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Ukraine/Feodosilia

Unter mir fliegt das grobe Erdpech vorbei

N 45°03'07.2'' E 035°23'00.7''

Als ich nach neun Stunden Tiefschlaf die Räder aus dem Keller hole, fällt mein Blick auf den Forderreifen meines Rades. Platt. Total platt. Während Tanja das Gepäck vom Zimmer herunterschleppt mache ich mich nach 4652 Kilometern daran den ersten Platten zu reparieren. Ein fieser Metallsplint hat sich durch den Mantel gedrückt und den Schlauch penetriert. Das erklärt mir jetzt auch warum der gestrige Tag so anstrengend war. Wahrscheinlich bin ich einen großen Teil der Strecke mit einem halb platten Reifen durch den Regen gewalzt ohne es zu bemerken. Bevor wir den heutigen Tag angreifen, um einige Meilen in den Asphalt zu drücken, verdauen wir die unvorhergesehene Reparatur erstmal mit einem kräftigen Frühstück. Wieder essen wir Nudeln mit Tomatensoße, Salat, Weißbrot, Spiegeleier und danach noch einen Capuccino. Dann lassen wir die Zahnkränze kreiseln. Das Wetter ist zurzeit wie die Laune eines alten Weibes. Mal gut mal schlecht. Heute ist es spitze. Bei blauen Himmel und glasklar gewaschener Luft düsen wir ohne Gegenwind dahin. Die Ausläufer des Krimgebirges zeichnen sich wie ein Scherenschnitt am Horizont ab. Am frühen Nachmittag verzuckern ein paar hübsche Schäfchenwolken das Blau über unseren Köpfen. Lautlos gleiten wir an Baumalleen vorbei. Die stinkenden Blechhaufen scheinen heute Urlaub zu haben. Nur ab und an rattert oder rülpst so ein Schlitten an uns vorüber. Ohne Zweifel ein Radfahrtraum, trotz Gepäck und Anhänger. Unter mir fliegt das grobe Erdpech vorbei. Schon seit Rumänien fällt mir auf das sich ab und zu die verschiedensten Gegenstände in den Teer gedrückt haben. Durch die Hitze im Sommer pressen die großen Lastwagenreifen Schrauben, Eisstiele, Blechteile, Hufeisen, Schuhe, Bierkapseln und vieles mehr in das weiche Bitumen. Schon lange ärgere ich mich ein wenig über mich selbst, denn jedes Mal wenn ich über solch einen eingedrückten Gegenstand rolle, verspreche ich mir ihn bei der nächsten kommenden Gelegenheit fotografisch festzuhalten. “Stopp!”, rufe ich heute voller Tatendrang, lehne mein treues Gefährt an die Leitplanke, erkläre Tanja mein Vorhaben, packe die Kamera aus und fotografiere ein plattes Bierkäselchen. “Ich hoffe nur, dass du jetzt nicht damit anfängst all die verschiedenen Biermarken zu sammeln”, meint Tanja belustigt. “Ach, ist eigentlich eine gute Idee. Stell dir vor wir präsentieren in einem späteren Diavortrag auf diese Weise die ukrainischen und russischen Biermarken. Finde ich lustig”, spaße ich laut. Trotz der vielen kurzen Unterbrechungen kommen wir gut voran. Meine Oberschenkel beginnen nicht zu murren und machen ihren Job tadellos. Klar, wer würde da nicht murren. Mit einem halbplatten Reifen eine Kiste durch das gestrige Hundewetter ziehen zu müssen ist für jeden Oberschenkel zu viel.

Mit den späteren Stunden erheben sich ein paar Erdrunzel aus dem flachen Land. Auch Wind bläst uns plötzlich wieder ins Gesicht. Für uns an diesem schönen Tag keine Herausforderung. An einem Vorort der Hafenstadt Feodosilia brennt Müll. Industrieanlagen recken dahinter ihre Hässlichkeit in den Himmel. Ein Güterzug arbeitet sich langsam durch das Inferno. Dann lassen wir das Schreckgespenst hinter uns und die Landschaft wird urplötzlich exotisch. Steppenähnliche Weide erinnert uns an die Mongolei. Ein Schäfer wandert mit seinen Hunden und Schafen über trockenes, sich im Wind biegendes, Gras. Mutter Erde legt uns ihre Schönheit zu Füßen. Auf dem Höhepunkt des Hügels erstreckt sich die Steppenlandschaft plötzlich bis zum Schwarzen Meer hinunter. Die Hafenstadt Feodosilia wird im Süden von den Ausläufern des Krimgebirges begrenzt. Wir bremsen unsere Fahrt und sind von dem Anblick begeistert und berührt. “Fantastisch”, sagt Tanja leise. “Ja”, gebe ich ihr Recht und lasse meine Augen über das beeindruckende Landschaftsbild gleiten.

