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Schmieden Pläne, Schnüffelnde Straßenkinder

N 44°26'48.2'' E 026°03'41,6''

Geschehnisse vom 23.06.2006 bis 24.06.2006

Ich nutze die Morgenstunden, um mich um das neue Archivierungsprogramm zu kümmern. Was da heißt noch am gleichen Tag die mit den Leicakameras fotografierten Bilder auf den Laptop zu überspielen und sofort richtig zu beschriften. Obwohl das neben dem Schreiben eine zusätzliche Arbeit ist und die Reise dadurch einen Tick langsamer vorangeht bedeutet das für uns eine enorme Arbeitserleichterung. Früher hatten wir nach jeder Reise tausende von Bildern die entwickelt, dupliziert und mit der Hand beschriftet werden mussten. Heute arbeiten wir mit einem Archivierungsprogramm welches mir hilft die Bilder zu nummerieren, mit Schlagwörter zu versehen und Untertitel zu vergeben. Wenn wir jetzt nachhause kommen sind unsere Bilder fertig archiviert und wir können sofort mit der Arbeit beginnen. Vor Jahren war die Qualität eines Dia unschlagbar. Die R9 mit digitaler Rückwand von Leica ist heute allerdings so überzeugend gut, dass wir in Zukunft auf das Dia verzichten können und somit schneller sind. Vor allem sparen wir mit der digitalen Verwaltung ungeheuer Platz.

“Komm, verfall nicht schon wieder in dein altes Fahrwasser der pausenlosen Arbeit. Lass uns zum Mittagessen gehen”, sagt Tanja, worauf ich den Computer ausschalte. “Du hast recht, habe einen Bärenhunger”; antworte ich und freue mich auf etwas Bewegung. Wir spazieren durch die sommerlich heiße Stadt zu einem Restaurant welches wir auf unserem gestrigen Ausflug entdeckt hatten. Wir lassen uns Zeit. Müssen erst den Stress der Reisevorbereitung abbauen und uns vor allem akklimatisieren. Bukarest ist ein hässliche Stadt mit vielen renovierungsbedürftigen Häusern und kaputten Straßen, trotzdem fühlen wir uns wohl und freuen uns ungemein wieder unterwegs sein zu dürfen.

Obwohl es schon nach 12:00 Uhr ist sind wir die einzigen Gäste des Restaurants. Dennoch dürfen wir bestellen. Wir nutzen die Zeit des Wartens, um über unsere weitere Reise zu sprechen. “Es ist eine gute Idee von dir dem gefährlichen Verkehr auszuweichen indem wir mit dem Sonnenaufgang starten”, meint Tanja. “Als weiteren Sicherheitsfaktor sollten wir noch dazu den Sonntag als Aufbruchstag wählen. Am Sonntag fällt der gesamte Berufsverkehr weg und wir werden die Straßen für uns alleine haben.” “Dann löst sich der Alptraum durch eine stark befahrene Stadt radeln zu müssen in Wohlgefallen auf.” “Ja, macht oftmals keinen Sinn sich schon Wochen vorher den Kopf zu zerbrechen. Ist nicht selten verschwendete Energie”, meine ich nachdenklich und freue mich über die simple und gute Lösung Bukarest mit unseren schwer beladenen Rädern hinter uns lassen zu können. “Und was sind deine weiteren Pläne?”, möchte Tanja wissen. “Wie meinst du das?” “Na ja, ich meine welche Richtung sollen wir radeln? Willst du noch immer ans Schwarze Meer?” “Klar, wir wollen doch der Donau bis zur Mündung folgen. Auch wenn wir nicht an ihrem Ufer entlangfahren können möchte ich auf jeden Fall durch das Donaudelta. Außerdem können wir dann an irgendeinem netten Badeort erstmal ein paar Tage entspannen. Ich denke wir sollten die Küstenstadt Konstanza anpeilen. Was meinst du?” “Guter Vorschlag. Oh schau mal was der Kellner uns bringt. Hast Du zwei Schnitzel bestellt?”, fragt Tanja. “Bestimmt nicht”, antworte ich mich wundernd, den Kellner fragend ansehend. “Entschuldigen sie. Ich weiß sie haben nur eine Portion bestellt und für ihre Frau einen Salat. Hat der Koch falsch verstanden. Wenn es ihnen nichts ausmacht lasse ich beide Schnitzel da. Sie müssen natürlich nur eins bezahlen”, erklärt der nette Kellner etwas verlegen in gut verständlichem Englisch. In sehnsüchtiger Erwartung in wenigen Augenblicken gleich zwei Mahlzeiten in mich hineinschaufeln zu dürfen knurrt mein Magen wie ein gefährliches Raubtier. Ich nicke dem Kellner mit erwartungsvollen Augen zu worauf er sich mit zufriedenem Lächeln zurückzieht. “Meinst du wir können ihm trauen?” “Klar, glaube nicht, dass sie uns am Ende trotz seiner freundlichen Zusicherung das Doppelte verrechnen”, antworte ich ungeduldig kauend.

