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Abbrechen
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Russland/Abganerowo

Weites Etappenziel

N 48°05'08.2'' E 44°11'34.1''

Mit nur zwei Grad ist es die erste kalte Nacht. Als wir die Räder bepacken bekommen wir steife Finger. Die frühe Sonne durchdringt den Morgenschleier aus eigenwillig anzusehenden Wolken. Die Wirtin hat ihren Müll in einer Blechtrommel angesteckt. Beißender, giftiger Rauch hüllt uns ein. Keiner denkt über die Konsequenzen solch einer Müllverbrennung nach. Wie auch? Abgesehen davon ist das hier vielerorts die einzige Möglichkeit, um dem Müllberg Herr zu werden. Leichter Wind bläst uns wieder entgegen und verspricht schon während der ersten Kilometer einen sehr anstrengenden Tag. Nach meiner Rechnung liegen bis zur nächsten Übernachtungsmöglichkeit wieder über 100 Kilometer vor uns. Das bedeutet bei diesen Bedingungen Zähne zusammenbeißen, Selbstmotivation und Durchhalten. Der gestrige Tag gehört leider der Vergangenheit an. Obwohl es gut ist das alles einmal vergeht bedauere ich in diesem Fall diesen Fakt.

Wir sind nicht sicher aber so wie es aussieht liegt unser Etappenziel tatsächlich in dem von hier über 1.000 Kilometer entfernten Samara. Durch die anhaltende Internetkommunikation mit den Nonnen vom Kloster Marta si Maria ist uns eventuell ein Kloster bei Samara angeboten worden. Die Cousine der Nonne Dorothea lebt dort. Mit der nächsten Mail bekommen wir genauere Informationen ob uns das russische Kloster Gastfreundschaft gewähren wird. Auf der einen Seite wäre diese Lösung geradezu fantastisch. Somit könnten wir kurz vor dem zwangsläufig kommenden russischen Winter ein Teil unserer Ausrüstung bis zum nächsten Frühjahr zwischenlagern. Das heißt wir würden nach dem Winter wiederkommen können, um unsere Reise dann dort fortzusetzen. Auf der anderen Seite wird das Wetter jetzt jeden Tag unbeständiger. Es wird kälter und Regen soll im Oktober diese Region beherrschen. Noch über 1.000 Kilometer bis Anfang November zu schaffen ist eine große Herausforderung für uns. Klar, wenn wir die Veröffentlichung unserer Geschichten weglassen würden wären wir entschieden schneller. Doch wollen wir Euch lieber Leser nicht im Dunkeln stehen lassen. Aber was mache ich mir hier jetzt schon Gedanken? Wer weiß schon wohin uns der Fluss des Lebens treibt? Wer weiß was uns die kommenden Wochen offerieren? Den Augenblick leben, den Augenblick genießen und ihn nicht durch unnötige Sorgen zu zerstören ist eine unserer wichtigsten Lernaufgaben. Also planen wir erstmal mit dem Etappenziel Samara und sind sehr gespannt was diese Strecke und das Wetter mit uns vorhat.

Es dauert nicht lange und die gleißenden Sonnenstrahlen beherrschen den klaren und kalten Herbsttag. An manchen Stellen reflektiert das Erdpech unter uns das Licht, weshalb es einen fast weißlichen, grellen Schimmer annimmt. Frischer Bitumen wurde vor wenigen Stunden in die Risse, Spalten und Löcher der Straße gekippt. Das Bauarbeiter-Ausbesserungsteam versucht auf diese Weise noch größere Straßenschäden, die der kommende Frost mit sich bringen wird, zu lindern. Lastwägen rumpeln nur selten an uns vorbei. Ein Rabe hat es nicht mehr geschafft vor dem Blechmonster zu entfliehen. Er stürzt auf den frischen Teer. Ein überdimensionaler Reifen presst den Vogel in sein eigenwilliges Grab und verewigt ihn auf diese Weise für die Nachwelt. An einem Ortseingang ist ein ausrangierter Kampfjet errichtet. Ein Mahnmal an den 2. Weltkrieg. Dann passieren wir eine der vielen Straßen-Kontrollhäuser. Polizisten, Stacheldraht, und große Scheinwerfer erschrecken uns noch immer. Doch bisher lässt man uns völlig unbehelligt. Im Gegenteil wird uns nicht selten zu gewunken. Auch die obligatorischen Fragen der Herkunft und dem Ziel werden uns von den Gesetzeshütern entgegen gerufen. Wir antworten im Vorbeifahren; “Kommen aus Deutschland und fahren nach Burma!” Allgemeine Verwunderung und Kopfschütteln wiederholen sich durch das ganze Land. Wir radeln weiter, weiter gegen eine kühle Brise. Nicht so stark wie noch vor Tagen aber ohne Zweifel Kräfte zehrend.

