Nüsse anstatt Hotel
N 33°16’48.8’’ E 107°50’52.4’’Datum:
18.02.2016
Tag: 234
Land:
China
Provinz:
Shaanxi
Ort:
Jinshuizhen
Breitengrad N:
33°16’48.8’’
Längengrad E:
107°50’52.4’’
Tageskilometer:
106 km
Gesamtkilometer:
12.290 km
Luftlinie:
43.01 km
Durchschnitts Geschwindigkeit:
21.5 km/h
Maximale Geschwindigkeit:
53.1 km/h
Fahrzeit:
4:54 Std.
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt / Schotter
Maximale Höhe:
1.100 m
Gesamthöhenmeter:
20.922 m
Höhenmeter für den Tag:
1.000 m
Sonnenaufgang:
07:30 Uhr
Sonnenuntergang:
18:34 Uhr
Temperatur Tag max:
13°C
Temperatur Tag min:
minus 4°C
Aufbruch:
09:15 Uhr
Ankunftszeit:
16:00 Uhr
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
Gerne hätten wir uns in der hübschen Kleinstadt Ningshan noch ein wenig ausgeruht aber die knappe Zeit und die noch immer 650 vor uns liegenden Kilometer, bis zur Stadt Chengdu, ermahnen uns zur Eile. Huang Cheng, der Besitzer des Hotels in dem wir nächtigten, fährt uns mit seinem Klapprad voraus, um uns den kürzesten Weg aus der Stadt zu zeigen. „Hier geht’s lang“, sagt er uns freundlich anlächelnd auf die Bundesstraße deutend. „Zaijian“, (Auf Wiedersehen) verabschieden wir uns. „Bu ke qi“, (keine Ursache) meint er uns einige Zeit hinterher sehend.
Sind wir nach unserer Eispassüberquerung schon 37 km nahezu unaufhörlich bergab gefahren, schenkt uns die heutige Strecke ein weiteres Gefälle von 30 km. Kurz vor einem Ort gähnt uns zu unserer Rechten das schwarze Loch eines Tunnels an. „Da geht’s zur Autobahn“, sage ich den Bergdurchbruch ignorierend. In der Ortschaft gabelt sich die Straße. Ich frage nach unserem heutigen Zielort. „Wang hui“, (zurück) hören wir immer wieder. „Muss was dran sein“, sage ich als wir zum dritten Mal in die Richtung geschickt werden aus der wir gerade gekommen sind. Laut meiner Karte dürfen wir unter keinen Umständen durch den Tunnel fahren, weil diese Strecke zur Autobahn führt und ich keine kleinere Straße im Kartenprogramm entdecke, die wir nutzen könnten. Aber die Einheimischen müssen es ja besser wissen. Ob sie auch verstehen, dass wir mit unseren Rädern nicht auf die Autobahn dürfen? Da unsere Bikes mit der großen Ladung so bullig aussehen, könnte der eine oder andere sie glatt für Motorräder halten. Wir wissen es nicht und kehren um. Kurz vor dem Tunnel fragen wir erneut. Der Wirt einer kleinen Straßenkneipe nimmt mein Smartphone und liest den auf chinesische geschriebenen Ortsnamen, der unser heutiges Ziel sein soll. Er bedeckt uns mit einem nicht enden wollenden Redefluss und deutet dabei immer wieder auf den Durchbruch im Berg. „Gut, dann versuchen wir es“, antworte ich und möchte mein Smartphone zurück, welches er noch immer in seinen Händen hält. Der Wirt zeigt nicht die geringsten Anstalten mir mein teures Gerät zurückzugeben. Indes labert er als weiter auf mich ein. Er lacht laut, grinst in Richtung seiner Gäste, die unsere einseitige Kommunikation lachend beobachten. „Gib mir mein Smartphone wieder!“, fordere ich den Mann auf der damit wild durch die Luft fuchtelt. Als er gerade seinen Arm nach oben streckt, um uns mit weiteren unverständlichen Worten zu überhäufen, schießt meine rechte Hand nach vorne, greift blitzartig zu und entwendet dem überrascht dreinschauenden Chinesen mein Smartphone. „Xie xie“, bedanke ich mich, stecke das zurückeroberte Gerät in die Lenkertasche, lege den dritten Gang ein und radle davon. „Wollte er dir das Telefon klauen?