“Oh Gott, schau Dir das an. Da vergeht mir schlagartig der Appetit”, ruft Tanja nur Sekunden später. “Was? Was ist denn jetzt schon wieder?”, ärgere ich mich nachdem gerade mal ein paar Bissen in den endlosen Tiefen meines ungeduldigen Verdauungstraktes gelandet sind. “Da drüben, gleich neben dem Restaurant. Siehst du die armen Kinder?” “Ja. Und?” “Na schau doch mal genauer hin!” “Oh weh, die schnüffeln Leim”, flüstere ich. “Das müssen die Straßenkinder Rumäniens sein von denen man uns erzählt hat. In ihren armseligen Lumpen wirken sie schrecklich unterernährt. Mein Gott, wir sitzen hier, hauen uns den Bauch voll, während diese Kinder ohne Zukunftsperspektive unter der Brücke leben müssen und ihre Gesundheit ruinieren”, sagt Tanja auf einmal sehr traurig. Ich sehe auf meine beiden Schnitzel und komme mir plötzlich schuldig vor. Mit weit weniger Elan kaue ich lustlos vor mich hin. Für den Moment ist unsere Euphorie verflogen. Gebannt beobachten wir von unserem sicheren Ort die jungen Menschen, die in der Gesellschaft keinen Platz gefunden haben. Es sind etwa 12 Kinder, schätzungsweise zwischen 7 und 14 Jahre alt. Am liebsten würde ich über die Straße gehen und ihnen eins meiner Schnitzel abgeben, doch fehlt mir ehrlich gesagt schlichtweg der Mut dazu. Die Bedenken von ihnen dann auch noch überfallen zu werden sind nicht unbegründet. Schon öfter sind Tanja und ich während unseren Reisen in die Slums gegangen, um den Armen mitgebrachte Kleider und Nahrung zu schenken. Manchmal war unser Einsatz gefährlich, und in einigen Fällen haben wir Glück gehabt gerade noch mit heiler Haut raus gekommen zu sein. Es macht also keinen Sinn mit einer Kamera um den Hals, Geld in den Taschen und gut gekleidet sich in die Höhle des Löwen zu begeben und den heiligen Samariter spielen zu wollen. Am Ende dann selber halb nackt dazustehen wäre noch das geringste Übel. Weil wir nun das erste Mal in einer rumänischen Großstadt mit Leid und Elend konfrontiert sind und bisher keine Chance hatten uns an solche Tatsachen zu gewöhnen, sitzen wir wie gelähmt da. Die Kinder laufen wie in Trance hin und her. Jeder von ihnen hat eine Schnüffeltüte unter der Jacke oder dem Hemd. Immer wieder stecken sie ihre Nase in den Beutel und nehmen einen kräftigen Atemzug. Im Regelfall schnüffeln sie billigen Leim. Manchmal auch Benzin. In Australien stehlen die Aborigines Benzin aus den Autotanks, um sich daran zu berauschen. Ein Grund warum so mancher Australier absperrbare Benzintanks hat. Keine Ahnung ob das auch hier in Rumänien ein Problem ist. Schlimm sind in jedem Fall die Auswirkungen dieser schrecklichen Sucht. Schon in jungen Jahren zerstören diese Menschen ihre Lungen und Gehirn. Unrettbar und unwiederbringlich. Plötzlich löst sich einer der Jungs von der Gruppe, versteckt seinen Schnüffelbeutel unter der Jacke und kommt zur Straße. Als er sie quert beginnt er ganz schrecklich zu hinken. Ein Arm verschwindet unter der Jacke, so dass er wie ein Einarmiger aussieht. Die Verwandlung ist perfekt. Im nu ist aus ihm ein schwer behinderter Jugendlicher geworden. Als die Ampel auf rot schaltet und die Autos zum stehen kommen schlurft er durch die schmalen Karosseriegassen. Weil es Sommer ist haben viele Fahrer ihr Fenster geöffnet. Die Hand des Bettlers geht an den Mund dann in den Fahrgastraum. Manchmal legt der Fahrer oder Beifahrer eine Münze hinein. Dann humpelt die traurige Gestalt zum nächsten und zum nächsten Auto, bis die Ampel wieder auf grün schaltet und sich die stinkende Blechlawine wieder in Bewegung setzt. Rechtzeitig hat sich der Bettelprofi auf den Gehsteig gerettet und wartet darauf bis die Ampel wieder umschaltet. Gebannt beobachten wir das Schauspiel. Noch mehr Kinder haben sich jetzt dazugesellt. Sie unterhalten sich und scheinen das Revier unter sich aufzuteilen. Es dauert nur wenige Augenblicke bis sie ausströmen, um sich die große Kreuzung vorzunehmen. Einige der Kinder laufen über die Gehwege, halten hier und da die Hand hin und entfernen sich aus unserem Sichtfeld. Die Rumänen laufen mit geschäftigen Treiben vorbei, ab und an hält einer an, holt ein paar Lei aus der Tasche, legt sie in die bittende Hand und geht weiter. Genau diese Straßenkreuzung gewährt uns für wenige Augenblicke einen Blick in eine fremde Welt. Wenige Minuten später ist der Spuk vorbei. Die Kinder haben sich nahezu alle verdünnisiert. Nur der Hinkende schleicht noch durch die Autogassen.