Nach 40 Kilometern legen wir einen kurzen Stopp ein um uns die Beine ein wenig zu vertreten. Trinken einen Fruchtsaft, essen eine Tafel Schokolade. Dann weiter. Noch liegt eine große Strecke vor uns. Am Weggrand sitzt ein alter völlig zerdrückter Lada auf einem roten Stahlrohr. Er streckt sein kaputtes Blech anklagend in den blauen Himmel und soll an die vielen Verkehrstoten erinnern. Aber nicht nur solche Mahnmale zeugen vom Leben und Tod auf den russischen Straßen, denn häufig befinden sich auch Gräber und Kreuze am Straßenrand. Bilder in Stein gemeißelt und Fotos lassen an die Verkehrsopfer denken. Noch immer läuft mir ein Schauer über den Rücken wenn ich in die lachenden Gesichter der oftmals jungen Menschen auf den Erinnerungstafeln blicke. War es Zufall? Bestimmung? Trunkenheit am Steuer? Zu schnell gefahren? Wer weiß. Ich konzentriere mich wieder auf meinen Weg. Weiche den vielen Glasscherben aus, dem Müll und Unrat. Am frühen Nachmittag eine kurze Rast. Füttern unsere hungrigen Bäuche mit Nahrung. Dann weiter. Es wird wieder kälter. Die Sonne verliert an Kraft. Die Handgelenke beginnen zu schmerzen. Wir strampeln einer Erdrunzel auf den Rücken und erkennen endlich das Ortsschild. Hurra unser Tagesziel ist erreicht! Doch führt die einsame Verkehrsader an dem Dorf vorbei. Ich halte an. Warte auf Tanja. “Was sollen wir jetzt tun? Keine Gastiniza weit und breit.” “Lass uns in den Ort fahren. Bin völlig kaputt. Dort finden wir bestimmt etwas. Wir fragen einfach wieder bei den Häusern”, antwortet sie zuversichtlich. Ich kann in diesem Augenblick nicht mehr richtig denken. Die Müdigkeit hat die Energie aus meinem Gehirn weg gefressen. Langsam lassen wir unsere Böcke auf der staubigen Piste über eine baufällige Brücke holpern.

