Orkan
N 69°27’24.4’’ E 017°20’50.7’’Datum:
27.10.2020 bis 28.10.2020
Tag: 086 – 087
Land:
Norwegen
Ort:
Senja Steinfjord
Gesamtkilometer:
7456 km
Sonnenaufgang:
07:47 Uhr bis 07:52
Sonnenuntergang:
15:21 Uhr bis 15:16 Uhr
Temperatur Tag max:
4°
Temperatur Nacht min:
-3°
Orkanböen:
120 km/h
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
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„Müssen wir uns Gedanken machen?“, fragt Tanja mitten in der Nacht, als die Terra urplötzlich von heftigen Sturmböen geschüttelt wird. „Wenn´s nicht schlimmer wird, glaube ich nicht“, antworte ich auf die furchteinflößenden Geräusche, die der Sturm verursacht lauschend. „Er hat sich verspätet“, sage ich leise. „Wer hat sich verspätet?“ „Na der Sturm. Laut Wettervorhersage sollte er eigentlich schon gestern übers Land fegen.“ „Hat die App verraten, wie stark er werden soll?“ „Orkanstärke.“ „Orkanstärke? Du machst doch Scherze?“ „Nein, keine Scherze, aber ich glaube, das ist für die Terra kein Problem“, versuche ich Tanja zu beruhigen. „Was bedeutet Orkanstärke? Von welchen Windgeschwindigkeiten sprechen wir?“ „Bis zu 120 km/h. Das ist ein Sturm der Stärke 11. Wir hatten in den vergangenen Wochen bereits Windgeschwindigkeiten von ca. 100 km/h ohne Problem überstanden. Die Terra wiegt voll beladen gut und gern 6.2 Tonnen. Die werden nicht so schnell umgeweht.“ „Und, wenn uns herumfliegende Teile treffen?“, fragt Tanja nervös. „Welche Teile? Wir sind direkt an einem Strand. Außer Sand fliegt hier nichts. Und wenn es schlimmer wird, können wir uns hinter dem Toilettenhäuschen verstecken. Das habe ich mir schon vor Tagen angesehen. Es sieht sehr stabil aus und hat offensichtlich schon den einen oder anderen Sturm schadlos überstanden.“ „Das kleine Toilettenhäuschen soll uns Schutz bieten? Das glaubst du doch selbst nicht.“ „Es bricht den Wind, daher wird es im Worst Case ganz bestimmt Schutz bieten.“ „Ich weiß nicht, woher du die Zuversicht nimmst, aber ich vertraue deinem Urteilsvermögen“, antwortet Tanja. „Uns wird nichts geschehen. Da bin ich mir sicher. Lass uns versuchen, ein wenig zu schlafen.“ „Schlafen? Bei diesem Lärm und dem ständigen Geschaukel?“ „Du kannst doch immer und überall schlafen, oder hast du vergessen, dass du selbst im Nebenraum einer russischen Karaokebar, aus der die ganze Nacht extrem lautes Gejaule hallte, welches sogar unsere Betten vibrieren ließ, tief geschlafen hast?“ „Kann mich nicht daran erinnern. Habe ja geschlafen.“ „Ha, ha, ha gut, dass du deinen Humor nie verlierst“, antworte ich amüsiert. Whhhooouuu!, knallt eine weitere Fallböe von den Bergzügen hinter uns ins Tal und trifft uns mit voller Wucht. Die Terra ächzt, neigt sich unter dem harten Schlag zur Seite und richtet sich Sekundenbruchteile später wieder auf. „Das war heftig“, sage ich, krabble aus dem Bett, um nach draußen zu sehen. Es ist stockdunkel, keine Polarlichter, keine Sterne oder Mond beleuchten die sonst so malerisch aussehende Bucht. Außer der unheimlich wirkenden Schwärze ist nichts zu erkennen. Ich konzentriere mich. War da etwas Helles? Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sehe ich sie, die weiße Gischt, die wie ein wildgewordenes Geistwesen über das tosende Meer rast. „Kann das Meer unseren Stellplatz überfluten?“, erschreckt mich Tanjas Frage. „Ich glaube nicht. Der Strand liegt etwas tiefer, aber wenn das Wasser kommen sollte, machen wir uns hier weg“, antworte ich. „Warum nicht gleich?“ „Du meinst wir sollten den Platz jetzt sofort verlassen?“ „Ja.“ „Glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, bei orkanartigen Sturmböen zur Küstenstraße hochzufahren. Wer weiß, was da alles von den Bergen runterkommt. Das könnte noch viel gefährlicher sein als hier den Sturm auszusitzen. Unabhängig davon wissen wir nicht, wo wir Schutz suchen sollen. Es ist pechschwarz da draußen und wir kennen die Gegend nicht im Geringsten. Das Einzige, was ich mir vorstellen könnte, ist, zum Tunnel hochzufahren, um uns darin zu verstecken. Aber noch sind wir hier sicherer als irgendwo anders“, sage ich.