Perfektes Timing

Wir lassen unsere Tretrösser den Hügel hinab in die Stadt rollen. Wir folgen der Hauptstraße. Wieder beginnt die abendliche Suche nach einer Bleibe. Hier wollen wir ein paar Tage verbringen. Vielleicht haben wir ja auch das Glück der berühmten Stadt Jalta einen Besuch abzustatten. Wir werden sehen. Eine unscheinbare Seitenstraße erhascht meine Aufmerksamkeit. “Da hinein”, sagt mir mein Gefühl. Bevor wir wieder ewigen Irrwegen folgen frage ich an einer Tankstelle nach Unterkünften. “Dort hinein und immer geradeaus”, bestätigt der Tankwart mein eben gehabtes Gefühl. In der Tat führt uns die kleine Seitenstraße in Richtung Strand. Auf dem Gehsteig entdecke ich eine Babuschka (Oma). “Frag sie”, höre ich Mutter Erde. “Na gut, dann frage ich sie”, sage ich zu mir. “Ach eine Unterkunft sucht ihr? Da kenne ich eine. Kommt, ich zeige sie euch”, antwortet die Babuschka. Wir folgen ihr ein paar hundert Meter. “Aus Deutschland kommt ihr? Mit den Rädern? Das wäre mir zu ansträngend. Warum seid ihr denn nicht mit dem Zug gekommen? Oder noch besser mit dem Flugzeug? Na ja, ist schon eine tolle Leistung. Wenn euch das Freude bereitet. Warum nicht”, redet sie während dessen unaufhörlich. Dann hält sie vor einem eisernen Tor und betätigt die Klingel. Eine Frau erscheint auf der großen Treppe die in das einladend aussehende Haus führt. “Das sind Radfahrer aus Deutschland. Sie suchen ein Zimmer. Dachte ihr habt vielleicht eines für die Beiden”, empfiehlt sie uns. Dann lacht sie herzhaft, schlägt mir wie ein Foodballspieler ihre Hand in die Meine und verabschiedet sich. Eine halbe Stunde später sind unsere edlen Rösser im Keller eingesperrt und wir genießen ein großzügiges Zimmer mit ausladenden Fenstern. Es ist sauber und gemütlich. “In zehn Minuten gibt es Abendessen”, treibt uns die Dame an der Rezeption zur Eile. Wir können es kaum glauben. Nach bald 70 Kilometern auf dem Rad, einen platten Reifen, den vielen Fotostopps, einen Kurzaufenthalt in einem Straßenkaffee, landen wir in dem kleinen privaten Hotel genau zur rechten Zeit. Ist doch kaum zu fassen. Als hätten wir diesen Tag bei einer sehr gut arbeitenden Reisegesellschaft gebucht. Das Timing war mehr als perfekt. Ob das Zufall ist? Aber wie schon gesagt glaube ich nicht mehr an Zufälle. Ich denke es hat so sein sollen. Wir haben uns nicht stressen lassen. Darin liegt ein Teil des Geheimnisses. Es liegt im fließen lassen. Sich dem Leben zu öffnen. Dinge die geschehen zu akzeptieren ohne viel zu lamentieren. Den Augenblick genießen auch wenn es mal regnet. Mensch sein unter allen Bedingungen. Sich der Ordnung des Kosmoses hingeben und zum Beispiel nicht glauben ein Straßenzug weiter gibt es ein noch besseres Hotel. Das Gefühl hat uns hierher geleitet und das Gefühl ist kein Zufall. Jeder hat es. Nur wenn wir überarbeitet sind spüren wir es kaum noch. Negativer Stress ist der Killer unseres Glücks, ist der Killer unseres Lebens und bringt uns nicht weiter. Ganz im Gegenteil hören wir nicht mehr auf die sensiblen Schwingungen in uns. Das sind die Erfahrungen die ich auf dieser Reise mehr und mehr mache. Fantastische Erfahrungen, die diese Reise bisher zu einem für uns außergewöhnlichen Erlebnis werden lässt. Ich bin mir sicher, wenn wir das Vertrauen in uns bewahren und das Vertrauen zu “Allem was ist”, werden wir noch viel Wunderbares erleben.

