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Ukraine/Dzhankoi

Rückenwind , Trostlosigkeit und Müll

N 45°42'33.7'' E 034°23'23.8''

Es hat die ganze Nacht geschüttet wie aus Eimern. In unserem heruntergekommenen Doppel-Ostblock-Deluxe-Apartment ist es noch ungemütlicher als vorher. Als wir aufwachen hört es zu regnen auf. Starker Wind fegt um den Plattenbau. “Hoffentlich haben wir den nicht gegen uns”, sagt Tanja verschlafen. “Ich hoffe auch”, antworte ich wortkarg. Dann machen wir unsere tägliche Dehnungs- und Rückengymnastik. Wir frühstücken im Zimmer. Es gibt den leckeren Tee von Sonnentor, den wir in unseren Taschen mitradeln und Plätzchen die wir gestern gekauft haben. Tanja verleibt sich ein Rapunzelmüsli ein.

Nachdem wir unser gesamtes Gepäck inklusive der Räder und Anhänger nach unten geschafft haben werden wir von einer unangenehmen Nasskälte empfangen. Noch bevor wir die Bikes beladen ziehen wir uns die Windjacken über. Da ich auch heute kurze Radhosen trage schütze ich meine Knie mit Knielingen. Sie sind bei diesem wechselhaften Wetter eine hervorragende Übergangslösung. “Auf geht’s”, rufe ich, worauf wir unsere Rösser aus der hässlichen Stadt treiben. Schon hundert Meter weiter kommen uns zwei junge Männer entgegen. Sie betrachten uns ernst und interessiert. Der Größere mit einer blutverschmierten Nase. Wahrscheinlich endete die durchzechte Nacht in einer heftigen Schlägerei. Die Zwei sind ein erschreckender Anblick und veranlassen uns diese Siedlung noch schneller hinter uns zu bringen. Gott sei Dank bläst uns der heftige Wind in den Rücken und somit werden die halbzerfallenen Wohnblocks und Häuser in unseren Rückspiegeln schnell kleiner. Dunkle Wolken ziehen über das Land. Ab und an spitzt die Sonne durch. Es dauert nicht lange und die blauen Wolkenlöcher werden zusehends größer. Der Tag gewinnt an Wärme. Der konstante Wind bleibt uns erhalten und treibt die Drahtesel mit traumhaften 20 bis 30 Stundenkilometern über den groben Asphalt. Wir kommen uns wie Surfer auf dem Meer vor nur das uns die Segel fehlen.

Trostlosigkeit und Müll

Es geht vorbei an unendlich wirkende abgeerntete Felder. Dunkle Erde zieht sich bis zum Horizont. Unterbrochen nur von zerfallenen Ruinen ehemaliger Kolchosen. Ein einsamer Hirte treibt seine Rinder durch die Ruinenwelt. Meine Beine kreisen. Treten die Kurbel und lassen das eigenwillige und traurige Bild vorbei gleiten, nur um mich in eine neue Variante eines ähnlichen Bildes zu befördern. Ich blicke auf meine Oberschenkel, blicke auf die sich ständig wiederholende Landschaft. Meine Gedanken beginnen sich zu bewegen. Durch die Eintönigkeit und den vielen zerfallenen Häuser und Farmruinen angeregt. Was hat die Politik hier verbrochen? Bis heute sind die Auswirkungen der von Stalins rigorosen Durchführung seiner Kollektivierung, die im Jahre 1928 begonnen hat, zu sehen. Ich habe davon gelesen, dass die Zwangskollektivierung zur größten Agrarrevolution der Geschichte führte. Sechs Zehntel aller Höfe und circa elf Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer. Aus 18,8 Millionen Bauernhöfen mit 117 Millionen Hektar Ackerland wurden damals 242.000 Kolchosen gebildet. Dem Bauern selbst hat man nur ein Wohngebäude gelassen. Er durfte nicht mehr als 0,3 Hektar Gartenland und eine geringe Zahl Nutztiere behalten. Dieses System führte schon 1950 zu erheblichen Versorgungskrisen der Bevölkerung. Auch die spätere Zusammenlegung der Kolchosen, um sie weitgehende zu mechanisieren, brachte keine Verbesserung. Der Kommunismus hat kläglich versagt und den Generationen die damals gelebt haben das Leben nicht leicht gemacht. In Rumänien erzählten uns die Menschen: “Seht selbst was uns der Kommunismus gebracht hat. Alles ist kaputt. Wir haben mindestens 40 bis 50 Jahre verloren. Ihr hingegen, mit eurer freien Marktwirtschaft, konntet euch entwickeln. Euch hat man keine Steine in den Weg gelegt. Wir brauchen noch Jahrzehnte, um euren Standard zu erreichen. Und hätten wir gleiche Bedingungen gehabt, hätten wir es genauso weit gebracht. Wir sind genauso fleißig wir ihr. Wir sind nicht dümmer. Es war nur dieses schreckliche System was und den Fortschritt bis heute verwehrte.”