“, fragt Tanja. „Keine Ahnung. Auf jeden Fall hat er es nicht zurückgegeben“, antworte ich. „Seltsam was man so alles erlebt“, schüttelt Tanja den Kopf. Vor dem Tunnel schalten wir die Beleuchtung am Rad an, dann greift die Finsternis nach uns. Auf der anderen Seite frage ich erneut nach der Richtung. „Wang hui“, (zurück) hören wir erschrocken. Immer wieder stellen wir fest, dass es oftmals mehrere Ortschaften mit dem gleichen oder sehr ähnlichen klingenden Namen gibt. Einen Buchstaben nur leicht anders betont und wir werden in die falsche Richtung geschickt. Wenn wir nicht aufpassen können wir uns dabei Umwege von 100 km oder 200 km einhandeln. Deshalb haben wir uns mittlerweile angewöhnt mehrfach nachzufragen bis wir mindestens drei übereinstimmende Aussagen bekommen. Erst dann können wir uns sicher sein nicht falsch zu fahren. „Also was nun? Hierhin oder dorthin?“, frage ich und zeige einem der Männer, die am Straßenrand stehen, den Ortsnamen auf meinen Smartphone. Als er es nehmen möchte, um genauer hinzusehen, lasse ich es, ihn schulterzuckend anblickend, nicht aus der Hand. „Cong zher zou“, (Hier entlang) sagt er nach Norden deutend. „Wir sind richtig“, sage ich zu Tanja unsere Fahrt fortsetzend. Nach wenigen Kilometern unterqueren wir die abenteuerliche, hohe Brückenkonstruktion der Autobahn G5 auf einer neuen Straße die weder im GPS oder dem Kartenprogramm zu sehen ist. Könnten wir der G5 folgen, wäre es, bis zu unserem heutigen Zielort Jinshuizhen, nicht weiter als knapp 15 km. So aber sind wir gezwungen erstmal 20 km in Richtung Norden zu fahren, danach 20 km nach Westen und weitere 20 km wieder nach Süden. Insgesamt ein Umweg von über 60 km. Egal, auf unserer Reise kommt es nicht auf Abkürzungen an, sondern auf das Unterwegs sein.
Wir folgen nun einem wunderbaren, nagelneuen Asphaltstreifen. Viele Tunnels, manche von ihnen knapp drei Kilometer lang, ersparen uns die Überquerung der hohen Berge. Im tiefen Tal zu unserer Rechten wird eine weitere Fahrspur gebaut. Der Fluss, der sich dort schon seit der letzten großen Erdverformung durchschlängelt, wird kurzerhand versetzt. Es ist verblüffend zu was der Mensch in der Lage ist und wie sehr er in die Natur eingreift. Dabei werden sogar ganze Berge abgetragen oder weggesprengt und jahrhunderttausende alte Landschaftsbilder neu geschaffen. Dafür sorgt eine Armada von schweren Baumaschinen die unaufhörlich baggern und graben. Das benötigte Baumaterial wird teils aus dem Flussbett genommen. Unzählige Tonnen von Flusskies werden auf turmhohen Bergen gelagert, um damit später Befestigungen und Untergründe zu schaffen. Die breiten Reifen unserer E-Bikes surren leise über den glatten Teer, bis wir vor uns dichte Staubwolken in den trüben Himmel aufsteigen sehen. „Ich glaube dort vorne hört die Neubaustrecke auf“, rufe ich Tanja zu. Tatsächlich wird der Bitumen durch Schotter, Staub und endlose Schlaglöcher ersetzt. Augenblicklich müssen unsere Bikes Schwerstarbeit leisten und sind geradezu gnadenlos harten Bedingungen ausgesetzt. Die Stoßdämpfer fangen einen Großteil der kleineren Unebenheiten ab. Jetzt kommen wir nur noch schleppend voran. Schwer beladene Lastwägen überholen uns langsam. Der aufgewirbelte Staub nimmt uns die Sicht und quält unsere Lungen. Wir halten an, warten bis sich der Staub gelegt hat und fahren weiter, nur damit uns ein weiteres, mit Bauschutt beladenes, Metallmonster überholt und seinen Dreck schlucken lässt. An einer Straßengabelung führt eine Piste nach links, steil den Berg hoch, und eine nach rechts. Ich entscheide mich für die Rechte, weil sie laut GPS in die korrekte Himmelsrichtung führt und noch dazu für Lastwägen gesperrt ist. Nachdem wir zwei unfertige Tunnel durchfahren haben fragen wir einen Mopedfahrer ob uns dieser schreckliche Untergrund nach Jinshuizhen führt. Er schüttelt den Kopf und sagt: „Wang hui.“ (zurück) Nicht zum ersten Mal an diesem Tag und auf dieser Gebirgsstrecke kehren wir um, erklettern die vorher ignorierte extreme Steigung und landen auf der asphaltierten Bundesstraße. Ab jetzt geht es wieder in Richtung Süden.