Hhhchchschsch!, höre ich das helle, dauerhafte Zischen des Sandes, der über unser mobiles Heim rauscht. Es fühlt sich so an, als würde die Terra sandgestrahlt. „Hoffe der Lack nimmt keinen Schaden“, geht es mir durch den Kopf. Ich lege mich wieder ins Bett. An Schlaf ist nicht zu denken. Aufmerksam und in höchster Alarmbereitschaft lausche ich auf jedes Geräusch. Whhhooouuu!, werden wir von einer weiteren, harten Fallböe getroffen. Hhhchchschsch!, rauscht es Sekundenbruchteile später. Der Wind trifft uns mittlerweile von beiden Seiten. Aus den Bergen hinter uns hämmern die Fallböen ins Tal und im Norden, also vor uns, werden wir von den Orkanböen getroffen, die durch die Bucht vom offenen Nordmeer hereinrasen. Die hohen Bergflanken links und rechts des Steinfjords scheinen auf die Sturmböen wie eine Art Verstärker zu wirken, denn sie verengen den Zugang zum Land. Mit schreckenserregender Gewalt trifft uns plötzlich eine dieser Böen. Die Terra beugt sich kurz zur anderen Seite, wo sie unmittelbar danach von einer Fallböe aus den Bergen wieder in die entgegengesetzte Richtung gebeugt wird. Nervös springe ich erneut aus dem Bett, um durch das Panoramafenster nach draußen zu blicken. Der starke Lichtstrahl meiner Stirnlampe wird von den höher werdenden Wellen reflektiert. Sie scheinen nicht den Anschein zu machen, den Strand zu erobern. Ganz im Gegenteil werden sie unaufhörlich von den Fallböen aus den Bergen getroffen, die sie regelrecht in der Luft zerreißen lassen. Was für ein Naturschauspiel, erschreckend und faszinierend zugleich. Huuuiii! Huuuiii! Huuuiii!, mischen sich summend, sirrend und singend neue Töne in das Intermezzo der Geräusche. Sie entstehen, wenn der Wind auf die schwingenden Stromkabel treffen, die etwa 50 Meter von uns an ihren Masten schaukeln. Auch wenn ich Tanja gegenüber einen relaxten Eindruck hinter lassen möchte, bin ich im Inneren verunsichert und verängstigt. Wird uns dieser Orkan schaden? Werden wir ein Opfer der Luftgewalten? Wird mein Albtraum, den ich vor ein paar Tagen hatte, wahr und die Terra kippt um? Bisher ist auf dieser Reise alles glattgegangen, aber Norwegen ist ein Land mit einer erbarmungslosen Natur und die Stürme zu dieser Jahreszeit sind berüchtigt. Wom! Dong! Dong! Dong!, dröhnt es tief und lässt den Boden erzittern. „Was war das?“, fragt Tanja nervös. „Könnte eine Erd- oder Felslawine gewesen sein“, vermute ich. „Vielleicht doch gut, dass wir hiergeblieben sind“, überlegt Tanja. „Wenn wir morgen unbeschadet davongekommen sind, war es gut“, antworte ich.