Zwischen dem Asowschen- und Schwarzen Meer

Nach dem Abendessen schlendern wir noch die paar hundert Meter zum Strand hinunter. Die letzten badenden Kinder springen schlotternd aus dem Wasser und werden von ihren Müttern abgetrocknet. Wir genießen die Momente hier am Strand des Schwarzen Meeres zu stehen welches schon seit Monaten unser Begleiter geworden ist. Zufrieden mit mir und meinem Leben blicke ich auf die vermeintliche Unendlichkeit dieses Binnenmeeres, welches sich zwischen Südosteuropa und Kleinasien bettet. Vermeintliche Unendlichkeit deswegen weil es mit 436.400 Quadratkilometern bald sieben Mal kleiner ist als das Mittelmeer. Es ist eigentlich nur ein Nebenmeer des Mittelmeers und mit diesem durch den Bosporus verbunden. “Was schaust du denn so nachdenklich?”, unterbricht Tanja meine Gedanken. “Nachdenklich? Vielleicht. Habe mir nur gerade überlegt das auf der anderen Seite dieses Meeres, also genau dort im Osten”, sage ich mit dem Finger deutend, “Russland und Georgien liegt.” “Und dort unten im Süden?”, will Tanja wissen. “Dort ist die Türkei. Eigentlich gar nicht weit. Soweit ich weiß sind es bis zur Türkischen Stadt Samsun nur etwas über 400 Kilometer von hier.” “Bulgarien grenzt doch auch am Schwarzen Meer?” “Ja, die Küste könnten wir von hieraus aber nicht sehen, sie liegt genau in der Richtung aus der wir gekommen sind.” “Also im Westen?” “Stimmt.” “Ist schon toll Mutter Erde so kennen lernen zu dürfen wie wir es tun”, meint Tanja. “Auf jeden Fall. Könnte mir nichts Schöneres vorstellen”, antworte ich versonnen. “Dort drüben liegt also Russland”; fährt Tanja unsere Unterhaltung fort. “Ja.” “Klingt irgendwie spannend. Meinst du nicht?” “Ja finde ich auch. Vor allem bin ich gespannt was in Russland auf uns wartet. Nur noch hundert Kilometer von hier und dann überqueren wir die Straße von Kertsch. Dann sind wir endlich in Russland.” “Ob es dort einen regelmäßigen Fährverkehr geben wird?” “Bestimmt. Ist doch eine wichtige Verbindung zwischen Russland und der Ukraine”, antworte ich. “Und wohin führt die Seestraße zwischen den beiden Ländern? Geht dort das Schwarze Meer weiter?”, will Tanja wissen. “Eine interessante Frage. Habe mir erst gestern die Karte genauer angesehen und war überrascht dort ein Meer zu entdecken von dem ich bisher noch nie gehört habe. Die Seestraße von Kertsch führt in das Asowsche Binnenmeer welches wegen seinem einstmaligen Fischreichtum von den Türken als das Fischmeer bezeichnet wurde.” “Und heute ist es wohl verschmutzt?” “Genau. Die Russen entziehen den Zuflüssen des Meeres das Wasser, um ihre Felder zu bewässern. Das ist der Grund warum es mehr und mehr versalzt. Dann kommt die chemische Verschmutzung der Industrie dazu.” “Sollte man nicht glauben dass ein Meer versalzen kann wenn man Wasser aus den Flüssen zieht?”, entgegnet Tanja. “Laut unseren Unterlagen hat das Asowsche Meer nur eine maximal Wassertiefe von ca. 16 Metern. Im Vergleich dazu liegt die tiefste Stelle des Schwarzen Meeres bei mehr als 2135 Meter und die tiefste Stelle des Mittelmeers wird sogar mit 5152 Metern angegeben. Es ist knapp zwölf Mal kleiner als das Schwarze- und 80 Mal kleiner als das Mittelmeer”, erinnere ich mich. “Es besitzt also wenig Wassermasse?” “Ja.” “Dann müsste man dieses Meer eigentlich als See bezeichnen?” “Wenn man unser entferntes Etappenziel, den Baikalsee in Sibirien, damit vergleicht hast du Recht. Der Baikal ist nur unwesentlich kleiner, besitz aber durch seine 1620 Meter Tiefe entschieden mehr Wasser.” “Interessant”, sagt Tanja nachdenklich. Wir blicken noch eine Weile auf die im Abendlicht schimmernde Wasserfläche. Dann frischt der Wind auf. Fröstelnd ziehen wir uns zurück.

In einer Straßenkneipe nehmen wir platz. Ich hole uns zwei Halba (gezapftes Bier) und eine Tüte Pistazien. Schweigend beobachten wir das Treiben in der Kneipe. Meist wird Wodka getrunken. Oft mit Orangesaft gemischt. Viele der Anwesenden sind nach kurzer Zeit hacke dicht. Trinken scheint hier Volkssport zu sein. Der Konsum von Wodka ist beängstigend. Wir haben zwar schon viel darüber gehört aber dass es so schlimm ist überrascht uns nun doch. Ein Mann verlässt die Pinte und bleibt vor uns auf dem Gehsteig stehen. Er scheint auf irgendetwas zu warten. Sein Kopf fällt ihm auf die Brust. Unvermittelt beginnt er zu schwanken. Vor und zurück, vor und zurück. Plötzlich macht er ein paar schnelle Schritte nach vorne, wenige Sekunden später läuft er rückwärts, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ein schlimmes Schauspiel. Dann kommt sein Kumpel aus der Bar, greift ihm unter den Arm und gemeinsam schwanken sie in die Dunkelheit.

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