Um Haaresbreite vom LKW zerquetscht
N 67°54'20.5" E 15°51'58.6"Datum:
14.11.2020
Tag: 104
Land:
Norwegen
Ort:
See Kjerringvatnet
Tageskilometer:
124 km
Gesamtkilometer:
7850 km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Fähre
1
Brückenüberquerungen:
9
Tunneldurchfahrten:
3
Sonnenaufgang:
08:58 Uhr
Sonnenuntergang:
14:23 Uhr
Temperatur Tag max:
8°
Temperatur Nacht min:
3°
Wind
10 km/h
Aufbruchszeit:
1:30 Uhr
Ankunftszeit:
15:15
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
Rooaaar!, brüllt es von den scharfkantigen, tropfenden Felswänden zurück, als wir wieder in einen der unzähligen Tunnel fahren. Die Fahrbahn ist sehr eng, die Beleuchtung ist ausgefallen, und es gibt keinen Seitenstreifen. Um die Geschwindigkeit zu reduzieren, schalte ich vom sechsten in den vierten Gang. Rooaaar!, faucht es durch die höhere Drehzahl des Motors noch lauter als vorher durch die geschlossenen Fenster. „Ein langer Tunnel“, stellt Tanja fest. „Gut, dass uns keine Autos entgegenkommen“, antworte ich. Durch den Temperaturwechsel zwischen Tunnel und draußen beschlagen die Fenster. Ich schalte die Scheibenbelüftung hoch. Plötzlich werden wir von Scheinwerfern geblendet. Um dem Fahrer zu warnen, betätige ich die Lichthupe. „Der blendet nicht ab!“, rufe ich erschrocken durch das grelle Gegenlicht fast blind. Ich schalte in den dritten Gang, um die Geschwindigkeit weiter zu reduzieren. Rooaaar!, kreischt es. „Ich glaube es nicht. Der spinnt doch!“, rufe ich jetzt mehrmals die Lichthupe betätigend. Rooaaar! Der kommt auf unsere Spur! Was macht der denn? Achtung!“ Rooaaar! Rooaaar! Rooaaar! „Ahhh!“ schreien wir. Ich reiße das Lenkrad nach rechts und trete mit voller Kraft in die Bremsen, als der entgegenkommende Lkw im Begriff ist, uns mit voller Geschwindigkeit zu rammen. Ich schließe die Augen, umklammere das Lenkrad und warte auf den Aufprall. Zur Felswand auf der rechten Seite fehlen nur wenige Zentimeter. Rooaaar!, brüllt es wie ein angreifender Löwe als die Zugmaschine in Haaresbreite am linken Außenspiegel vorbeidröhnt. Ohne uns tuschiert zu haben, verlieren sich seine Rücklichter im Außenspiegel. „Mein Gott! Was war das denn?“, ruft Tanja aufgeregt. „Puhhh, da haben gleich mehrere Schutzengel ihre Flügel über uns ausgebreitet“, sage ich am ganzen Körper zitternd. „Der ist anscheinend eingeschlafen“, vermutet Tanja. „Entweder er wollte sich und uns umbringen oder er ist in der Tat eingeschlafen“, meine ich, lege den ersten Gang ein und bringe die Terra wieder auf Touren. „Unfassbar. Da ist alles in bester Ordnung. Man denkt an nichts, genießt das den Augenblick, es gibt keinen Verkehr und schlagartig müssen wir um unser Leben bangen“, sage ich den Tunnel wieder verlassend. „Das zeigt uns wieder, dass wir das Leben zu jeder Sekunde genießen sollten. Man weiß nie, wann es vorbei ist. Danke, dass du so gut reagiert hast. Dachte schon, der rammt uns oder wir knallen gegen die Felswand. Gut, dass ich nicht am Steuer saß. Das hätte ich bestimmt nicht so hingebracht.“ „Wer weiß, in manchen Krisensituationen wächst der Mensch über sich hinaus und du hast in unserem Explorerleben schon oft bewiesen, dass du gerade in Krisenzeiten extrem gut reagierst. Bin mir sicher, dass du es auch heute wieder gemeistert hättest“, sage ich.
Wir befinden uns noch immer 300 Kilometer nördlich des Polarkreises in der Provinz Nordland. Zum Örtchen Å auf Lofoten, in dem wir vor knapp zwei Monaten verweilten, sind es von unserer augenblicklichen Position 150 Kilometer Luftlinie in südwestlicher Richtung. Obwohl wir uns demnach noch immer im hohen Norden Norwegens aufhalten und es bereits Mitte November ist, zeigt das Thermometer heute sechs Grad über null. Kurz vor Sonnenuntergang, um 14:00 endet die E6 im Örtchen Skarberget. Eine kleine Fähre bringt uns über den Tysfjord ans andere Ufer zum Örtchen Bogenes. Die schneebedeckte Berglandschaft, die den Fjord umringt, ist von dunklen Wolken bedeckt. Da, wo die Wolkenfront aufreißt, schimmern einige Gipfel in einem schwachen pinkfarbenen Licht. Ein kalter Wind weht über das Wasser und lässt kurze niedrige Wellen entstehen, die gegen den Bug der Fähre klatschen. Auch wenn das Wetter ungemütlich ist, uns kalter Nieselregen ins Gesicht bläst, hat die Landschaft nichts an ihrer beeindruckenden Schönheit verloren. „Was sagt die App? Gibt es hier einen Stellplatz für die Nacht?“, fragt Tanja. „Einige. Da ist eine etwas abgelegen an einem Fjord. Der sieht gut aus, aber wir müssen die Straße verlassen und ein wenig durch den Wald fahren.“ „Lass uns bitte keine Experimente mehr machen. Wir hatten heute schon genug Aufregung.“ „Auf einem Waldweg wird uns kein Lkw entgegenkommen“, scherze ich…