Hooouuu! Hooouuu! Hooouuu! Vernehme ich ein anderes, pfeifendes Heulen das je nach Windgeschwindigkeit Auf und Ab schwankt und daherkommt, wenn die kräftigen Böen auf die Kanten und Spalten des Toilettenhäuschens hinter uns treffen. Dahinter Schutz suchen zu wollen war ein anfänglicher, naiver Gedanke, denn im Vergleich zu unserer Terra ist das Gebäude starr auf den Boden verankert. Es kann demnach nicht nachgeben wie die Stoßdämpfer eines Fahrzeuges, sondern muss den harten Schlag der Windstöße aushalten. Wer weiß, ob es nicht einfach umkippt? Abgesehen davon scheinen die Böen jetzt nicht nur von den Bergen und dem Meer zu kommen, sondern von allen Seiten. Als würden wir uns in einer Waschmaschine der unkontrollierten Luftmassen befinden, beugt und biegt sich unser Expeditionsmobil in jegliche erdenkliche Richtung.
Es ist 4:00 Uhr am Morgen. Der Orkan wütet unvermindert weiter. Unverändert liegen wir mit wachen Augen da und lauschen dem allgemeinen Brausen mit seinem unregelmäßigen Tosen, welches sich in rhythmischen Abständen in wütende Höhepunkte steigert. Wir hören das grässliche Geheul des Windes, das die Wellen des Ozeans aufwühlt und gleichzeitig zerstört. Wir hören den Sand auf unsere geliebte Terra einprasseln. Wir fühlen das Hin und Her Geschaukel, als wären wir nicht an Land, sondern auf einem Fischkutter auf stürmischer See und sind glücklich, bisher zumindest noch immer unbeschadet davongekommen zu sein.
Um 10:00 Uhr beruhigt sich der Orkan vorerst. Vorsichtig öffne ich die Kabinentür, um in die gepeinigte Welt zu blicken. Eine vorwitzige Windböe, die als Nachzügler vom Berg heruntergefegt ist, reißt sie aus der Hand. Peng!, knallt sie auf die Kabinenwand. Hätte ich sie im letzten Moment nicht losgelassen, hätte sie mich aus dem Fahrzeug geschleudert. „Unfassbar, welche Kraft dieser Wind besitzt. Wäre das eine Orkanböe gewesen, wäre die Tür kaputt und ich sicherlich verletzt“, sage ich nach draußen tretend. „Und wie sieht es aus“, fragt Tanja sich die Schuhe anziehend, um mir zu folgen. „Alles unverändert“, antworte ich fröstelnd, da mir ein kalter Wind ins Gesicht bläst. Das Toilettenhäuschen steht noch da. Nur die Tür wurde von dem Orkan aufgerissen. Zum Glück hat sich keine Böe im Inneren des Holzhäuschen gefangen und es in die Luft gewirbelt. Leichter Schneefall verleiht der Landschaft einen weißen Hauch, der vom Wind sogleich wieder weggetragen wird. Der Sand am Strand ist trotz der Orkanböen ebenfalls noch da, macht aber den Eindruck auf uns, als wäre vieles davon in die Berge oder aufs Meer getragen worden. Die tosenden Wellen haben sich wie durch Zauberhand gelegt. Als wäre nichts gewesen, schwappen sie unaufgeregt auf den malträtierten Strand. Tausende von Muscheln wurden vom Wind freigelegt und überziehen den Untergrund. Tanja unternimmt mit Ajaci einen Strandspaziergang, während ich die Terra auf Schäden untersuche. Der Lack scheint nicht gelitten zu haben, zumindest kann ich nichts feststellen. Die elektrischen Fenster der Kabine lassen sich kaum noch öffnen. Feiner Sand sitzt in allen Ritzen der Abdichtungsgummis. Ich spüle ihn mit Wasser weg und nehme mir vor, bei der nächsten Fahrt nach Skaland alles gründlich zu reinigen.