Liebvolle Babuschka und liebvoller Deduschka

Am Straßenrand stehen zwei alte Lastwägen. Die Fahrer unterhalten sich. “Gibt es in diesem Dorf eine Gastiniza?”, frage ich. Die Beiden sehen sich an. “Ja, ja. Fahrt bis in die Ortsmitte. Neben dem Magazin ist die Gastiniza”, hören wir erfreut. Von staunenden Kindern auf ihren Rädern umringt radeln wir in die armselige Siedlung. Mein Gefühl sagt mir hier nichts zu finden. Trotzdem will ich mich nicht entmutigen lassen. Erneut frage ich eine Frau. “Nein eine Gastiniza haben wir hier nicht”, antwortet sie worauf unsere Stimmung wieder sinkt. “Gibt es in diesem Dorf eine Übernachtungsmöglichkeit?”, frage ich in dem Magazin. “Nein”, meint die Verkäuferin. “Doch”, entgegnet ein alter Mann der gerade etwas einkauft. Er lächelt mich an, begleitet mich aus dem Laden und fordert mich auf ihm zu folgen. Tanja und ich schieben ihm unsere Räder hinterher. Dann bleiben wir vor einem heruntergekommenen Plattenbau stehen. “Oh, ist geschlossen”, meint der Mann der seinem kleinen Enkel liebevoll übers Ärmchen streichelt. “Wissen sie, wir sind sehr müde. Wir haben ein Zelt und genügend zum Essen. Dürfen wir bei ihnen im Garten unser Zelt aufschlagen?”, fragt ihn Tanja plötzlich. Er sieht uns an, denkt einen kurzen Augenblick und antwortet; “Bei mir Zuhause?” “Ja.” “Natürlich gerne. Es ist nur einen Kilometer von hier entfernt. Mein Auto steht dort drüben. Fahren sie mir einfach hinterher”, fordert der freundliche Herr uns auf. Wir wissen gar nicht wie uns geschieht. Über die staubige Lehmpiste treten wir unsere ebenfalls müden Roadtrains dem kleinen Auto hinterher. Kaputte Häuser und Strommasten säumen den Weg. Dann werden es weniger Gebäude und Hütten. In einem der letzten bescheidenden aber hübschen Häuschen sehen wir das Auto in einer Einfahrt verschwinden. Als wir dort ankommen sieht uns eine ältere Frau verwundert an. Nicht unfreundlich sondern nur überrascht was die zwei Außerirdischen plötzlich auf ihren kleinen Hof zu suchen haben. Ihr Mann hatte noch gar nicht die Gelegenheit sie aufzuklären. Dann kommt er. “Das sind zwei Radfahrer aus Deutschland. Sie sind den ganzen weiten Weg bis hierher gekommen und suchen eine Bleibe für die Nacht”; erklärt er seiner Frau. “Aber natürlich. Kommt rein ins Haus”, lädt sie uns sofort ein. “Dürfen wir hier unser Zelt aufschlagen?”, frage ich. “Zelt? Wie Zelt? Nein, nein, ihr kommt mit ins Haus”, befiehlt sie liebevoll. Ehe wir uns versehen hat Jurii, so hat der Mann sich vorgestellt, sein Auto aus der Garage gefahren, um unseren Rädern einen Platz für die Nacht zu geben. Dann packt er und seine Frau Vala mit an und im Handumdrehen ist unser Hab und Gut im Haus. “Setzt euch doch und ruht euch aus. Essen gibt es gleich. Wir müssen nur noch unsere Tiere versorgen”, überrascht uns Jurii und verschwindet. So kommt es also das wir urplötzlich in einem absolut sauberen großzügigen Wohnzimmer sitzen und versuchen dieses Wunder zu verstehen. “Ist nicht zu fassen. Gerade eben waren wir noch auf einer staubigen Dorfpiste dem kalten Wind und der kommenden Nacht ausgesetzt und jetzt das hier”, sage ich leise alle Viere von mir streckend. “Einfach umwerfend wie nett diese Menschen hier sind. Haben uns einfach so aufgenommen. Meinst du sie lassen uns auf der Couch dort schlafen?” “Wer weiß. Schon möglich.” Kaum habe ich meinen Mund zugemacht kommt Vala und richtet unsere Bettstatt auf dem Sofa her. Sie überzieht die Decken und spricht dabei in schnellem Russisch mit uns. Wir verstehen nichts und entschuldigen uns dafür. Egal, meint sie und setzt ihren netten Redefluss fort. Dann kommt Jurii und führt mich nach draußen. In der Abenddämmerung zeigt er mir den Gemüsegarten, die Gänse, die zwei Schweine, Truthähne und das Plumpsklo mit der aus Plüsch überzogenen Klobrille. Der kleine Hof mit seinen bescheidenen Schuppen ist vorbildlich sauber und gepflegt. Ohne Zweifel ein Ort um sich sofort wohl zu fühlen.

