Schwindelfrei auf der Felsnadel
N 59°21.02.4’’ E 005°47’39.3’’Datum:
02.09.2020
Tag: 031
Land:
Norwegen
Ort:
Kleine Trollzunge
Tageskilometer:
84 km
Gesamtkilometer:
2999 km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Fähre
1
Brückenüberquerungen:
3
Tunneldurchfahrten:
1
Sonnenaufgang:
06:33 Uhr
Sonnenuntergang:
20:39 Uhr
Temperatur Tag max:
18°
Temperatur Nacht min:
12°
Aufbruch:
11:00
Ankunftszeit:
13:30
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
Hier geht´s zum Podcast!
Link zur aktuellen Reiseroute
(Für weitere Beiträge klick auf eines der Fähnchen in der Karte)
Weil wir im Südosten, Süden und Südwesten Norwegens mehr Zeit verbracht haben als geplant, müssen wir uns jetzt beeilen. Unser Ziel ist das Nordkap, vor allem wollen wir Polarlichter sehen. Das ist für uns der Grund, die berühmte Trolltunga, übersetzt Trollzunge, ein spektakulärer, horizontaler Felsvorsprung, nicht zu besuchen. Im Netz haben wir von der kleinen Trollzunge gelesen, die ebenfalls eindrucksvoll sein soll, die man aber in einem Nachmittag erreichen kann. „Wollen wir das als Alternative einplanen?“, frage ich Tanja. „Auf jeden Fall“, antwortet sie voller Vorfreude.
Wir verlassen das Geburstagscamp, bunkern an einer Tankstelle Wasser und Diesel und fahren zum kleinen Ort Hindaråvåg. Im Zentrum des Dorfes finden wir den beschriebenen Parkplatz vor einem Supermarkt. Weil die kleine Trolltunga nicht bekannt ist oder wegen der Pandemie weniger Reisende unterwegs sind, ist unsere Terra das einzige Fahrzeug. „Dort drüben ist wieder so ein Automat. Ob die hier auch Geld fürs Parken verlangen?“, wunder ich mich. „Kurzzeitparken von 14:00 Uhr bis 20:00 Uhr kostet 14,- € und wenn wir über Nacht bleiben wollen 25,- €“, liest Tanja die Information auf der Anzeige vor. „Die spinnen. Lass uns eine andere Parkmöglichkeit suchen“, entscheide ich. Nur 300 Meter weiter ist neben einer Sportanlage eine große geschotterte Fläche, auf der auch Busse und ein paar Lkw stehen. „Ein guter Platz“, freue ich mich. Wir schultern unsere Rucksäcke. In meinem habe ich jetzt auch unsere Drohne geladen und hoffe darauf, endlich ein paar Aufnahmen von oben schießen zu können. „Wo gehts zum Himakånå“, fragen wir ein paar Wanderer, die uns entgegenkommen und offensichtlich schon auf der kleinen Trollzunge waren. „Immer der Straße nach. Dann kommt ein Wegweiser nach links in die Berge“, antworten sie und wünschen uns eine gute Tour.
Ein breiter geschotterter Weg führt uns steil nach oben. Schon nach 10 oder 15 Minuten breitet sich unter uns die wunderschöne Küstenlandschaft aus. Im Vergleich zum Kjeragbolten und dem Preikestolen ist der Wanderweg superleicht und anfänglich breit wie eine Autobahn. Wir passieren ein paar Tierzäune, durchqueren ein Gehege, in dem vor Bullen gewarnt wird. Uns begegnen allerdings nur friedliche Schafe. Dann führt der jetzt schmalere Weg in ein Waldstück. Gut vorankommend erreichen wir nach ca. 50 Minuten den Gipfel. „Wow was für ein Ausblick“, rufe ich überrascht, obzwar wir mittlerweile schon ein wenig verwöhnt sind. „Norwegen bietet wirklich überall wunderbare Naturschätze und manche kann man ohne allzu große Anstrengung erreichen“, meint Tanja. „Dort drüben ist die kleine Trollzunge, von der ich gelesen habe. Lass uns gleich mal hingehen“, sage ich. Vorsichtig betreten wir die Felsnadel, die ein paar Meter waagrecht ins Nichts geht und an deren Ende es für ein paar Hundert Meter senkrecht abfällt. Würde man hier runter stürzen, würde man am Ufer des direkt unter uns liegenden Sees landen. Vorsichtig tasten wir uns nach vorne. Auch hier ist absolute Schwindelfreiheit angesagt. Wegen der starken Windböen müssen wir darauf achten, nicht ins Schwanken zu geraten. Fasziniert von dem sagenhaften Blick stehen wir da. „Welches Meer ist das?“, fragt Tanja auf die endlose blaue Fläche im Westen deutend. „Denke, da treffen sich die Nordsee und das europäische Nordmeer, wobei das Nordmeer wiederum ein Randmeer vom Atlantischen Ozean ist.“ „Bin wirklich froh, meinen wissenden Reiseleiter dabei zu haben.“ „Ha, ha. Habe ich gestern Abend gelesen. Wäre super, wenn ich mir das alles merken könnte“, antworte ich. Wir schießen ein paar Fotos und weil wir diese außergewöhnliche Felsnadel im Sonnenuntergang bestaunen möchten, legen wir uns auf den nackten, von der Sonne aufgewärmten Felsen, um zu warten. „Aus dem Drohnenfliegen wird wegen den heftigen Windböen wieder nichts oder?“, bricht Tanja nach einer Weile das Schweigen. „Zu riskant. Sie würde wahrscheinlich irgendwo dort draußen im Atlantik notwassern“, sage ich mit Bedauern in der Stimme. „Du wirst schon noch die Gelegenheit dazu bekommen. Wir sind ja noch gut zwei Monate hier.“
Nachdem es auf dem Felsen langsam kühl wird, setzen wir uns auf eine Bank, die jemand dort direkt am Abgrund aufgestellt hat. Vier Stunden sitzen wir da, unterhalten uns über Gott und die Welt, genießen die menschenleere Natur, hören ab und an Geräusche der Zivilisation, die vom Wind aus dem Tal zu uns heraufgetragen werden, als sich die Sonne dem oberen östlich gelegenen Felsgrat entgegenneigt und den Himmel in ein Farbenspektakel erscheinen lässt. „Jetzt oder nie“, meine ich, springe auf, schnappe mir die Kamera, während Tanja mit Ajaci die Felsnadel besteigt und ich von ihr im Zauber des Abendlichtes ein paar unvergessliche Aufnahmen schießen kann…