“Ich möchte gerne das Restaurant verlassen”, meint Tanja. “Wohin sollen wir denn jetzt gehen? Wir befinden uns hier mitten in Bukarest und kennen uns nicht aus. Das Einzige was uns bleibt ist ins Hotel zurück. Dafür ist es aber zu früh”, sage ich leise. Nachdem wir bezahlt haben laufen wir lustlos und mit ungutem Gefühl durch die Straßen. Hinter jeder Häuserecke erwarten wir von der Bande der Schnüffler überfallen zu werden. Ich rede mit Tanja und versuche zu erklären, dass wir keine Angst haben brauchen. Das die Straßenkinder von Bukarest in manchen Ortsteilen ein Teil des Stadtbildes sind und wir nichts zu befürchten haben, zumindest nicht am Tag. Wir erreichen ein Einkaufszentrum. Mitten auf dem Parkplatz sind Bierbänke und Sonnenschirme aufgestellt. Der wohl riechende Rauch von Gebratenem zieht sich wie eine Nebelwand über den Parkplatz und vereint sich mit den Abgasen. Die Menschen kommen mit ihren schweren und vollen Einkaufstüten aus dem nahen Supermarkt und setzen sich in den Schatten eines Schirms. Es wird Bier getrunken. Dazu gibt es gebratenes gut gewürztes Hackfleisch, ein paar Scheiben Weißbrot und eine süßsaure Gurke aus dem Glas. Wir lassen uns in der Masse der gestressten Käufer an einem Tisch nieder, trinken Bier aus dem Pappbecher und beobachten das Leben. Es dauert ein wenig bis wir unser Erlebnis mit den schnüffelnden Kindern verdaut haben und unsere Stimmung sich wieder auf normalen Level befindet. Wir reden über Rumänien. Die Menschen, Bukarest, die Stadtbevölkerung und darüber was uns in den kommenden Monaten wohl widerfahren wird. “Wie es wohl in Moldawien aussieht?”, fragt Tanja plötzlich. “Keine Ahnung. Soll ein sehr armes Land sein. Bin trotzdem gespannt. Der Mann an der Hotelrezeption hat mir gestern erzählt, dass die Leute dort sehr nett sein sollen”, plaudere ich. Als sich gegen 21:00 Uhr die Sonne hinter den hässlichen, grauen Häusern versinkt, machen wir uns auf den Weg zu unserem Hotel.

Wir duschen den Staub vom Körper und begeben uns frühzeitig ins Bett. Nachdenklich liege ich da. Durchs offene Fenster dringen die Geräusche einer Großstadt. Ein Mann schreit fürchterlich, eine Frau geifert zurück. Direkt unter unserem Hotel befindet sich ein kleines unbebautes Stück Land. Es ist mit Unkraut dicht bewachsen. Im Vorbeigehen haben wir darin eine Hütte aus Pappe entdeckt. Wer dort wohl wohnt? Ob die Zankerei aus dieser behelfsmäßigen Behausung kommt? Ich wälze mich hin und her. Die kleine Klimaanlage haben wir ausgeschalten weil sie einen verlorenen Kampf gegen die stickige Hitze geführt hat. Lieber das offene Fenster mit dem Lärm von draußen in Kauf nehmen. Welche Grenze sollen wir von Rumänien nach Moldawien nehmen? Ob die Beamten unsere Ausrüstung filzen? Ob wir unsere Kameras und das Satellitentelefon heile hinüberbringen? Geht es mir durch den Kopf. Bis dahin haben wir noch ein paar hundert Kilometer vor uns. Mach dir nicht soviel Gedanken. Wer weiß schon wohin uns der Fluss des Lebens treibt. Beruhige ich mich und versuche trotz des Geschreis und dem Gestöhne des Straßenlärms zur Ruhe zu kommen. Gott sei Dank habe ich zu diesem Zeitpunkt nicht die geringste Ahnung was das Schicksal mit uns geplant hat. Ich würde mit Sicherheit für den Res der Nacht kein Auge zumachen.

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