Meine Augen gleiten weiter über die Ebene. Aus einer am Straßenrand demolierten Bushaltestelle weht Uringeruch. Dann wieder die Betonplatten und Steinmauern die sich anklagend aus der Erde erheben. Alles bleibt sich selbst überlassen. Die meisten Straßen, auch hier auf der schönen Halbinsel Krim, werden seit tausenden von Kilometern mit Müll gesäumt. Alles wird weggeworfen. Flaschen, Plastik, Tüten ebenfalls aus Plastik und weiterer Unrat. Selbst auf dem einen oder anderen Feld wird das Zeug einfach unter die Erde gepflügt. Ob das auch etwas mit dem Kommunismus zu tun hat? Warum werfen die Menschen alles was sie nicht mehr gebrauchen können fort. Einfach so. Aus dem Auto, als Fußgänger, vom Rad, Moped, aus dem Bus, alle werfen hier alles fort. Ölwechsel an der Straße. Autowaschen in einem Fluss. Fabriken die Abwässer ungeklärt und ungefiltert in die Wasseradern leiten. Ein Alptraum für unsere Mutter Erde. Und nicht nur für unseren Planeten ist das ein Alptraum, sondern für den Menschen selbst. Ein Alptraum von Menschenhand gemacht. Man kann kaum glauben, das Menschen die solch einen ungeheuren Müll produzieren, und ihn gerade da wo sie sich befinden fallen lassen, ihr Land lieben. Es ist ein wirkliches Trauerspiel und lässt einen fast ein wenig verzweifeln. Warum nur wirft der Mensch alles in die Natur und selbst auf seine Felder was er nicht mehr braucht? “Von 100 Problemen die wir hier in der Ukraine haben sind 99 ungelöst. Die Politiker denken nur an sich selbst, an ihre Macht und daran wie sie das Volk auf ihre Seite ziehen können. Es geht um ein funktionierendes Gesundheitssystem, Arbeit für alle, eine Wohnung und natürlich ein schönes Auto. Das ist es was die Menschen haben wollen. An Umweltschutz wird da nicht gedacht. Das kommt an letzter Stelle. Es liegt an der Bildung. Es liegt daran das die Eltern es den Kindern vorleben wie man den Abfall aus dem Auto wirft. Dort müsste angefangen werden, um unser Land sauber zu bekommen”, erzählt uns eine junge Geschäftsfrau aus Kiew.

Sergei aus Sibirien

Auf der kerzengeraden Strecke kommt uns ein bepackter Radfahrer mit Helm entgegen. Wir sind erstaunt hier einen offensichtlichen Langstreckenradler anzutreffen. Sofort halten wir an. “Hallo. Ich heiße Sergei und komme aus Sibirien”, stellt der etwa fünfzigjährige agile Mann sich vor. “Aus Sibirien? Bist du von Sibirien bis hierher geradelt?”, frage ich neugierig. “Nein, nein. Ich habe in Kerch angefangen und möchte die Krim umrunden. Habe insgesamt 21 Tage Zeit”, erklärt er uns. “Darf ich euch fotografieren?” “Na klar”, antworten wir begeistert. Sergei legt sein Rad auf die Seite und wühlt alles was er besitzt aus seinen Satteltaschen. Dann, ganz zu letzt, findet er seine Kamera. Wir posieren bei starkem und kaltem Wind für ein Bild. “Wenn ihr nach Sibirien kommt würde ich euch gerne einladen. Wann werdet ihr dort sein?”, möchte er wissen. “Kein Ahnung. Wir wissen nicht was uns auf dem langen Weg bis dorthin alles widerfährt. Wir haben es aufgegeben Zeitpläne zu schmieden und uns davon unter Druck setzen lassen. Wenn wir dort sind rufen wir dich an”, sage ich. Sergei der als Major ebenfalls in Ostdeutschland gedient hat möchte noch mehr über unsere Reise wissen. Da wir aber völlig nass geschwitzt sind und im Wind stehen beginnen wir zu frieren und wollen weiter. Sergei hat heute das Pech gegen den Wind radeln zu müssen. Deswegen ist er wärmer angezogen als wir. Zur Erklärung muss ich sagen, dass derjenige der mit dem Wind fährt und ungefähr die gleiche Geschwindigkeit radelt wie der Wind besitzt, glaubt sich in einem luftleeren Raum zu befinden. Man hat das Gefühl als herrsche völlige Windstille. Nur wenn man anhält spürt man sofort die Kälte des Windes. Sergei versteht. Wir verabschieden uns und wünschen uns gegenseitig viel Gesundheit, Glück und immer anhaltenden Rückenwind.