Am Nachmittag, als sich über die Bucht ein winterlicher Regenbogen legt, werden wir von zwei älteren Damen besucht. Es ist Fynja die am Ende der Bucht lebt mit ihrer Freundin Elan. „Wir hatten uns wirklich Sorgen um euch gemacht und mit unseren Nachbarn überlegt, wie wir euch evakuieren können. Geht es euch gut? Habt ihr die Sturmnacht hoffentlich einigermaßen gut überstanden? Bekommt ihr keine Platzangst in eurem Fahrzeug?“, überhäufen sie uns mit Fragen. „Uns geht es sehr gut, aber es war eine wilde und beängstigende Nacht“, antwortet Tanja. „Vielleicht sollte ihr euer Fahrzeug nicht quer, sondern längs zum Strand stellen. Da treffen euch die Böen nicht so heftig“, schlägt Fynja vor. „Das Problem ist, dass sich der Wind ständig dreht. Er kommt nicht nur vom Meer, sondern auch von den Bergen herunter und manchmal hatten wir das Gefühl, dass er uns von allen Seiten malträtiert hat“, entgegne ich. „Ja, das stimmt, manchmal kommt er aus allen Richtungen. Vor allem die Fallwinde aus den Bergen sind eine große Gefahr. Das ist der Grund, warum viele Hausdächer in diesem Tal mit Stahlseilen im Boden verankert wurden“, erklärt Elan. „Mit Stahlseilen verankert?“, bin ich verblüfft. „Aber ja, schaut euch die Häuser mal von Nahem an. Mein Mann und ich haben unser Haus auf diese Weise gesichert. Wenn wir das nicht gemacht hätten, hätte der Orkan letzte Nacht es vielleicht wieder abgetragen.“ „Wieder? Ist das schon mal geschehen?“, „Ja, einige Anwohner in diesem Tal haben in der Vergangenheit ihre Hausdächer verloren. Uns hat es einmal so heftig erwischt, dass wir unser Schlafzimmer im ersten Stock fluchtartig verließen und uns im Parterre verbarrikadierten. Der Sturm hat einige Fenster unseres Hauses einfach eingedrückt oder zersplittern lassen.“ „Wow, da hatten wir gestern anscheinend wirklich Glück.“ „Das hattet ihr, aber euer schweres Fahrzeug scheint sicherer als ein Haus zu sein.“ „Vielleicht, es kann sich durch die Stoßdämpfer zumindest bewegen und somit der einen oder anderen Böe die Kraft nehmen.“ „Wir haben uns gefragt, wie man es so lange in so einem kleinen Haus aushält? Bekommt man da keinen Lagerkoller „Lagerkoller? Nein, wir fühlen uns hier sehr wohl. Ist eine kleine luxuriöse Wohnung auf Rädern. Kommt doch mal rein und schaut euch unser Zuhause an“, bietet Tanja den beiden Frauen an, das Innere der Terra Love zu besichtigen. „Oh, gerne“, sagen sie, steigen die Stufe hoch und betreten unser Heim. „Das ist ja richtig gemütlich bei euch. Wunderbar. Fast schöner als bei mir Zuhause“, sagt Fynja. „Und, wie angenehm warm es bei euch ist. Das hätte ich bei diesem schlechten Wetter nicht für möglich gehalten. Jetzt verstehe ich, dass ihr hier keinen Lagerkoller bekommt. Da könnte ich es auch gut aushalten“, äußert sich Elan begeistert. „Wisst ihr, wo man auf der Insel Gas tanken kann?“ möchte ich wissen, weil sich die Tankanzeige dem Ende zuneigt. „Auf Senja gibt es keine LPG-Tankstelle. Hier kann man in den wenigen kleinen Supermärkten nur Gasflaschen kaufen“, antwortet Fynia. „Ist das ein Problem für euch? Werdet ihr dann frieren? Ihr heizt und kocht doch sicherlich mit Gas?“, fragt sie. „In der Tat benötigen wir Gas fürs Kochen und Heizen. Wir können aber auch mit Diesel heizen. Ich werde ab sofort nur noch mit Diesel heizen und das verbleibende Gas zum Kochen nutzen. Denke das dürfte dann noch gut zwei Wochen reichen“, überlege ich laut. „Gut, das freut uns, dass ihr hier nicht erfrieren werdet. Mögt ihr Waffeln?“, wechselt Fynia das Thema. „Waffeln?“, fragt Tanja angetan. „Ja Waffeln. Ich besitze ein Waffeleisen und bereite manchmal für mich und meine Freunde heiße Waffeln. Wenn ihr möchtet, bringe ich euch morgen ein Paar“, bietet sie an…