“Soll ich euch das Badehäuschen anheizen?”, fragt er und führt mich in die kleine Banja, die russische Sauna. “Oh wie schön sie ist”, freue ich mich. Stolz zeigt Jurii mir das kleine Steinhäuschen, das Öfelchen, die Wasserbecken und das Vorräumchen in dem man sich umziehen kann. Weil ich Jurii keine Umstände machen möchte lehne ich aber ab heute solch eine verlockende Sauna zu genießen. Er lächelt mich an und wir gehen wieder zum Wohnhaus. Vala hat in der Zwischenzeit den Tisch gedeckt. Eine leckere Bortsch dampft aus großen Tellern. Frischer Salat, eingemachte Gurken, Truthahnschlegel, frisches Weißbrot, Wurst, Eier und Sauerrahm von der eigenen Kuh stehen auf dem Tisch. Unsere hungrigen Radleraugen können sich an solch einen umfangreich gedeckten Tisch kaum satt sehen. “Setzt euch und esst”, fordert uns Vala liebevoll lächelnd auf. Jurii stellt zur Feier des Tages eine kleine Flasche Wodka auf den Tisch. Obwohl wir ungern solch harten Alkohol trinken lehnen wir nicht ab. “Nastrowje!”, ruft Jurii und wir lassen die Gläser klingen. Kaum ist der erste Teller mit der absolut fantastisch schmeckenden Bortsch in unsere Mägen geschlüpft wird er von Vala wieder gefüllt. “Oh danke”, sagen wir mit hochrotem und zufriedenen Gesichtern. Neben dem heißen Ofen in der Küche dürfen wir nach 111 Radkilometern unsere ausgehungerten Körper mit der besten russischen Hausmannskost befriedigen. “Kommt, kommt, seid nicht schüchtern. Nehmt doch bitte mehr von dem Sauerrahm. Ihr müsst unbedingt mehr Sauerrahm in die Suppe tun”, fordert uns Vala ständig auf. “Esst nur, esst. Es gibt noch mehr. Bitte esst. Nehmt noch mehr Eier. Und dort, vergesst nicht das Weißbrot.” “Nastrowjie”, unterbricht Jurii und hebt sein Wodkaglas. “Nastrowjie”, antworten wir kauend. “Hmmm, schmeckt sehr gut”, loben wir, worauf Vala die Teller zurechtrückt und auf jeden einzelnen deutet. “Nehmt doch etwas von den Gurken. Denis du musst mehr Fleisch essen. Du brauchst doch Kalorien. Iss von dem Truthahn. Hier noch etwas Brot Tanja? Noch einen Teller Bortsch? Ja? Was, ihr seid schon satt? Nein, nein, ihr müsst unbedingt noch mehr essen. Nehmt doch bitte, nehmt.”

Als wir uns kaum noch bewegen können kommt Konfekt und Milchtee auf den Tisch. “Kommt, kommt esst. Das kann doch nicht alles sein? Ihr müsst doch mehr Hunger haben? Ihr esst ja wie die Spatzen. Esst noch etwas von dem Konfekt. Noch einen Tee? Mehr Milch? Esst doch, esst doch. Es gibt noch mehr von allem”, feuern uns die Worte unserer himmlischen Gastgeberin unaufhörlich und ohne Pausen an. Es ist 21:30 Uhr als Tanja und ich wie die überfressenen Walrösser auf den Diwan im Wohnzimmer krabbeln. Weil es in der Wohnstatt viel zu warm ist kann ich nicht einschlafen. Ich denke nach. Denke über die Fügung und den von Mutter Erde offerierten Weg der uns direkt in dieses wohlige sichere Heim geführt hat. Auch wenn es in den Gastinizas oft nicht unangenehm ist, kann man sie unter keinen Umständen mit der russischen Gastfreundschaft dieser liebenswerten Familie vergleichen. Am Ende eines solchen Tages bin ich der schwer zu beschreibenden Verkettungen von Ereignissen und Geschehnissen dankbar. Einer Verkettung die mit logischem Denken nicht mehr zu erklären ist. Ob es daran liegt das wir unser Leben, unser Denken, unser Handeln dem Tag, dem Augenblick anvertrauen? Ob es daran liegt das wir die Dinge fließen lassen? Das wir uns nicht wehren über die Geschehnisse die kommen und gehen wie der Wind. Sie akzeptieren? Ich hoffe wir sind in der Lage weiterhin diese Energiewelle des positiven Seins zu surfen. Weiterhin den Weg der Offenheit, Dankbarkeit und Freude am Leben gehen zu dürfen. Weiterhin solche wunderbaren Menschen wie Jurii und Vala zu begegnen und die innere Kraft und Stärke zu besitzen keine Angst vor dem Morgen und Übermorgen aufkommen zu lassen.

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