Nach 55 Kilometern legen wir heute die erste Rast an einer Tankstelle ein. Auch hier steht eins der rotblauen Gastronomiezelte. Wir dürfen uns reinsetzen und verzehren eine der leckeren Fertignahung von Travellunch. Der junge Wirt dreht seine Stereoanlage so laut, bis uns das Trommelfell schmerzt. In der Ukraine liebt man es überall und zu jeder Gelegenheit furchtbar laute, meist westliche Musik, aus den oftmals überdimensional großen Lautsprechern hämmern zu lassen. Tanja bittet den 20 Jährigen um Milde, worauf er den Regler etwas herunter dreht.

Nach Rekordzeit erreichen wir nach 90 Kilometern unser heutiges Etappenziel die Stadt Dzhankoi. An einer Tankstelle fragen wir wo sich das Hotel befindet. “Es gibt vier Hotels in unserer Stadt. Zwei kann ich ihnen empfehlen. Eines geht und die Zimmer in der Innenstadt meidet ihr besser”, verstehen wir. Am Busbahnhof bietet man uns eine Bude für 40 ? die Nacht an. “Und wie ist es dort?”, fragt Tanja als ich von meinem Erkundungsgang zurückkomme. “Die Frau muss das Wort “Unfreundlich”, erfunden haben”, antworte ich. Um uns zu beraten bleiben wir eine Weile neben unseren Rädern stehen. Immer mehr Einheimische kommen und fragen nach dem Woher und Wohin. Wir antworten brav bis zwei Betrunkene beginnen an unseren Rädern herum zu schrauben. Ohne Ärger zu produzieren lächeln wir sie freundlich an und verabschieden uns. “Geht in das Hotel Woksall”, hören wir jetzt immer öfter. Eine Stunde später landen wir am Bahnhof. “Dort ist das Woksall”, zeigt eine Frau auf ein Gebäude. “Hat uns der Tankwart nicht gesagt wir sollen das Hotel hier meiden?”, frage ich. “Hat er”, meint Tanja. “Eine gute Möglichkeit Russisch zu lernen. Wusste nicht das Woksall Bahnhof heißt”, scherze ich. Während Tanja wie gewohnt die Ausrüstung in den ersten Stock schleppt und ich die Räder entlade und in den Gepäckraum der Bleibe sperre, macht mich eine etwa 60 Jahre alte Prostituierte an. “Ach aus Deutschland bist du. Das ist aber schön. Ich liebe Deutschland. Und die Männer von dort liebe ich auch”, höre ich aus ihren faltigen, feuerrot geschminkten Mund. Weil ich nicht weiß was ich darauf sagen soll lächle ich nur verlegen und beschäftige mich weiter mit den Rädern. Die alte Dame mit ihrer wasserblonden Mähne scheint das zu motivieren. “Du bist aber ein Netter. Ach ich liebe es jemanden aus Deutschland zu treffen”, höre ich. “Düsseldorf, Köln, Berlin, bitte, ja”, haut sie verschwenderisch mit ihren Deutschkenntnissen um sich als Gott sei Dank Tanja auftaucht. Die beleibte Frau mit ihren klimpernden Ketten sieht Tanja an. “Deine Frau?”, “Ja, meine Frau”, antworte ich erleichtert.

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