater hatte ja seine Papiere umschreiben lassen.” “Hm, vielleicht ist es besser so. Wer weiß, ob es euch in Deutschland gefallen hätte. Ihr seid doch hier geboren. Habt hier eure Verwandten und Freunde. Eure Wurzeln sind in der heutigen Ukraine. Vielleicht wärt ihr in dem hektischen Deutschland nur unglücklich gewesen”, sage ich nachdenklich. “Ja, ja, das kann sein. Luda und ich haben oft darüber gesprochen. Ich denke jetzt auch, dass es gut so ist”, endet Helena ihre Geschichte.

Es dämmert bereits als uns Valentina die Anlage zeigt. Die Häuser und Hütten machen wie alles hier einen stark mitgenommenen Eindruck. Noch dazu sieht der Garten wegen des fehlenden Regen der letzten Monate wie eine Wüste aus. Dann stehen wir plötzlich an der steil abfallenden Klippe und blicken auf das Schwarze Meer. “Wow!”, entfährt es mir über den unverhofften Anblick verblüfft. “Das ist ja fantastisch”, meint Tanja ebenfalls begeistert. “Absolut. Wahrscheinlich war es wieder kein Zufall, hier gelandet zu sein. Auch wenn es sehr anstrengend war, diesen Platz zu finden”, meine ich nachdenklich.

Abends, als die Sonne sich schon lange hinterm Horizont schlafen gelegt hat, sitzen wir mit einem Glas Klosterwein in der Hand an der Steilklippe und blicken auf die beleuchtet Silhouette der Hafenstadt Odessa. Wegen der Unabhängigkeit von Russland erhellen verschiedene Feuerwerke in allen erdenklichen Farben den nächtlichen Himmel über der Stadt. Das Rauschen des Meeres, die laue Briese, unsere Müdigkeit und das Wissen, letztendlich doch noch einen Hafen für die kommenden Nächte gefunden zu haben, stimmt uns glücklich. Wir sind froh, die höllische Straße unversehrt überstanden zu haben, und genießen uns und den wunderschönen Abend.

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