Nach 106 Tageskilometer erreichen wir bereits um 16:00 Uhr das kleine Örtchen Jinshuizhen. Wir fragen ob es hier überhaupt eine Übernachtungsmöglichkeit gibt. „Nar“, (Dort) sagt ein Junge der gerade seinen Ochsen an uns vorbeiführt und deutet in den Ort. Erleichtert kehren wir um und lassen unsere E-Bikes auf der schmalen, holprigen Straße in die Ortschaft rollen. Direkt über unseren Köpfen und den Dächern der Häuser erstreckt sich eine mächtige Autobahnbrücke. Es ist die G5, die wir 15 km östlich von hier bereits unterquert hatten. „Binguan dsai na-li?“, (Wo ist das Hotel?) frage ich zwei Frauen die vor ihrem Geschäft sitzen. „Mei you“, (Nicht haben) verblüfft mich die Antwort. „Bestimmt haben sie mich falsch verstanden“, denke ich mir und frage erneut: „Binguan zai na-li?“ (Wo ist das Hotel?) „Mei you“, (Nicht haben) gibt die Frau die gleiche Antwort. „Ich glaube es nicht. Die sagen es gibt hier gar kein Hotel“, sage ich zu Tanja, die mir schmunzelnd zusieht wie ich mich vergeblich bemühe die Location des Hotels herauszufinden. „Biiiinguaaan?“, sage ich erneut das Wort anders betonend. „Mei you“, bleibt die Frau hartnäckig. „Biinnngggguan?“, sage ich meine Betonung erneut ändernd. Die beiden Frauen sehen sich amüsiert an. „Binguuuannn?“, gebe ich nicht auf. Jetzt steht die eine der beiden Ladenbesitzerinnen auf und verschwindet im Geschäft nebenan. Augenblicke später kommt sie zurück und reicht mir ein paar seltsam aussehende Nüsse. „Was soll das denn?“, frage ich völlig verblüfft. Anscheinend habe ich mit meiner schlechten Aussprache ständig nach etwas gefragt was es hier nicht gibt und damit ich endlich Ruhe gebe hat sie mir ein paar Nüsse gebracht. Oder habe ich in meiner Unwissenheit ständig nach diesen Nüssen gefragt? Ich stelle mir bildlich vor wie das für die beiden klingen musste. „Wo sind hier die Nüsse?“ „Gibt es nicht.“ „Wo sind hier die Nüsse?“ „Hier gibt es keine Nüsse.“ „Nüüüsseee?“ „Gibt es nicht.“ „Nüüssse?“ „Haben wir nicht.“ „Nüseeee?“ „Sie hat mir Nüsse gegeben“, sage ich zu Tanja, die vor Lachen laut losprustet. Nun müssen auch die beiden Frauen herzhaft lachen. „Binguan dsai na-li?“, frage ich jetzt zum x-ten Mal, worauf ich diesmal die Betonung etwas besser hinbekommen habe und die zwei Verkäuferinnen die Straße hinunter deuten. „Xie xie“, bedanke ich mich lachend. Tatsächlich gibt es da ein Haus, welches zwar nicht nach Hotel aussieht, sich aber als solches ausgibt. Die Inhaberin, die derart aufgesteilt ist als würde sie gleich auf einen Ball gehen, zeigt mir einen heruntergekommenen offenen Hinterhof in dem unsere kostbaren Bikes und Anhänger die Nacht verbringen sollen. „Bu“, (nein) sage ich. Daraufhin vereinbaren wir einen Luxusraum für 100 Yuan (14,28 € ) zu nehmen. Dafür dürfen die Räder und Hänger in den kleinen Vorraum des heruntergekommenen Hauses, indem die gesamte Familie lebt. Die Besitzerin ist einverstanden und wir sind erleichtert heute nicht noch 20 km weiterfahren zu müssen, um in der nächst größeren Stadt erneut nach einer Bleibe für die Nacht zu suchen.
Während ich wie gewohnt die Räder entlade und für das Einstellen fertig mache, schleppt Tanja alles in den dritten Stock. Bei den letzten Taschen helfe ich ihr und als ich das Luxuszimmer zum ersten Mal betrete haut mich der Schmutz und unangenehme Geruch fast um. Sofort werden die Erinnerung an so manche schlimme Bleibe in Russland und Sibirien wach. Wegen den frostigen Temperaturen stelle ich postwendend die Klimaanlage an. „Pfffffff“, stöhnt sie kurz, nur um sofort ihren Geist aufzugeben. Die Besitzerin tritt ins Zimmer, um uns einen Wasserkocher zu geben der in absolut jedem Hotelzimmer Chinas zum Standard gehört. Während sie das völlig verdreckte Ding auf den ebenfalls schmutzigen, alten Fernseher stellt, frage ich; „Was ist denn mit der Klimaanlage los?“ Sie nimmt die vom Schmutz verklebte Fernbedienung, schaltet das vergilbte Ding an und sagt ich solle ein paar Minuten warten. Kaum hat sie den Raum verlassen schnauft das altertümliche Teil erneut aus und ist wieder tot. „Was soll’s. Für eine Nacht wird es schon gehen“, meine ich, setze mich in meinen geliebten Klappstuhl, fahre meinen Laptop hoch, um die heutigen Logdaten einzutragen und Bilder von der Kamera ins Lightroom-Programm zu speisen. Dabei bibbere ich vor Kälte derart, dass ich glaube in einem Schockgefrieraum zu sitzen. Kaum habe ich meine tägliche Arbeit verrichtet, verlassen Tanja und ich diesen üblen Raum, um auf der Straße nach einem Restaurant zu suchen. Mittlerweile ist es stockfinster. Das am späten Nachmittag rege Treiben ist einer gähnenden Stille gewichen. Als hätte man die Gehsteige hochgeklappt, ist auf der gesamten Straße keine einzige Menschenseele zu sehen. Völlig unüblich für China. In der Dunkelheit tappen wir die Geistergasse entlang und finden tatsächlich so etwas Ähnliches wie ein Restaurant. Die Türen stehen trotz der Kälte offen. Es ist 19:00 Uhr und der Raum, der eher wie eine Lagerhalle für Unrat aussieht, ist bis auf einen Mann menschenleer. Wir fragen den Koch, der sich an einem kleinen Kohlebecken die Hände wärmt, ob wir etwas zu Essen bekommen. Er blickt uns überrascht an, nickt und verschwindet. Zwei Minuten später erscheint er mit seiner Frau wieder. Während wir uns nun am Kohlebecken wärmen, bereiten die beiden uns ein einfaches Reisgericht mit Karotten und Lotuswurzeln zu. Einigermaßen gesättigt verabschieden wir uns dann wieder, tasten uns am finsteren, desolaten Gehweg bis zu unserer Bleibe entlang und kriechen so wie wir sind augenblicklich unter die schweren, staubigen, seit langen nicht mehr genutzten Zudecken. Nur Minuten später erhebe ich mich noch mal, hole meine Isomatte, blase sie auf und lege sie auf die brettharte Matratze. Tanjas gleichmäßiger Atem verrät mir indes, dass sie sich, nach dem anstrengenden Tag, bereits ins Land der Träume geflüchtet hat. Geschwind krieche ich heftig hustend wieder unter die Decke. Ich werde jetzt doch keine Erkältung bekommen? Die Nase läuft bereits unaufhörlich und leichte Kopfschmerzen vervollständigen mein Unwohlsein. Erschöpft blicke ich auf die Zimmerdecke. Durch das verschmutzte Fenster dringt der schwache Lichtstrahl einer kaputten Leuchtreklame. Er tanzt wie angeschossen an der von Schimmel behafteten Zimmerwand auf und ab. Auf der Brückenkonstruktion über dem Haus donnern die Autos und Lastwägen entlang. „Bum, bum, bum, bum, bum dröhnt es unaufhörlich, weil die Fahrzeuge anscheinend über einen schweren Gullydeckel oder etwas Ähnliches brausen…
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